SWR2 Tandem - Manuskriptdienst Nur ein bisschen Revolution Der

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SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Nur ein bisschen Revolution
Der Sonderweg der marokkanischen Jugend
Autor:
Khalid El Kaoutit und Elisabeth Lehmann
Redaktion:
Nadja Odeh
Regie:
Maidon Bader
Sendung:
Montag, 02.05.2016 um 19.20 Uhr in SWR2
Wiederholung:
Dienstag, 03.05.2016 um 10.05 Uhr in SWR2
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MANUSKRIPT
Atmo A Gruppe bereitet sich auf Auftritt vor
Erzählerin:
Ein Sonntag in der Innenstadt von Casablanca. Es regnet schon den
ganzen Tag in Strömen. Hosni Al Mokhlis und seine Theatergruppe haben
Schutz unter den Arkaden vor dem Eingang der marokkanischen
Nationalbank gesucht. Die etwa 20 jungen Menschen stimmen sich ein,
albern herum.
Atmo A steht frei
Erzählerin:
Sie nennen sich „Masrah Al Mahgour“, das „Theater der Entmündigten“.
Ein Name mit durchaus ernstem Hintergrund. Die meisten von ihnen sind
Mitte, Ende 20. 2011 waren sie schon einmal auf der Straße: Damals
haben sie den sogenannten „Arabischen Frühling“ in Marokko maßgeblich
mitorganisiert, Demos und Kundgebungen veranstaltet. Sie haben Freiheit
und Gerechtigkeit gefordert. 5 Jahre ist das nun her und sie leben noch
immer in einem Staat, der sie unterdrückt und nicht ernst nimmt.
Atmo A weiter oder weg
Erzählerin:
Hosni Al Mokhlis ist der Regisseur. Er hat das Theater gegründet, um eine
neue Form des Protests zu finden.
O-Ton 3 Hosni Al Mokhlis
2
Übersetzer 1:
Das Regime sieht sich selbst als alleiniger Besitzer des öffentlichen
Raums. Der ist also nicht offen für jeden. Um da auftreten zu dürfen,
braucht man viele Genehmigungen, es gibt viele Gesetze und Schikanen.
Weil der öffentliche Raum gefährlich ist. Dort hat man direkten,
unmittelbaren Kontakt mit den Menschen, mit dem Volk. Aber das Regime
will seine Monopolstellung natürlich behalten.
Erzählerin:
Al Mokhlis ist Mitte 30 und hat lange in Spanien gelebt. Anfang 2011, als
der Arabische Frühling die Länder der Region erfasste, wollte er eigentlich
nur Heimaturlaub in Marokko machen. Doch dann ist er irgendwie
hängengeblieben. Er ist in den Strudel der Demonstrationen geraten, die
plötzlich auch in Marokko stattfanden.
O-Ton 4 Hosni Al Mokhlis
Übersetzer 1:
Sie waren eine Reaktion auf das, was in Ägypten und Tunesien passiert
ist. Wir waren wie ein kleines Kind, das sieht, dass seine Freunde etwas
machen und sich sagt, warum soll ich das nicht auch machen? Der Traum
war nichts weiter, als ein Erwachen des Volkes zu erleben. Allerdings
hatte bei uns kaum jemand ernsthaft den Plan, das Regime oder das
Königshaus zu stürzen oder die politische Grundordnung zu ändern. Der
Traum war nur, Druck auf die Entscheidungsträger auszuüben.
Atmo B Aufführung auf der Straße
3
Erzählerin:
Der Regen hört für einen kurzen Moment auf. Startschuss für die bunte
Theatertruppe. Heute sind Gäste aus Ägypten mit dabei. Ein paar Mal
haben sie miteinander geprobt, jetzt ist quasi Premiere.
Die jungen Menschen ziehen Aufmerksamkeit auf sich. Sie sind grellbunt
gekleidet, tragen gehäkelte Kappen oder alberne Hütchen auf den Köpfen.
Einige von ihnen stammen aus Ländern südlich der Sahara. In ihrem
Stück heute geht es um illegale Einwanderer und sexuelle Belästigung.
Atmo C Szene aus Theaterstück
Erzählerin:
Eine der Schauspielerinnen ist von einer Menge umgeben. Von einem
grabschenden Mob. Sie versucht sich mit aller Kraft zu wehren.
Kameramann Kiro Yusuf, der mit den befreundeten Schauspielern aus
Ägypten angereist ist, zeigt sich beeindruckt. Er ist zum ersten Mal
außerhalb Ägyptens und ist erstaunt darüber, wie problemlos die
Theatergruppe hier auf der Straße agieren kann. In seiner Heimatstadt
Alexandria ist das ganz anders.
O-Ton 2 Kiro Yussuf
Übersetzer 2:
Die ägyptische Straße akzeptiert so etwas nicht. Besonders zur Zeit nicht.
Die Lage ist sehr angespannt. Die Menschen bekommen Angst, wenn
etwas für sie Ungewöhnliches passiert. Selbst wenn es um Kunst geht,
gar nicht um Politik. Das ägyptische Volk ist einfach und arm. Die
Menschen leben in ständiger Sorge, sie sind immer auf der Hut.
4
Vielleicht geschieht etwas, das der Regierung und den Herrschenden
missfallen könnte. Dann besteht für die Leute das Risiko, dass die Polizei
eingreift und sie in Sippenhaft genommen werden.
Erzählerin:
Vielleicht mag die Situation noch nicht so schlimm sein wie in Ägypten,
doch in Marokko gab es schon entspanntere Zeiten für Künstler und
Aktivisten. Die Machthaber sind vorsichtig geworden, wissen um die Kraft,
die von der Straße ausgehen kann, und wollen daher die Hoheit über sie
nicht abgeben.
O-Ton 19 Abdessamad Ayash
Übersetzer 3:
Ich glaube, dass es ein kluger Schachzug war, das Image zu verbreiten,
dass Marokko ein demokratisches und offenes Land ist. In Wahrheit ist es
genau das Gegenteil. Marokko ist „scheinoffen“, wenn man so will.
Marokko hat eine Verfassung, die mehr Rechte und Freiheiten vorschreibt.
Aber das wird quasi für nichtig erklärt durch viele andere Gesetze. Unser
Strafgesetzbuch zum Beispiel ist völlig veraltet. Aber es ist noch gültig.
Erzählerin:
Abdessamad Ayash ist Journalist. Er hat den massiven Druck des
Regimes am eigenen Leib zu spüre bekommen, als er im November
letzten Jahres mit einer Gruppe von Investigativ-Journalisten vor Gericht
gestellt wurde. Ayash hatte zuvor Bürgerjournalisten geschult.
5
O-Ton17 Abdessamad Ayash
Übersetzer 3:
Das war dem Staat ein Dorn im Auge. Ich und meine Kollegen wurden
nach Artikel 206 des Strafgesetzes angeklagt. Der besagt, dass jeder, der
Geld aus dem Ausland bekommt, mit dem Ziel, die Gefolgschaft des
Bürgers zum Staat zu destabilisieren, mit einem bis fünf Jahre Gefängnis
bestraft wird.
Erzählerin:
„Reporter ohne Grenzen“ hat den Prozess als politisch motiviert
eingestuft. Abdessamad Ayash wurde zwar am Ende nicht verurteilt, aber
sieben seiner Kollegen. Ayash selbst durfte Marokko lange Zeit nicht
verlassen.
O-Ton18 Abdessamad Ayash
Übersetzer 3:
Am Flughafen hat man mir gesagt, ich werde gesucht, weil ich die
Staatssicherheit bedroht haben soll. In diesem Moment wusste ich selbst
noch nicht einmal was von dem Vorwurf. Ich konnte mit niemandem
reden. Keiner wollte mir sagen, was Sache ist. Dann habe ich einen
normalen Polizisten gefragt. Der sagte mir: Wir haben Befehle, dich nicht
ausreisen zu lassen.
6
Atmo C Schauspielerin 4:20
Erzählerin:
Das Spiel auf der Straße geht weiter.
„Eine Frau muss stark sein. Ich habe kein Geld zu verschenken. Dafür
ganz viel Liebe“…, schreit die bedrängte Schauspielerin der Menge
entgegen.
Doch der Mob ist übermächtig. Pfiffe, Hände, von allen Seiten.
Atmo C Atmo Menge zischt, pfeift...6:20
Erzählerin:
Die junge Frau ist ausgeliefert – bis sich ein Mann aus der grabschenden
Meute erbarmt und den Angriff stoppt.
Atmo C Männerstimme Chalas! 7:20
Erzählerin:
Schnell hat sich eine Menschenmenge um die Gruppe gebildet. Die meist
jungen Marokkaner in billigen Lederjacken zücken ihre Handys und filmen
die Show. Kaum jemand scheint zu verstehen, worum es wirklich geht.
Atmo D Aufführung auf der Straße
7
Erzählerin:
Das fällt auch Hosni Al Mokhlis auf. Er steht auf einen Regenschirm
gestützt etwas abseits und beobachtet. Immerhin interessieren sich die
Menschen für das Stück. Es ist nicht leicht, den einfachen Bürger auf der
Straße anzusprechen.
O-Ton 1 Hosni Al Mokhlis
Übersetzer 1:
Am Anfang war das Publikum etwas verwirrt. Es hat nicht verstanden,
worum es geht. Aber nach den ersten 5 Minuten, hat es die Geschichte
verstanden, das ganze Spiel, und es ist mitgegangen. Es hat eine Weile
gebraucht bis das Publikum diesen Karneval verstanden hat.
Erzählerin:
Der Beginn des Arabischen Frühlings in Marokko war der 20. Februar
2011. Damals gingen in über 50 Städten gleichzeitig zehntausende
Menschen auf die Straße. Sie hatten sich zuvor über Facebook
organisiert. Und nannten sich fortan nach dem Tag ihrer Geburt:
Bewegung „20. Februar“.
Atmo F Musik El Haqed, „Hymne“ der „20. Februar-Bewegung“ in
Marokko während Demo 1:27
8
Erzählerin:
Einer, der zu einer Art Leitfigur der Bewegung avanciert, ist El Haqed. Mit
bürgerlichem Namen heißt der junge Rapper: Mouad Belrhouate. Er trifft
mit seinen Texten den Nerv der Massen. Denn wie in den Nachbarländern
sind es vor allem die Jungen, die sich auf die Straße trauen. Sie treten an
gegen einen übermächtigen König Mohammed VI., der seine Macht aus
einer 500 Jahre alten Tradition bezieht.
O-Ton 5 Mouad Belrhouate
Übersetzer 2:
Du darfst das Budget des Königs nicht diskutieren, das Protokoll des
Königs, du darfst nicht über Religion reden.
Erzählerin:
Der König regiert Marokko wie eine Firma, deren Chef er ist. Ein großer
Teil der Staatseinnahmen geht an ihn und seine Familie. Über sechs der
33 Millionen Marokkaner leben in bitterer Armut. Die
Jugendarbeitslosigkeit liegt bei knapp 20 Prozent.
Mouad Belrhouate lebt in einem der ärmeren Stadtteile von Casablanca.
Er hat ein kleines Zimmer, in dem er die meiste Zeit verbringt. Vor dem
Fenster zieht sich eine ungeteerte Straße an den einfachen Häusern
entlang. Jungs lungern herum, ab und zu kommt ein Pferdewagen vorbei.
Und das in einer der reichsten Städte des Landes.
9
O-Ton 6 Mouad Belrhouate
Übersetzer 2:
Es kommt darauf an, was für Menschen in einem Viertel leben. Ob sie
Beziehungen zur Macht, ob sie Kohle haben. Wenn denen etwas nicht
passt, rufen sie den Bürgermeister an und sagen, mach mal die Straße
klar. Aber hier gibt es so was nicht. Hier sind die Leute am Arsch und
keiner schert sich drum. Wenn sie hier eine Straße saubermachen, dann
nur unter Zwang. Wenn sie hier was machen, dann tun sie so, als hätten
sie uns was geschenkt. In anderen Vierteln in Casa leben Menschen, die
sich einmischen könnten. Du findest Richter, Minister. Die Machthaber
haben das Gefühl, sie müssen diesen Menschen was bieten. Aber bei uns
ist das anders. Wir haben keine Macht, deswegen interessiert sich
niemand für uns.
Erzählerin:
Und das prangert Mouad alias El Haqed an, öffentlich, in seinen Liedern:
O-Ton 7 Rap unplugged – steht einige Sekunden ohne Overvoice
Übersetzer 2:
Ich bin aufgewacht und ich will mein Recht zurück. Vielleicht habe ich Teer
geraucht, aber jetzt will ich meine Rechte zurück. Eins nach dem anderen,
bevor mein Blut ausgetrocknet ist.
10
Atmo G Musik El Haqed, „Hymne“ der „20. Februar-Bewegung“
Erzählerin:
Während der Revolution wird El Haqed quasi über Nacht berühmt. Sein
Lied „Wir schweigen nicht mehr“ wird zur Hymne der „20. Februar“Bewegung.
Atmo G Musik El Haqed, „Hymne“ der „20. Februar-Bewegung“
Erzählerin:
Der Preis dafür ist hoch. Immer wieder saß er in den vergangenen 5
Jahren im Gefängnis. Der Vorwurf: Er wolle den König stürzen.
Schwer vorstellbar, wenn man den 28-Jährigen sieht: dünn, schlaksig, ein
fast kindliches Gesicht, das Basecap mit dem Schild nach hinten. Auf
seinem Unterarm trägt er ein Tattoo: ACAB, All cops are bastards...
Mouad hat Koch gelernt, würde aber gerne studieren. Der Staat hindert
ihn daran, lässt ihn das Abitur nicht machen.
O-Ton 8 Mouad Belrhouate
Übersetzer 2:
Warum kann ich nicht das tun, was ich will? Keiner soll mir vorschreiben,
was ich zu wollen habe. Und dafür muss ich jetzt den Preis in Kauf
nehmen. Haft oder Exil.
11
Erzählerin:
Mit der „20. Februar“-Bewegung hat er heute nichts mehr zu tun, findet,
dass sie tot ist. Dabei schien das Land nach dem Arabischen Frühling auf
einem guten Weg zu sein. Vor allem die schnellen
Verfassungsänderungen nach den Aufständen 2011 versprachen
Hoffnung und wurden international gelobt, bis heute gründet darauf
Marokkos guter Ruf.
O-Ton 9 Mouad Belrhouate
Übersetzer 2:
Der „20. Februar“ ist für mich heute eine Geisterbewegung. Es gab viele
Probleme. Die Bewegung ist nicht mehr so, wie sie früher war. Der Staat
hat viel dazu beigetragen, dass die Bewegung zerfällt. Leute wurden
verhaftet. Es gab krasse Repressionen gegen uns. Und sie haben Leute
gekauft.
Erzählerin:
Während Tunesien, Ägypten oder Libyen ihre Diktatoren stürzen oder
sogar umbringen, kommt König Mohammed VI. ungeschoren davon.
Am 9. März 2011 tritt der Potentat vor die Kameras und verliest eine
Erklärung:
O-Ton 10 Mohammed VI., König von Marokko
12
Übersetzer 3:
Der heilige Charakter unserer unabänderlichen Werte, die einstimmig von
der Nation unterstützt werden, nämlich der Islam als Staatsreligion, der die
Freiheit des Gebets garantiert, die Monarchie, die nationale Einheit und
territoriale Integrität, und die Verpflichtung zu demokratischen Prinzipien,
stellen solide Garantien für eine historische Vereinbarung und eine neue
Charta zwischen dem Thron und dem Volk dar. Innerhalb dieses
festverankerten Rahmens habe ich entschieden, ein umfassendes Paket
von Verfassungsänderungen auf den Weg zu bringen.
Erzählerin:
Der König reagiert schnell und geht sogar Kompromisse ein. Zumindest
auf den ersten Blick. Er habe deshalb so schnell reagiert, weil der
marokkanische Staat Erfahrung mit Aufständen habe, sagt Fouad Abdel
Moumni. Der 68 jährige war schon politischer Aktivist, da waren die
meisten Revolutionäre von heute noch nicht geboren. In den 70er Jahren
saß er im Gefängnis, weil er schon damals gegen das Königshaus
protestiert hatte.
O-Ton 11 Fouad Abdel Moumni
Übersetzer 1:
In Marokko hat es immer schon soziale Bewegungen gegeben. Jedes
Jahr gab es hunderte Proteste, überall. Marokko war nie in der gleichen
Lage wie Syrien oder Libyen, wo die Gesellschaft komplett im Zaum
gehalten wurde.
13
Bereits Anfang der 90er Jahre wurden die Geheimgefängnisse
geschlossen und die meisten politischen Gefangenen freigelassen. Und
schon zur Jahrtausendwende gab es Raum für Meinungsäußerung.
Erzählerin:
Doch eine Bewegung wie der „20. Februar“, die sei neu: jung, ideologisch
nicht an Parteien gebunden, überwiegend säkular in den Ansichten – und
deutlich erfolgreicher als alle Bewegungen zuvor, so der Regimekritiker.
O-Ton 12 Fouad Abdel Moumni
Übersetzer 1:
Die Bewegung „20. Februar“ hat das Tabu der absoluten Macht
gebrochen. Das ist eine der Errungenschaften, die viele nicht sehen. Das
entzieht dem König seinen Heiligenstatus. Sowohl in den öffentlichen
Diskursen, als auch in der neuen Verfassung. Die alten Könige haben
über Jahrhunderte einen Absolutismus praktiziert. Sie haben für sich
beansprucht, eine Art Gottheit für die Gesellschaft zu sein. Und nun ist der
König ein Mensch geworden, so steht es in der Verfassung. Er ist
demzufolge begrenzt in seinen Entscheidungen und anfällig für Fehler.
Atmo H Atmo AMDH
O-Ton 13 Youssef Raissouni
14
Übersetzer 2:
Die Oppositions-Parteien, die Sozialdemokraten und andere, die trommeln
seit Jahren und fordern eine Verfassungsänderung und haben es nicht
geschafft. Das hat erst die „20. Februar“-Bewegung erreicht.
Erzählerin:
Auch Youssef Raissouni sieht durchaus die Erfolge der Protestbewegung.
Wild mit den Händen gestikulierend sitzt in der Bibliothek der
„Marokkanischen Assoziation für Menschenrechte“ im Zentrum der
Hauptstadt Rabat. Er ist der Geschäftsführer. Mit gerade einmal 32
Jahren. Das schüttere Haar und die randlose Brille lassen ihn jedoch älter
wirken.
O-Ton 14 Youssef Raissouni
Übersetzer 2:
Dank der Bewegung war der Staat gezwungen, viele politische Gefangene
freizulassen und Tausenden von arbeitslosen Akademikern Arbeit zu
geben. Sie hat den Staat gezwungen, den Beamten 600 Dirham pro
Monat mehr zu zahlen. Das sind materielle Erfolge, aber es gab auch
politische: Die Gesellschaft ist offener geworden, die Angst ist zerbrochen.
Erzählerin:
An den Wänden der Bibliothek ziehen sich deckenhohe Regale mit
Büchern und Studien entlang zu Frauenrechten, Analphabetismus,
Kindersterblichkeit, Armut. Viele Regalmeter voller Dokumente über das
Versagen, des marokkanischen Staates.
15
Raissouni ist noch immer aktiv in der Bewegung „20. Februar“. Er findet
nicht, dass sie tot sei. Sie habe nur deutlich an Kraft verloren, sei teilweise
am Regime, teilweise aber auch an sich selbst gescheitert:
O-Ton 15 Youssef Raissouni
Übersetzer 2:
Wir hatten kaum Mittel. Außerdem gab es zu viele Pläne und zu viele
Besserwisser unter uns. So haben wir viel Zeit verloren. Anstatt die Leute
zu mobilisieren, haben wir uns gestritten. Die Diskussionen hätten die
Bewegung begleiten und parallel dazu verlaufen müssen. Wir aber haben
vor allem endlos diskutiert. Das war kontraproduktiv. Und der Staat war
nicht tatenlos. Er begann uns zu denunzieren, einige von uns als Verräter
zu bezeichnen, wir seien Homosexuelle, wir fasteten nicht im Ramadan
usw.
Erzählerin:
Nach dem stürmischen Jahr 2011 hat sich Raissouni wieder auf seine
Arbeit in der Menschenrechtsorganisation konzentriert. 100 Filialen hat sie
landesweit, mehr als 14 000 Mitglieder, die äußerst unbequem sind für
den Staat.
[o.c. O-Ton 16 Youssef Raissouni
Übersetzer 2:
5 Jahre nach dem 20. Februar ist die Situation in Marokko mehr als
schlecht. Wirtschaftlich und politisch. Alles, was wir erreicht haben, geht
wieder verloren. Wir zum Beispiel werden angegriffen, wie nie zuvor.
16
Seit Juli 2014 bis jetzt wurden alle unsere öffentlichen Veranstaltungen
verboten - immer unter anderen Vorwänden. Viele unserer Filialen
konnten wir nicht registrieren. Es gibt eine regelrechte
Verhaftungskampagne. Und auf der wirtschaftlichen Ebene ist alles noch
viel schlimmer. Ein raketenhafter Preisanstieg. Subventionen wurden
abgeschafft. Die Rechte der Arbeiter sind eine Katastrophe. Die werden
massenhaft entlassen.]
Atmo I Atmo Theaterleute sitzen zusammen und diskutieren
Erzählerin:
Am Abend nach der gemeinsamen Premiere ihres Stücks sitzen die
Schauspieler des „Theaters der Entmündigten“ und die Gruppe aus
Alexandria noch einmal zusammen. Hosni Al Mokhlis will bei seinen
ägyptischen Kollegen Nachhilfe in Sachen Selbstvermarktung nehmen.
Wie präsentiere ich mich bei ausländischen Geldgebern, wie fasse ich
meine Mission kurz und prägnant zusammen. In diesen Punkten haben
ihm die Ägypter einiges voraus.
O-Ton 20 Dialog
2:20 Ägyptischer Regisseur:
Übersetzer 3:
Du fängst nicht damit an zu erzählen, was du machst und was du willst,
sondern erst einmal, wer du bist! Richtig? Also, wer seid ihr? Seid ihr
Künstler? Oder politische Aktivisten? Wann habt ihr euch gegründet und
wo? Eigentlich ganz einfach.
17
Erzählerin:
So einfach dann aber wohl doch nicht. Denn Al Mokhlis fällt es schwer, auf
den Punkt zu bringen, was das „Masrah Al Mahgour“ eigentlich ist.
5:18 Hosni Al Mokhlis
Übersetzer 1:
Also, ich versuche es einfach mal: Hallo, wir sind das „Theater der
Entmündigten“, eine Theater-Gruppe, im Jahr 2012 gegründet, in
Casablanca...
5:32 Ägyptischer Regisseur:
Übersetzer 3:
Ok, wo?
5:34
Übersetzer 1:
Wie, wo? Na, in Casa... (lachen) Achso, in Marokko... Was noch? 6:12 Wir
machen Straßentheater, wir sind ein Kanal, um mit den Menschen in
Kontakt zu treten...
Erzählerin:
Al Mokhlis bezeichnet sich heute bewusst nicht mehr als politischer
Aktivist. Die Zeiten, als er in der Bewegung „20. Februar“ aktiv war, seien
vorbei.
18
O-Ton 22 Hosni Al Mokhlis, Regisseur
Übersetzer 1:
Unsere Vision war irgendwann nicht mehr klar. Die meisten der jungen
Menschen, die die „20. Februar“-Bewegung angestoßen haben, sind
offen, progressiv und modern.
Sie wollten Demokratie, haben dann aber Angst bekommen, dass die
Früchte ihres Kampfes negativ sein könnten. So wie es in Ägypten zum
Beispiel der Fall war.
O-Ton 23 Hosni Al Mokhlis, Regisseur
Übersetzer 1:
Manchmal sagen wir uns, vielleicht ganz gut, dass die Revolution in
Marokko nicht geklappt hat. Sonst wären jetzt hier ähnliche Gestalten an
der Macht wie in Ägypten.
Erzählerin:
Als Regisseur sucht Hosni nun andere Wege ausprobieren, um seinen
Protest gegen das Regime auszudrücken.
O-Ton 21 Hosni Al Mokhlis
19
Übersetzer 1:
Die Arbeit der Theater-Gruppe ist eigentlich nur ein Perspektivwechsel
zum „20. Februar“. Während der Protestbewegung waren wir es, die das
Megafon in der Hand hielten. Wir waren es, die die Parolen skandierten die Leute waren Zuschauer, sprachen die Parolen nach und marschierten
mit. Wir waren wie eine Aufführung für die Leute am Straßenrand. Die
Idee ist es nun, dass wir das Megafon nicht mehr selbst in der Hand
halten, sondern den Menschen geben. Dass wir die Leute hören.
Der Perspektivwechsel besteht darin, dass wir es jetzt sind, die die
„Wahrheiten“ der Menschen hören.
20