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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Eine Seele - viele Leben
Wiedergeburtsglauben im Abendland
Von Rolf Cantzen
Sendung: Freitag, 4. März 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Kölbel
Regie: Günter Maurer
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
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MANUSKRIPT
Musik
Zitator:
Ist es denn schon ausgemacht, dass meine Seele nur einmal Mensch ist? Warum
könnte jeder einzelne Mensch nicht mehr als einmal auf dieser Welt sein?
Erzählerin:
Mit diesen Fragen zur Seelenwanderung sorgte im Jahre 1780 ein deutscher Dichter
und Philosoph der Aufklärung für Aufregung: Gotthold Ephraim Lessing. In seiner
Schrift "Erziehung des Menschengeschlechts" spekuliert er über das, was heute
unter dem Begriff "Reinkarnation" populär geworden ist, also dass die Seele eines
Menschen nach dessen Tod in einem anderen Körper wiedergeboren wird. In
Ostasien war dieser Glaube bereits lange vor Lessing verbreitet, im Abendland auch.
Doch hier verschwand er lange Zeit im philosophischen und theologischen
Untergrund. Erst seit der Aufklärung wird auch hier wieder über Seelenwanderung
diskutiert.
Musik
Ansage:
Eine Seele - viele Leben. Wiedergeburtsglauben im Abendland. Eine Sendung von
Rolf Cantzen.
Zitator:
Glauben Sie an Wiedergeburt, an Reinkarnation?
Erzählerin:
Diese und ähnlich formulierte Fragen stellten in den letzten 20 Jahren verschiedene
Meinungsforschungsinstitute in Westeuropa und Nordamerika. Das Ergebnis:
Zwischen 20 und 25 Prozent der Befragten glauben daran, dass sie mehrmals in
diese Welt geboren werden. Auftrieb erhielt dieser Glaube in der New-Age- und
Esoterik-Bewegung. Seit den 1960er-Jahren erscheinen immer neue Bücher, in
denen Menschen über frühere Leben berichten. Im Internet werben
Rückführungstherapeuten mit Ausflügen in frühere Leben.
Musik
Erzählerin:
Bücher, in denen Rückführungsbeweise versprochen werden, werden zu Bestsellern
– etwa die Bücher des im Jahre 2007 verstorbenen Professors für Psychiatrie Ian
Stevenson. Er sammelte mehr als 1.000 "Fälle", in denen sich Kinder spontan an ihr
früheres Leben erinnerten. Ein Beispiel:
Zitator:
Sukla, ein Mädchen, 1954 in einem indischen Dorf geboren, nannte ihre Puppe ihre
Tochter, berichtete auch von einem Ehemann und versicherte ihren Eltern, dass sie
in einem Nachbarort wohne. Die Eltern führten das Kind in den Nachbarort. Dort
erkannte sie die Wege und nannte einige Personen, die sie in ihrem jetzigen Leben
2
nicht kannte, beim Namen. Der Tochter und dem Ehemann des früheren Lebens
fühlte sie sich verbunden.
Erzählerin:
Wissenschaftler aus den USA reisten an, befragten Sukla und andere Kinder mit
Erinnerungen an frühere Leben, führten Interviews mit Zeugen, schrieben Protokolle,
sie analysierten die örtlichen Gegebenheiten und prüften andere
Erklärungsmöglichkeiten. Ian Stevenson resümiert ...
Zitator:
... dass einige der Fälle über das bloße Nahelegen der Wiederverkörperung weit
hinausgehen; sie schienen mir sie ausreichend zu beweisen.
O-Ton 1: Eberhard Bauer:
Die Kernfrage, die Stevenson und seine Crew bewegte, bis heute bewegt, inwieweit
lassen sich diese Äußerungen von Kindern oder von Jugendlichen verifizieren in dem
Sinne, dass man sagen kann, sie beziehen sich auf eine frühere Person sozusagen,
die, so die Aussage des Berichterstatters, früher irgendwo gelebt hat.
Erzählerin:
Der Diplompsychologe Eberhard Bauer ist Forschungskoordinator am Freiburger
Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene e.V. Im "Handbuch der
Wissenschaftlichen Anomalistik" analysiert er "Spontane
Reinkarnationserfahrungen".
O-Ton 2: Eberhard Bauer:
Wissenschaftliche Anomalistik verstehen wir so, dass wir den üblichen
Methodenkanon der empirischen humanen Kultur- und Naturwissenschaften
verwenden, um solche Phänomene anzugehen, die eben sowohl von innen als auch
von außen als anormal oder außergewöhnlich, wie wir dann eher sagen, erlebt
werden oder berichtet werden.
Erzählerin:
In unserem Kulturkreis gelten Erinnerungen an frühere Leben als "anormal". Sie
werden von Eberhard Bauer und seinen Kollegen wissenschaftlich untersucht.
O-Ton 3: Eberhard Bauer:
Die Reinkarnationshypothese, dass es sich dabei um eine Wiedergeburt einer
früheren Persönlichkeit handelt, die würde ich persönlich für eine Annahme halten.
Was mich viel mehr interessiert ist die Frage, gibt es auch weitere Hypothesen oder
Alternativhypothesen? Und eine Alternativhypothese wäre, die wird überall auch
diskutiert, das ist die psychosoziale Hypothese.
Musik
Erzählerin:
Das heißt: In einem sozio-kulturellen Umfeld, in dem an Wiedergeburt geglaubt wird,
liegt es nahe, dass Kinder sich daran orientieren. Tatsächlich stammen die meisten
der analysierten Berichte aus Indien und Sri Lanka. Stevenson prüfte seine Fälle,
schloss "Erinnerungen", die auch anders erklärt werden konnten, aus und fragte sich:
3
O-Ton 4: Eberhard Bauer:
Wie weit kann man tatsächlich eine behauptete frühere Persönlichkeit identifizieren.
Und Stevenson spricht in solchen Fällen dann von "gelösten Fällen".
Erzählerin:
Eberhard Bauer geben diese "gelösten Fälle" zu denken. Sie widersprechen
allerdings dem heute dominierenden Wissenschaftsverständnis.
O-Ton 5: Eberhard Bauer:
Die heutigen Humanwissenschaften gehen natürlich davon aus, dass mentale
Strukturen mit einem funktionierenden Gehirn verknüpft sind.
Erzählerin:
Kurzum: ohne Gehirn, keine Seele. Die "Beweise" von Stevenson können auf dieser
wissenschaftlichen Basis nicht akzeptiert werden. Doch vielleicht, merken
Reinkarnationsgläubige an, sei dieses wissenschaftliche Weltbild revisionsbedürftig
und es gäbe doch so etwas wie eine Seele oder Bewusstsein ohne Gehirn.
Viele Reinkarnationsgläubige fühlen sich durch Stevensons Bücher bestärkt. Auch
Anhänger und Anhängerinnen von Scientology, der Anthroposophie, der
Rosenkreuzer, des Dalai Lama, des hiesigen Buddhismus und der populären
Esoterik wollen sich nicht damit begnügen, nur einmal auf dieser Erde zu leben.
Selbst unorthodoxe Christen und Christinnen meinen, ein liebender Gott würde seine
Kinder nicht gleich nach einem misslungenen Leben ewig in der Hölle schmoren
lassen, sondern gäbe ihnen die Chance, sich in mehreren Leben zu bessern.
Regie: Musik aus
Zitator:
Ist diese Hypothese darum so lächerlich, weil sie die älteste ist? Weil der
menschliche Verstand sogleich darauf verfiel?
Erzählerin:
... fragte bereits Lessing.
O-Ton 6: Helmut Zander:
Seelenwanderungsvorstellungen entstehen ungefähr gleichzeitig – wir wissen es
nicht ganz genau – zwischen dem 8. und 6./5. vorchristlichen Jahrhundert – sowohl
in Indien als auch im Mittelmeerraum.
Erzählerin:
Helmut Zander, Professor für Religionswissenschaften an der Universität Fribourg in
der Schweiz, schrieb das Buch:
Zitator:
Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen in
Europa von der Antike bis heute.
4
O-Ton 7: Helmut Zander:
Wir müssen davon ausgehen, dass diese Vorstellung unabhängig voneinander im
griechischen Raum und in Nordindien entstanden ist. Das hängt vermutlich damit
zusammen, dass in beiden Kulturkreisen neue Anthropologien kreiert werden, die
davon ausgehen, dass es etwas gibt, was sich vom Körperlichen im Menschen
ablösen kann. Man nennt das dann Geist oder später Seele. Und erst mit einer
solchen Anthropologie können Sie Seelenwanderung denken, denn sie brauchen
eine dualistische Konstruktion, in der die Seele – so nenne ich sie jetzt – ein
Eigenleben gegenüber dem Körper führen kann, indem sie eben wiederverkörpert
werden kann.
Musik
Erzählerin:
Seit dem 5. Jahrhundert vor Christus spekulierten in Griechenland Philosophen
darüber, ob Menschen wiedergeboren werden. Sie betonen dabei nicht die Einheit
alles Lebendigen, sondern den Gedanken einer ausgleichenden Gerechtigkeit.
Zitator:
Die Guten bekommen ein weniger mühevolles Leben geschenkt, ein Leben ohne
Tränen, während die anderen Leid tragen, auf das niemand zu blicken vermag.
Erzählerin:
... so der griechische Dichter Pindar. Ein guter Mensch, der arm, krank und
unglücklich ist, kann sich damit trösten, dass im nächsten Leben alles besser wird.
Die vom Körper unabhängig existenzfähige Seele ist bei Platon und anderen
dualistisch denkenden Philosophen das, was den Menschen als Menschen
ausmacht.
O-Ton 9: Helmut Zander:
Im Prinzip gilt, dass alles in allen Reinkarnationen wiedergeboren werden kann, also
Pflanzen, Tiere, Menschen, aber es gibt auch hier eine Sonderentwicklung im
Okzident, nämlich die Tendenz, Wiedergeburt in nicht-menschliche Wesen zu
vermeiden.
Erzählerin:
Trotzdem spekuliert auch Platon darüber. Doch fast so schlimm wie eine
Reinkarnation in ein Tier ist für ihn die in eine Frau:
Zitator:
Unter den als Männer Geborenen verwandelten sich alle, die Feiglinge waren und ihr
Leben ungerecht zubrachten, der Wahrscheinlichkeit nach bei ihrer zweiten Geburt in
Frauen.
O-Ton 10: Helmut Zander:
Da gibt es mehrere Absichten bei Platon. Zum einen will er philosophisch erklären,
welche Folgen gutes und böses Handeln hat. Er will aber auch, als er ein
staatspolitisches Konzept entwirft, einen Weg finden, Bösewichte zu bestrafen und je
5
nachdem, welchen Dialog man von Platon liest, findet man leicht unterschiedliche
Interessen in seiner Theorie der Seelenwanderung.
Erzählerin:
Festzuhalten ist: Platon entwirft eine Anthropologie auf der Basis eines Leib-SeeleDualismus – und – er baut sie ein in seine Ethik. Nur ein tugendhaftes Leben mache
dauerhaft glücklich. Das stärkt den Glauben an eine gerechte Ordnung, gibt dem
Einzelnen Sinn und Orientierung und nimmt ihm zudem, so der Philosoph Seneca,
die Angst vor dem Tod.
Zitator:
Ruhigen Geistes aber muss weggehen, wer weiß, dass er wiederkehren wird.
Erzählerin:
Und noch ein weiterer Gedanke bereitet sich in der Antike vor: Die Menschheit als
Ganzes hätte mittels Seelenwanderung die Chance, sich moralisch zum Besseren zu
entwickeln und immer mehr Wissen zu akkumulieren. Allerdings stellt sich dann die
Frage: Warum können sich die Menschen – von fraglichen Ausnahmen abgesehen –
nicht an frühere Leben erinnern? Wie später Lessing meint der römische Dichter
Vergil, die Seelen sollten nach einer Visite in der Unterwelt quasi unbelastet neu
starten.
Zitator:
Die Seelen, denen das Schicksal neue Verkörperungen schuldet, sie trinken an
Lethes Gewässern sorgenlösendes Nass und langes, tiefes Vergessen.
Erzählerin:
Vielleicht war auch deshalb der Glaube an die Seelenwanderung eher ein
intellektuelles Problem. Helmut Zander:
O-Ton11: Helmut Zander:
Es gibt fast keine Belege dafür, dass sogenannte normale, einfache Menschen daran
geglaubt hätten. Das ist eine spannende Entwicklung. Die andere Entwicklung ist die,
dass es schon in der Antike eine philosophische Kritik an
Seelenwanderungsvorstellungen gibt.
Erzählerin:
Trotzdem gab es im entstehenden Christentum Glaubensvarianten, die auch die
Wiedergeburtsideen integrieren wollten. Zum Beispiel der Kirchenvater Irenäus. Er
lebte im 2. Jahrhundert.
Zitator:
Solange muss der Mensch wiederverkörpert werden, bis er in überhaupt allen Taten
der Welt gewesen ist. Wenn nichts mehr fehlt, dann geht seine Seele, frei geworden,
zu Gott. Alle Seelen werden befreit.
Musik
6
Erzählerin:
Ein ähnliches Seelenerlösungsprogramm entwerfen auch die Gnostiker im Umfeld
der christlichen Gemeinden: Die Seelen reinigen sich in vielen Reinkarnationen, um
sich schließlich ganz mit Gott zu vereinigen und ihre Individualität aufzugeben.
Dieser Auffassung folgten auch die Manichäer, Angehörige einer Religion, die lange
Zeit im Mittleren Osten Staatsreligion war und sich bis ins heutige China und Indien
ausdehnte.
Doch das sich in Europa formierende Kirchenchristentum verdammte jeglichen
Wiedergeburtsglauben als Häresie:
Zitator:
Wer glaubt, die menschlichen Seelen würden wiederum in andere Körper oder
Lebewesen eingehen, der sei mit dem Bannfluch belegt.
Erzählerin:
Fast 1.000 Jahre lang wurde der Glaube an eine Seelenwanderung mittels der
Inquisition blutig unterdrückt – zu Anfang des 13. Jahrhunderts gar mit einem
Kreuzzug nach Südfrankreich. Von hier aus hatten die Katharer u.a. ihre Ideen um
eine Reinkarnation der Seelen bis nach Spanien, Italien, Holland und Deutschland
verbreitet.
O-Ton 12: Helmut Zander:
Im Christentum gibt es zwei, drei Dimensionen, die es ganz schwer machen,
Seelenwanderung zu akzeptieren. Der erste Grund ist die Anthropologie: Die
jüdische Tradition, aus der das Christentum kommt, kennt keine dualistische
Trennung von Körper und Seele, sondern es ist immer der Mensch mit seinen Teilen,
der als Ganzes Gegenstand theologischer Reflektion ist. Deshalb gibt es im
Christentum dann am Ende auch keine Auferstehung der Seelen, sondern eine
Auferstehung des ganzen Körpers.
Erzählerin:
Das heißt: Der Körper wird "am jüngsten Tag" quasi renoviert, weil die Seele an ihn
gekoppelt ist. Beide werden dann, so der Kirchenglauben, von Gott "gerichtet":
Himmel, Hölle, Fegefeuer.
O-Ton 13: Helmut Zander:
Der zweite Grund, warum im Christentum Seelenwanderung im Grunde über
Jahrhunderte keine Chance hatte, gehört in den Bereich dessen, was Theologen mit
Gnade bezeichnen: Wie geht man eigentlich damit um, wenn man versagt, wenn
man scheitert, wenn es, theologisch gesprochen, Schuld gibt? Die Antwort in
Seelenwanderungssystemen ist letztlich: Jeder ist selbst verantwortlich für das, was
er getan hat.
Erzählerin:
Keine Tat bleibt ohne Folgen. Karma heißt das im buddhistischen und hinduistischen
Denken. Alles muss die Seele selbst ausgleichen, quasi durch Selbstoptimierung: Es
gibt keine göttliche Willkür, keine Vergebung der Sünden, allerdings auch keine
Erbsünde oder ewige Höllenqualen.
7
Musik
Erzählerin:
Im Zeitalter der Aufklärung erreichten – meistens verzerrte und zurechtkonstruierte –
Berichte über den Seelenwanderungsglauben Asiens europäische Philosophen und
provozierten Voltaire zu Vergleichen:
Zitator:
Unsere Theologen sagen, dass Gott eine Seele für jeden Fötus schafft. Lächerlich,
wie lächerlich. (Die Lehre) der Brahmanen war weit sinnreicher. Die Seelen sind
ewig, sie wandern ohne Unterbrechung von einem Körper zu anderen.
Erzählerin:
Voltaire ignorierte – und darin folgen ihm viele bis heute –, dass sich die asiatische
Variante des Wiedergeburtsglaubens grundlegend unterscheidet von dem, was im
Abendland darunter verstanden wurde. In Asien entspringt die Wiedergeburt einer
eher pessimistischen Lebensauffassung: Leben ist Leiden und Wiedergeburt ist ein
übles Verhängnis, eine Art Strafe. Ziel ist das Verlöschen der Seele. Und in einigen
buddhistischen Lehren gibt es – im Unterschied zu hinduistischen – noch nicht
einmal eine individuelle Seele.
O-Ton 14: Helmut Zander:
Im Grunde gibt es zwei Formen von Seelenwanderungskonzeptionen. Die eine
arbeitet mehr mit Strafe, die andere mehr mit Chancen.
Musik
Erzählerin:
Die Variante der Aufklärer ist optimistisch: Sie sehen in der Wiedergeburt eine
Chance für die individuelle Seele, sich zu verbessern. Lessing fragt 1780:
Zitator 1:
Warum sollte ich nicht oft wiederkommen, (um) neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten
zu erlangen?
O-Ton 15: Helmut Zander:
Der Grund für die chancenorientierte Reinkarnationsvorstellung ist letztlich die
Einbeziehung des Fortschrittsdenkens in Europa, also der Glaube, dass es eine
Entwicklung zum Besseren, zum Größeren, zum Positiven gäbe – das ist ein
wichtiger Ausgangspunkt.
Zitator:
Wenn das große langsame Rad, welches das Geschlecht seiner Vollkommenheit
näher bringt, nur durch kleinere, schnellere Räder in Bewegung gesetzt würde?
Erzählerin:
Lessing fragt, was geschähe, wenn die vielen individuellen Seelen reinkarnieren, um
sich zu verbessern und damit der Menschheitsgeschichte eine positive Richtung
gäben? Die Antwort: Alles würde besser, schöner, menschlicher, moralischer.
8
Lessing trifft damit den Nerv seiner Zeit. Er interpretiert die Seelenwanderung als
Fortschrittsmodell und folgt damit dem Denken seiner Zeit. Der Philosoph Arthur
Schopenhauer weicht davon ab. Er diskutiert Seelenwanderung, wie in
Buddhistischen Lehren, als Verhängnis. Doch später, vor dem Hintergrund der
Industrialisierung, setzt sich der Optimismus fort: Man glaubt, es ginge unentwegt
überall voran – in Technik, Wissenschaft, Philosophie, im Seelenleben, sogar in der
Natur.
O-Ton 16: Helmut Zander:
In dieser Entstehung der Evolutionslehre bekommt die Seelenwanderungslehre
einen vollkommen neuen Drive, zum einen, weil sie wirklich auf Fortschritt hin
gelesen werden kann und weil man versucht, sie wie ein naturwissenschaftlich
belegbares Verfahren zu interpretieren. Und diese Ehe zwischen Evolutionslehre und
Seelenwanderung ist eines der ganz spezifischen Kennzeichen der europäischen
Seelenwanderungsvorstellungen seit dem 19. Jahrhundert.
Erzählerin:
Kurzum: Alles wird überall immer besser, alles optimiert sich. Auch die Theosophen
sehen es so. Ihre Chefin, Helena Petrowna Blavatsky, reiste Ende des 19.
Jahrhunderts, wie heutige spirituell Suchende, nach Indien und integrierte den
Glauben an Wiedergeburt und Karma in ihr Weltbild:
Zitator:
Nur das Wissen von den beständigen Wiedergeburten einer und derselben
Individualität durch den ganzen Lebenszyklus, kann uns das geheimnisvolle Problem
von Gut und Böse erklären und den Menschen mit der schrecklichen scheinbaren
Ungerechtigkeit des Lebens aussöhnen.
Erzählerin:
Das heißt: Krankheit, Ausbeutung, Tod geliebter Menschen – für alles trägt der
Mensch selbst die Verantwortung. Ist er privilegiert, reich und glücklich, hat er es sich
auch verdient.
O-Ton 17: Helmut Zander:
Der bekannteste Theosoph im deutschsprachigen Bereich ist Rudolf Steiner. Er
nimmt aus der theosophischen Tradition die Reinkarnationsvorstellungen auf und
bindet sie intensiv in sein System ein. Theoretisch ist er jemand, der Fortschritt und
Seelenwanderung zusammenbindet.
Erzählerin:
Rudolf Steiner – er lebte von 1861 bis 1925 – übernimmt dieses Denken und nennt
es "Anthroposophie".
Zitator:
Der Geist steht unter dem Gesetz der Wiederverkörperung, der wiederholten
Erdenleben.
Erzählerin:
Die Anthroposophie hat sich längst etabliert mit ihren Waldorfschulen, Kindergärten,
Hochschulen und Pflegeeinrichtungen, mit ihrer "bio-dynamischen" Landwirtschaft,
9
ihrer Medizin, ihren Banken und Unternehmen. Der Reinkarnationsgedanke gehört
zur ideologischen Basis.
O-Ton 18: Helmut Zander:
Die schwierige Frage ist, wie weit diese Vorstellung in der anthroposophischen
Praxis ankommt. Eigentlich müsste ein Waldorfflehrer die Inkarnationen, die früheren
Leben seiner Schülerinnen und Schüler kennen, aber ich habe den Eindruck, dass
das selbst für viele Waldorflehrer heute relativ weit weg ist.
Musik
Erzählerin:
Es ist auch nicht einfach zu erfahren, in wen oder was die Seelen zuvor inkarniert
waren. Eine Möglichkeit wäre eine unter Hypnose oder in Trance herbeigeführte
Rückführung in ein früheres Leben. Diese "Reisen in die Vergangenheit" gehören seit
den 1970er-Jahren zum Repertoire einiger Akteure auf dem Psycho- und
Esoterikmarkt. So etwas wie eine Initialzündung verursachte ein von dem USAmerikaner Morey Bernstein (der sich privat mit Hypnose beschäftigte) publiziertes
Buch mit dem Titel:
Zitator:
Protokoll einer Wiedergeburt. Der weltbekannte Fall Bridey Murphy: Der Mensch lebt
nicht nur einmal.
Erzählerin:
Es erschien 1954 in den USA, einige Jahre später in deutscher Übersetzung. Virginia
Tighe erinnert sich unter Hypnose detailreich an ihr früheres Leben im Irland des 19.
Jahrhunderts als Bridey Murphy. Vor allem die geschilderten Orte ließen sich durch
historische Recherchen bestätigen, angeblich erinnerte Personen jedoch nicht. Das
"Protokoll" wurde in viele Sprachen übersetzt. Einige Hundert ähnliche Publikationen
folgten, in denen sich Menschen unter Hypnose an viele Leben erinnerten.
O-Ton 19: Thomas Streich:
Ich habe allein rund 30, 40, vielleicht über 40 frühere Leben kennen gelernt, von
denen natürlich viele seicht waren – es gibt natürlich viele Leben, wo nicht viel
passiert, ganz normale Leben – aber auch sehr dramatische.
Erzählerin:
Der Rückführungstherapeut Thomas Streich wirbt auf dem Berliner Esoterikmarkt um
Rückführungswillige.
O-Ton 20: Thomas Streich:
Man muss es selber erleben, man muss es fühlen, man muss es erlebt haben, sonst
kann man darüber nicht urteilen. Ohne in einem früheren Leben gewesen zu sein,
kann man es nicht glauben.
Erzählerin:
Bei Thomas Streich selbst haben Rückführungen offensichtlich problemlos
funktioniert, beim Autor dieser Sendung jedoch nicht. Bianca Hibsch arbeitet am
10
"Institut für Hypnose und verwandte Verfahren" in Neuruppin als
Rückführungsfachkraft und erinnert sich an ihre erste Erfahrung:
O-Ton 21: Bianka Hibsch:
Bei mir ging es tatsächlich darum, auch meine großen Ressourcen zu finden, wo die
halt herkommen, und ich habe mich dann schon in Südfrankreich wiedergefunden in
einer Situation, wo ich anderen Leuten auch geholfen habe mit Kräuterkunde und
Heilwissen.
Erzählerin:
Bianka Hibsch verschafft nun auch ihren Klientinnen Rückblicke in frühere Leben, um
gemeinsam mit ihnen zu schauen, ob dort psychische oder psychosomatische
Probleme verursacht sind, unter denen sie in diesem Leben leiden. Irrationale Angst
vor Feuer kann, so Bianka Hibsch, zum Beispiel damit zusammenhängen, dass sie in
ihrem früheren Leben als Hexe verbrannt worden sind.
Musik
Erzählerin:
Die Sitzungen derartiger Rückführungen verlaufen nach einem ähnlichen Schema
ab. Zuerst die Tiefenentspannung oder Hypnose auf einer Liege: Der Klient stellt sich
vor, wie die Arme schwer und warm werden, dann peu à peu, andere Körperteile.
Dann stellt er sich mit allen Sinnen einen angenehmen Ort vor, etwa eine
Frühlingswiese oder eine rosa Wolke, die ihn davon trägt.
O-Ton 22: Bianka Hibsch:
Hypnose ist ein Zustand, wo wir Veränderungsprozesse einleiten können, die mit
dem willentlichen Verstand nicht möglich sind. Und dafür benötigen wir den
abgesenkten Zustand, den Trance-Zustand, in dem wir uns mit dem
Unterbewusstsein verbinden können.
Erzählerin:
Anschließend begibt sich der Rückführungswillige in Gedanken in ein nettes Haus
mit diversen Aufzügen, findet ein Stockwerk, entscheidet sich für ein Zimmer, in dem
er sich wohl fühlt. Dann – wir kürzen ein wenig ab – landet er entspannt und in
Gedanken vor einer genau visualisierten Tür, hinter der sich ein früheres Leben
befindet, tritt ein, sieht, wie er gerade geboren wird, lebt und dann stirbt. Das Ganze
hat einen therapeutischen Sinn. Vielen geht es tatsächlich besser. Die eigenen
Probleme als Außenstehender anzuschauen, das ist ein gängiges Verfahren in der
Verhaltenstherapie.
O-Ton 23: Bianka Hibsch:
Das gibt es zuhauf, dass die Leute also auch aus ihrem Leben anders einordnen
können, z.B. eine immense Angst vor Feuer oder unerklärbare Schmerzen, die
operiert und operiert wurden, die aber aus einer ganz anderen Zeit kommen. Die also
mit dem Mitteln aus dem jetzigen Leben gar nicht gelöst werden können.
Erzählerin:
Bianka Hibsch, so erklärt sie, arbeitet problemorientiert. Sie löst unter Hypnose
Probleme auf. Sie werden visualisiert und in einer grünen Flamme verbrannt. In
11
frühere Leben führt sie ihre Klienten nur dann, wenn deren Traumata dort verursacht
wurden. In der Medizin gilt der Grundsatz: Wer heilt, hat recht. Warum soll das nicht
auch für die Heilung beschädigter Seelen gelten? Andreas Hahm-Gerling, auch ein
Mitarbeiter vom "Institut für Hypnose und verwandte Verfahren", ist selbst eher
skeptisch, was Ausflüge in frühere Leben betrifft, obwohl Rückführungen dorthin zum
Angebot des Institutes gehören – das ganze Paket mit Entspannung, Vor- und
Nachgespräch für gut 200 Euro.
O-Ton 24: Andreas Hahm-Gerling:
Ich habe es immer nur mit Interesse verfolgt. Ich glaube auch nicht, dass es
unbedingt einen Beweis für eine Seelenwanderung sein muss. Uns kommt es
natürlich immer auf die Ergebnisse an, aber das, was spirituell dahinter steht, finde
ich zwar hochinteressant, aber es gibt keine Beweise. Das ist meine Meinung.
Erzählerin:
Aber reizvoll ist der Gedanke schon. Er passt zur wirtschaftsliberalen Gesellschaft:
Die Seelenwanderung beantwortet die Frage nach Ungleichheit und Ungerechtigkeit
mit einem "selber schuld", vertröstet zu kurz Gekommene auf künftige Leben und
verkündet, dass sich mit der Optimierung der Seelen sowieso alles bessert.
Zitator:
Der faule Zauber ist nichts anderes als die faule Existenz, die er bestrahlt.
Erzählerin:
... schrieb Theodor W. Adorno.
*****
Literatur zur Wiedergeburt im Abendland:
 Bauer, Eberhard, Keil, Jürgen: Spontane Reinkarnationserfahrungen, in: Hg.:
Meyer, Schetsche, Schmidt-Knittel: An der Grenzen der Erkenntnis. Handbuch
der wissenschaftlichen Anomalistik, S. 177-189, Stuttgart 2015 (Schattauer)
 Bernstein, Morey: Protokoll einer Wiedergeburt. Der weltbekannte Fall Bridey
Murphey: Der Mensch lebt nicht nur einmal, Bern und München 1973 (Knaur)
 Cantzen, Rolf: Wiedergeboren werden, aber richtig. Ein spiritueller Ratgeber
für alle Lebensfragen, Aschaffenburg 2014 (Alibri)
 Obst, Helmut: Reinkarnation. Weltgeschichte einer Idee, München 2009,
(Beck)
 Stevenson, Ian: Reinkarnationsbeweise. Geburtsnarben und Muttermale
belegen die wiederholten Erdenleben des Menschen, Grafing 2011
(Aquamarin Verlag)
 Ders.: Reinkarnation. Der Mensch im Wandel von Tod und Wiedergeburt,
Braunschweig 1994 (Aurum Verlag)
 Ders.: Reinkarnation in Europa. Dokumentierte Fälle, Grafing 2014
(Aquamarin Verlag)
 Zander, Helmut: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative
religiöse Traditionen von der Antike bis heute, Darmstadt 1999
(Wissenschaftliche Buchgesellschaft)
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