SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Das spanische Troja? Die Bedeutung der El Argar-Kultur Von Stephanie Eichler Sendung: Mittwoch, 30. März 2016, 08.30 Uhr Redaktion: Sonja Striegl Regie: Autorenproduktion Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. 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Die Anthropologin kniet vor dem Skelett eines Kindes, das vor zirka 4000 Jahren im Südosten Spaniens gelebt hat. In eigentümlicher Hockerstellung liegt es in einer Vertiefung im Boden. Atmo 1: (kurz hoch, weiter unter den Ton ziehen, unter Erzählerin weg) O-Ton 1 - Camila Oliat: En este caso hay una serie de desplacamientos un poco extraños. No sabemos si es por la posiciòn en lacual fue colocado el cadaver originalemente o si despues hubo algun tipo de intrusiòn. (ab hier abblenden, unterlegen:) En la zona de la cadera hemos encontrado una cervical. Completamente en el extremo puesto donde tendria que encontrarse. Tenemos que acabar de confirmar cosas. Erzählerin: Die Forscherin erzählt von den Rätseln, die das Grab aufgibt: Sie hat einen Halswirbelknochen auf der Höhe der Hüfte gefunden. Wurden die Knochen bereits in dieser Anordnung beigesetzt? Oder geriet das Skelett erst später durcheinander? Atmo 2: Grillen, Wind, Geräusche von Hacken und anderen Geräten, mit denen das Ausgrabungsteam den Versturz von der Erde beseitigt – (unter die gesamte Passage) Erzählerin: Das Kinderskelett gehört zu einer überwältigenden Anzahl von Funden, die ein spanisches Grabungsteam in der Siedlung „La Almoloya” freigelegt hat. Die Ausgrabung ist unter Archäologen auf großes Interesse gestoßen, denn die Relikte belegen, dass hier im Süden Spaniens vor 4000 Jahren eine ungewöhnlich weit entwickelte Kultur siedelte. Sie erinnert bisweilen an Troja. Sprecherin: „Das spanische Troja? – Die Bedeutung der El Argar-Kultur“. Eine Sendung von Stephanie Eichler. Atmo 2 (kurz hoch und leise weiter): Grillen, Wind, Geräusche von Hacken und anderen Geräten, mit denen das Ausgrabungsteam den Versturz von der Erde beseitigt Erzählerin: Auf dem Hochplateau La Almoloya gibt es vor der Sonne kein Entrinnen. Schwitzend kniet das Grabungsteam auf dem Boden, in dem es Überreste von Steinmauern freigelegt hat, früher einmal Häuser und Zimmer. Der vier Quadratkilometer große Ort lässt erahnen, was er einmal war: ein prächtiger Herrschersitz. In stattlichen 2 Gebäuden lebten hier Menschen der El Argar-Kultur. Die Gesellschaft war weit entwickelt. Die Wissenschaftler vermuten, dass griechische Einflüsse gewirkt haben. O-Ton 2a - Cristina Rihuete: La Almoloya ha sido una sorpresa para nosotros. Lo maravilloso que tiene es la magnifica preservaciòn. Erzählerin: Die Archäologin Dr. Cristina Rihuete ist von La Almoloya begeistert. Sie erzählt, dass die Stätte eine Überraschung für die Forscher war. Die Erhaltungsbedingungen könnten kaum besser sein. Atmo 3 (kurz hoch und leise weiter): Grillen, Schritte, leise Stimmen, Abspachteln des Bodens Erzählerin (weiter): Weil es so viele einzelne Grabungen zu koordinieren gibt, teilt sich die ausgesprochen gut gelaunte Archäologin der „Autonomen Universität Barcelona” mit drei Kollegen die Ausgrabungsleitung. Einer davon ist Professor Dr. Roberto Risch. Seine Mutter ist Deutsche, deshalb spricht der Spanier ausgezeichnet Deutsch. Auch ihn fasziniert die vorgeschichtliche Stätte. O-Ton 2b - Roberto Risch: Wir können an den Knochenresten, an der Keramik, an den Steinwerkzeugen Analysen vornehmen, die wir früher nicht machen konnten. Das informiert uns immer mehr über den Alltag in dieser Gesellschaft. Erzählerin: Auf dem Hochplateau fanden die Forscher eine Fülle von Werkzeugen, Keramiken und Schmuck. Ein Hinweis darauf, dass hier oben die Herrscherschicht lebte. Sie schwelgte im Reichtum, während die einfache Bevölkerung der El Argar-Kultur vermutlich ein hartes Dasein fristete. Atmo 3: (liegt leise unter der Passage) Erzählerin: Wind ist aufgekommen. Die Anthropologin Camila Oliat hat ihre Arbeit am Kinderskelett unterbrochen. Sie steht in der Mitte der Siedlung direkt vor einer Einkerbung im Boden. Dort lag ein Frauenskelett, das sie bereits freigelegt und analysiert hat. Die Knochen deuten auf einen schweren Alltag hin. O-Ton 3 - Camila Oliat: Trabajó mucho. Con las piernas y los brazos... Übersetzung: Die Frau hat ausgesprochen viel gearbeitet. Mit den Armen und auch mit den Beinen. Die Knochen sind abgenutzt, besonders die Gelenke und die ganze Schultergegend. Das liegt an der Überanstrengung von Muskeln und Knochen. 3 Erzählerin: Vielleicht mahlte die Frau mit schweren Steinen Getreidekörner zu Mehl, in einer der Werkstätten, die sich hier oben befanden. Die Grabbeigaben deuten darauf hin, dass die Frau zur mittleren Gesellschaftsschicht gehörte, zur Klasse der Handwerker: O-Ton 4 - Camila Oliat: Tenia una pequeña... y porciones carnicas de Oveja oder Cabra. Übersetzung: Neben ihrem Kopf haben wir auf der einen Seite eine kleine Schale aus Keramik gefunden. Sehr klein. Sehr schön. Und auf der anderen die Überreste einer Portion Fleisch – das könnte Ziege sein oder Schaf. Atmo 3: (wegblenden) Erzählerin: Vor über 100 Jahren fanden die Brüder Louis und Henri Siret aus Belgien, zwei Mineningenieure, im Südosten Spaniens die ersten Gräber mit Tausenden von Beigaben. Sie ordneten die frühbronzezeitlichen Fundstücke einer bis dahin unbekannten Kultur zu und gaben ihr den Namen „El Argar“ – nach dem Fundort, einer Höhlensiedlung in der heutigen Provinz Almeria etwa 40 Kilometer nordöstlich der Stadt Almeria. Die umfangreichen Siedlungen, die seitdem freigelegt wurden, erstrecken sich über eine Fläche von knapp 35.000 Quadratkilometern – das ist fast so groß wie Baden-Württemberg. Dort lebten zwischen 2200 und 1550 vor Christus bis zu einhundertfünfzigtausend Menschen – die Angehörigen der El Argar-Kultur. Während die Menschen in anderen Regionen Mitteleuropas eher in kleinen egalitären Gemeinschaften lebten, deuten die Funde der El Argar-Kultur auf eine erstaunlich hierarchisierte Gesellschaft hin: Gut die Hälfte der Bevölkerung wurde ohne Beigaben bestattet. Sie ging landwirtschaftlicher Arbeit nach und hatte keine Rechte. Weitere rund 40 Prozent wurden mit einigen wenigen Grabbeigaben beigesetzt. Sie arbeiteten, ähnlich wie die Frau in La Almoloya, als Handwerker oder gehörten zu einer Art „Militär“ und bewachten und verteidigten die Siedlungen. Die herrschende soziale Schicht umfasste die restlichen zehn Prozent. Doch die Analyse der Gräber und der Häuser weist eine Lücke auf, erzählt die Anthropologin Camila Oliat: O-Ton 5 - Camila Oliat: En el entorno donde... hace especiales. No sabemos. Übersetzung: Dort, wo sie gelebt haben, in ihren Häusern, hat die Bevölkerung einige ihrer Leute begraben. Längst nicht alle wurden aber beigesetzt. Warum gerade diese und nicht andere? Diese Frage ist eine der großen Unbekannten. Es muss etwas gegeben haben, dass die Menschen, die bestattet wurden, auszeichnete. Wir wissen aber nicht was. Erzählerin: Noch lange nicht auf alle Fragen haben die Forscher in „La Almoloya” eine Antwort gefunden. Trotzdem ist diese Siedlung für die Wissenschaft ein Glücksfall: Die Stätte 4 brannte vor rund 3500 Jahren ab. Das organische Material verkohlte und überdauerte in dieser Form die Jahrtausende. O-Ton 6 - Roberto Risch: Die Mahlsteine, die Töpfe, die Knochenwerkzeuge, alles liegt so, wie es am letzten Tag hier noch verwendet wurde. Erzählerin: Der Brand muss die Bewohner von La Almoloya überrascht haben, vermutet Roberto Risch: O-Ton 7 - Roberto Risch: Es muss sehr, sehr schnell gegangen sein. Die ganze Ernährung konnten sie nicht mitnehmen, weil wir finden Töpfe voll mit Bohnen oder Körbe voll mit Gerste, manchmal auch Weizen, Linsen, Eicheln... Atmo 4: Auffalten eines Plans Erzählerin: Der Wissenschaftler, groß und schlank, welliges, längeres Haar und Ohrring, faltet einen Plan auf, auf dem die Grundrisse der Häuser abgebildet sind: O-Ton 8 - Roberto Risch: (nach 3 Sätzen abblenden und unter der Erzählerin ganz leise abblenden) Also wenn wir hier den Plan ansehen... Diese Palastsiedlung ist folgendermaßen aufgebaut. Du hast drei, vier mehr oder weniger rechteckige Gebäude unterteilt in sechs bis zwölf Zimmer. Und diese drei Gebäude stehen zentral. Hier vom Westen geht die Treppe hoch, wie du in die Siedlung kommst und nach Osten schauend hast du die drei Gebäude vor dir. Jedes Gebäude ist getrennt vom anderen durch einen Wasserkanal... Atmo 5: Wind, Geräusche der Arbeiter beim Ausgraben Erzählerin: Roberto Risch läuft zu den Resten des Gebäudes, das in der Mitte der Siedlung stand. Hier könnten Frauen oder Männer Lebensmittel verarbeitet haben, denn die Forscher fanden eine Reihe von Mahlsteinen. Der Archäologe zeigt auf die Überbleibsel einer Bank und einer umgestürzten Lehmwand. Die Scherben hoher Keramiktöpfe und 2000 Kilo verkohlte Gerstenkörner, die auf dem Boden verstreut waren, haben die Forscher längst im Labor analysieren lassen. Jetzt ahnen die Archäologen, was geschah, als hier die Flammen wüteten: O-Ton 9 - Roberto Risch: Die ganze Wand ist nach Osten gekippt und hat die ganzen Gefäße, die auf der Bank standen, hier ins Zimmer geworfen. Und wir sehen, wie sie runtergefallen sind. Was wir hier sehen, sind die fünf letzten Sekunden eines Gebäudes vor 3500 Jahren. 5 Erzählerin: Neben dem Haus ist eine kreisrunde Vertiefung in den Boden eingelassen – größer als ein gewöhnlicher Brunnen. Auch hier fanden die Forscher üppige Mengen verkohlter Gerste. Vermutlich diente das sauber ausgehobene Loch in der Erde als Speicher. Warum sammelten die Menschen an einem Ort, der von den Feldern weit abgelegen war, soviel Getreide? Für die Archäologen steht fest, dass die Getreidespeicher auf ein zentralisiertes System hindeuten: Die Herrscherschicht konzentrierte die Nahrungsmittel in ihrer Residenz und verteilte sie von dort an die restliche Bevölkerung. Das zeugt von der gewaltigen wirtschaftlichen und politischen Macht der El ArgarElite. Für Roberto Risch sind die Speicher sogar ein Hinweis auf eine Art Steuersystem: O-Ton 10 - Roberto Risch: Dadurch dass hier der Regenfall von Jahr zu Jahr so unterschiedlich ist, manche Jahre hast du viel Regen, andere Jahre wenig Regen, ist, sagen wir mal, die Funktion des Staates, eine Grundnahrung zu garantieren... Die Bauern geben die Grundnahrung Gerste an den Staat ab. Und wie eine heutige Bank, wenn du eine Hypothek brauchst, oder du Geld leihen musst, weil du ein Jahr lang schlechter gewirtschaftet hast, gibt dir die Bank, also der Staat gibt dir Gerste, damit du dieses schlechte Jahr überlebst. Und dafür akzeptierst du, dass es Reiche gibt. Du akzeptierst eine soziale Ungleichheit, einfach weil du eine Sicherheit über die Jahre hinweg erhalten willst. Erzählerin: Dem Wissenschaftler zufolge war El Argar in Westeuropa die erste Gesellschaft, in der die Menschen Abgaben an den Staat leisteten. Sonst zahlten zur gleichen Zeit nur die Bewohner der Stadtstaaten Ebla und Mari im Nahen Osten Steuern. Letzteres ist allerdings schriftlich bezeugt, auf Keilschrift-Tontafeln. Solche Nachweise fehlen in der El Argar-Kultur. Je länger die Archäologen im südlichen Spanien graben, desto mehr Ähnlichkeiten zwischen der Gesellschaft der El Argar und ihren Zeitgenossen im östlichen Mittelmeerraum, in der Ägäis, stellen sie fest. Einer, der sich dort im Osten auskennt, ist der Spezialist für Archäometallurgie, Prof. Ernst Pernicka. Er leitete viele Jahre lang die Ausgrabungen im griechischen Troja. Weil er neugierig auf die Funde der Kollegen war, verschaffte er sich kurzerhand einen Eindruck vor Ort in Spanien. Auch er stellte Ähnlichkeiten fest – wie er in seinem Büro in Mannheim erzählt. Dort leitet er das Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie: O-Ton 11 - Ernst Pernicka: Wir haben in ganz Europa in dieser Zeit ganz, ganz wenig Silberfunde. Aber die El Argar-Kultur weist etwa 800 Silberfunde auf. Auch in der Ägäis gibt es mehrere hundert Silberfunde schon im dritten Jahrtausend. Für die Ägäis wissen wir, dass diese Technik der Silbergewinnung, die ja eine sehr komplexe Technik ist, wahrscheinlich aus dem Osten stammte, aus Vorderasien. In Spanien gibt es aber 6 eine außergewöhnliche Situation, in dem, dass dort Lagerstätten existieren, in denen das Silber als Metall vorkam. Sogenanntes Natursilber, Gediegensilber. Erzählerin: Daraus fertigten die Kunstschmiede der El Argar-Kultur Silberdiademe für die Frauen der Herrscherschicht. In La Almoloya fanden die Forscher eines dieser Diademe, auf dem Schädel einer Prinzessin, die dort beigesetzt war. O-Ton 12 - Ernst Pernicka: Das Interesse an diesem Metall, an diesem weißen Metall, das ist doch eine gewisse Parallele, die zur Ägäis hinweist. Erzählerin: In der Diskussion um die Ähnlichkeiten zwischen Troja und der El Argar-Kultur spielt der Fundort La Bastida eine wichtige Rolle, er liegt 30 Kilometer südöstlich von La Almoloya. Wie Troja wurde auch die Stadt La Bastida mit einer beeindruckenden Stadtmauer begründet und hat sich nicht aus einem Dorf heraus entwickelt. O-Ton 13 - Ernst Pernicka: Ich war ja selbst in La Bastida und habe also die Anlage gesehen. Es ist tatsächlich eine ungewöhnliche Anlage für diese Zeit. In dieser Zeit hat tatsächlich in Westanatolien, also Troja, aber auch die ganze westanatolische Küste, hat es einige Ansiedlungen gegeben, die ebenfalls solche Befestigungsmauern aufweisen. Erzählerin: Die Mauern sind meterdick. Sie bestehen aus großen Steinblöcken und sind mit Lehm verstrichen. In regelmäßigen Abständen weisen sie Wehrtürme auf, die massiv sind. O-Ton 14 - Ernst Pernicka: Ob da ein wirklicher Zusammenhang besteht über die große Entfernung ist noch ein bisschen fraglich, aber es ist nicht undenkbar. Atmo 6: In La Almoloya, Grillen Erzählerin: Schon damals, vor 4000 Jahren, brannte die Sonne an manchen Tagen so erbarmungslos auf La Almoloya und seine Einwohner nieder wie heute. Doch im Schnitt regnete es häufiger. Darauf deuten die Überreste von Früchten, Samen und Holz hin. Roberto Risch ist von den Gemeinsamkeiten der beiden Kulturen überzeugt. Er kommt immer wieder auf die Stadtmauer von La Bastida zu sprechen. Für ihn liegen die griechischen Einflüsse auf der Hand: O-Ton 15a - Roberto Risch: Sagen wir mal: Wenn wir diese Stadtmauer irgendwo in Griechenland oder Anatolien gefunden hätten, hätte sich niemand drum gekümmert. Aber was macht dieses Ding hier im westlichen Mittelmeer? 7 Erzählerin: Kamen die Menschen, die die Stadtmauer bauen ließen, womöglich aus dem Osten übers Mittelmeer nach Spanien? O-Ton 15b - Roberto Risch: Was interessant ist, ist, dass das Jahr 2200 im östlichen Mittelmeer verbunden ist mit einer großen Gesellschaftskrise. Troja wird verbrannt. Viele andere Städte werden verlassen. Die berühmten Arkadia gehen unter. Arkad ist ja das erste Imperium der Menschheit, geht unter. 2200! Warum nicht sich vorstellen, dass ein paar Schiffe von dort lossegelten und in das westliche Mittelmeer gelangten und hier versucht haben, wieder etwas Ähnliches aufzubauen. Erzählerin: In den Fundamenten der imposanten Stadtmauer fand das Archäologen-Team Tierknochen. Die Radiokarbondaten haben ergeben, dass sie 4000 Jahre alt waren. Damit liegt die Gründung von La Bastida am Beginn der El Argar-Kultur. Das spricht für die Herkunft der Kultur aus dem östlichen Mittelmeerraum. Denn wie soll es möglich gewesen sein, dass dort, wo jahrhundertelang einfache Bauern in kleinen Gemeinschaften lebten, plötzlich Menschen über ausgeklügeltes architektonisches Wissen verfügten? Professor Joseph Maran, Leiter des Instituts für Ur- und Frühgeschichte an der Universität Heidelberg, hat noch keine abschließende Erklärung dafür. Aber er nennt eine weitere architektonische Ausnahmeerscheinung. O-Ton 16 - Joseph Maran: La Bastida ist schon sehr besonders. Auf der anderen Seite muss man sagen, es gibt in den Jahrhunderten davor auf der Iberischen Halbinsel bereits ebenfalls sehr faszinierende Befestigungsanlagen. In Portugal etwa Zambujal, Mitte des dritten Jahrtausends. Die sehen anders aus. Aber zeigen, dass Menschen damals schon vor dem Problem standen, solche Befestigungen zu bauen und das verstanden sie, sehr raffiniert zu bauen. Erzählerin: Vielleicht war damals einfach die Zeit „reif” und Menschen unterschiedlicher Regionen begannen, solche Befestigungsanlagen zu konstruieren. Oder die Idee hatte einen Ursprung und breitete sich von dort aus. O-Ton 17 - Joseph Maran: Was ist davon lokalen Ursprungs und was ist möglicherweise von außen übernommen? Und ich denke, man muss im Moment in verschiedene Richtungen denken. Und ich bin davon überzeugt, dass wenn es diese Fernkontakte wirklich gegeben hat, dass dann irgendwann auch ein Objekt – was auch immer das sein mag – eine Waffe, eine Schmuckform, ein schönes Goldgefäß aus dem OstMittelmeerraum dort gefunden sein wird. Atmo 7: Grabungsgeräusche, Begrüßung 8 Erzählerin: Roberto Risch begrüßt seinen Mitarbeiter Fernando Martinez. Der kniet mit einem Spachtel in der Hand auf einem ovalen Platz. Dieser Platz ist durch die Reste einer Steinmauer begrenzt. O-Ton 18 - Fernando Martinez: Estamos en un derumbe... Vamos quitando y hay el piso. Erzählerin: Fernando Martinez spachtelt den Versturz, der auf den Platz gefallen ist, ab. Er erzählt, dass nur ein paar Zentimeter unter der Oberfläche der alte, originale Boden erscheint. O-Ton 19 - Roberto Risch: Siehst du, wie es hochspringt, die Erde? Den Spachtel so rein und es springt hoch. Weil die haben die Böden zum Teil mit Kalk verputzt und dadurch sind die ganz hart. Atmo 8: Der Spachtel kratzt über den Kalkboden. O-Ton 20 - Roberto Risch: Der Klang ist ganz anders. Die Textur ist anders. Atmo 9: Arbeiter spachteln den Versturz ab, leise Stimmen (liegt unter der folgenden Erzählerpassage. Bis zum einschließlich vierten Satz.) Erzählerin: Der freigelegte Kalkboden ist auffällig glatt. Vor 4000 Jahren war das Herstelllungsverfahren von Kalk sehr aufwändig. Die Forscher leiten daraus ab, dass hier professionelle Maurer am Werk waren. Ein Hinweis darauf, dass in der El ArgarKultur Arbeitsteilung herrschte. Cristina Rihuete, die zusammen mit Roberto Risch und zwei weiteren Kollegen die Ausgrabung leitet, erzählt, dass die Archäologen noch mehr über den Arbeitsalltag herausgefunden haben: Die Mittelschicht war in speziellen Werkstätten tätig, und zwar in Siedlungen, in denen die Mächtigen residierten. O-Ton 21 - Cristina Rihuete: Porque hasta ahora... reservado al descanso. Übersetzung: Bisher war das nur eine Idee, die wir hatten. Aber wir konnten das nicht anhand der Feldfunde nachweisen. Die Gebiete, die wir vorher ausgegraben haben, waren kleine, unterteilte Gebiete. La Almoloya ist nun von hunderten von Siedlungen, die im Laufe des letzten Jahrhunderts gefunden wurden, die einzige Stätte mit einer zusammenhängenden Architektur. Und da sehen wir: Es gibt Bereiche, die der gesellschaftilchen Elite vorbehalten waren und Bereiche für die Dienstboten. Es gibt Küchen, Werkstätten und Zimmer, die der Erholung dienen. 9 Erzählerin: In einigen Gebäuden fanden die Forscher Getreidereste. In anderen Dutzende von Webgewichten. In der Palastsiedlung webte die Mittelschicht Stoffe. Sicherlich um das Grundbedürfnis, sich zu kleiden, zu befriedigen. Darüberhinaus sehen die Forscher in der großen Anzahl von Geweben, die hier entstanden sein müssen, ein Zeichen für soziale Ungleichheit: Während der Großteil der Bevölkerung hart arbeitete und das Erwirtschaftete abgeben musste, bereicherte sich eine schmale Bevölkerungsschicht: Sie hortete Stoffe – in nicht monetären Gesellschaften eine gebräuchliche Art, Reichtum anzuhäufen. Die Herrscherschicht hatte ein großes Interesse daran, dass die Menschen die Arbeit innerhalb der Palastsiedlung verrichteten. So gelang es, die Bevölkerung zu beaufsichtigen. Die Kontrolle war umfassend und erfolgte auch in den einfachen Siedlungen: O-Ton 22 - Cristina Rihuete: En Lorca, uno... que tiene la elite de la producciòn en estos poblados pobres. Übersetzung: In Lorca, in der Nähe von la Bastida, hat eine andere Forschergruppe eine der größten El Argar-Siedlungen freigelegt, in denen die bäuerliche Bevölkerung wohnte. Wir haben die menschlichen Überreste untersucht. Dabei haben wir festgestellt, dass dort eine Person der Herrscherschicht begraben war. Wir wissen nicht, ob sie dort auch lebte, aber – das liegt nahe – sie hat sich dort aufgehalten, um die Produktion, die Arbeit in diesen ärmlichen Siedlungen zu kontrollieren. Atmo 10: Grillen, in der Ferne Geräusche von Grabungswerkzeugen (liegt unter dem ersten Absatz der Erzählerpassage) Erzählerin: Ein unebener, glatter Boden, begrenzt von verfallenen Mauern. Vor den Mauern mehr oder weniger gut erhaltene verputzte Steinbänke – die spärlichen Überreste einer weiteren archäologischen Sensation in La Almoloya: Es sind die Zeugnisse einer fast 100 Quadratmeter großen Halle. Sie befand sich im südlichsten Gebäude: offenbar ein Audienzsaal, in dem der Adel die Bevölkerung empfing, um politische Entscheidungen zu treffen. Solch ein Saal war für das damalige Westeuropa einzigartig. In den frühen Staaten des östlichen Mittelmeerraums gab es bereits ähnliche Versammlungsräume. Sie sind Ausdruck bestimmter politischer und sozialer Ordnungsvorstellungen. Sind sie auch ein Anhaltspunkt für den Kontakt von Ost und West? Nicht zwangsläufig, erklärt der Heidelberger Archäologe Joseph Maran: Kulturelle Ähnlichkeiten können auf einen Kontakt der Kulturen zurückgehen. Müssen aber nicht. O-Ton 23 - Joseph Maran: Ich denke zum Beispiel an die Entstehung von produzierender Lebensweise. Bestimmte Getreidearten sind am Beginn des Neolithikums aus Wildgetreiden in Teilen Vorderasiens gezüchtet worden und haben sich von dort nach Europa ausgebreitet. Es gibt zweifelsohne solche Innovationen, die sich ausbreiten müssen, 10 weil es die Vorformen gar nicht überall gibt. Dann gibt es aber auch andere Arten von Innovationen, die an verschiedenen Orten entstehen können. Denken Sie zum Beispiel an die Schriftenstehung. Wir wissen heute, dass Schrift unabhängig voneinander in verschiedenen Teilen der Welt ersonnen wurde. Erzählerin: Die El Argar-Kultur muss eine sehr komplexe Gesellschaft gewesen sein. Sie verfügte über eine Aristokratie, eine Art Staatswesen und ein Abgabe- vielleicht sogar ein Steuersystem. Diese Konzepte markieren Meilensteine in der Entwicklung gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie kennzeichnen ein System, das als Vorläufer unserer modernen Gesellschaft gilt. Außerdem ähneln diese Prinzipien den Grundzügen der antiken Gemeinschaftsformen des östlichen Mittelmeers. Es heisst oft, dass diese rund 800 Jahre nach dem Untergang der El Argar-Kultur in Westeuropa eingeführt wurden: Die Historiker gehen davon aus, dass die Griechen damals die Mittelmeerküste erreichten, Städte wie Marseille und Malaga gründeten und dort ihr Gedankengut verbreiteten. Dieser Vorstellung entspricht die Idee, dass das antike Griechenland die Wiege unserer Kultur ist. Troja-Experte Ernst Pernicka erklärt, wie diese Idee entstanden ist: O-Ton 24 - Ernst Pernicka: Das hängt zusammen, dass die Wirkmacht der homerischen Erzählungen Illias und Odyssee bedeutend war für die europäische Bildung. Die Renaissance hat die griechische Antike wieder entdeckt. Und deshalb hat man den Blick immer nach Südosten, nach Griechenland gerichtet. Erzählerin: Doch viele zivilisatorische Errungenschaften sind gar nicht in Griechenland entstanden, sondern wurden dort nur übernommen. Ihr Ursprung ist noch weiter östlich anzusiedeln. O-Ton 25 - Ernst Pernicka: In Vorderasien, das beginnt mit der Sesshaftwerdung, das setzt sich fort mit Metallurgie und anderen Kulturtechniken. Die haben sich immer in einem gewissen Rhythmus nach Europa ausgebreitet. Da ist Griechenland eine Vermittlerrolle zugekommen. Aber auch Südosteuropa, Bulgarien, Rumänien und so weiter. Anatolien natürlich. Und durch die spanischen Kollegen rückt jetzt auch das westliche Mittelmeer in den Gesichtskreis. Erzählerin: Kamen nun zu Beginn der El Argar-Kultur, vor rund 4000 Jahren, also deutlich früher als bisher angenommen, Menschen aus dem östlichen Mittelmerraum in Westeuropa an und prägten die Gesellschaft? Oder entfalteten sich die westliche und östliche Vorform unseres heutigen Systems zeitgleich aber unabhängig voneinander? Diese Fragen werden unter den Wissenschaftlern kontrovers diskutiert, bleiben aber offen. Als gesichert gilt bislang nur: Manche Entwicklungen, die sich andernorts durchsetzen, führen unter bestimmten Bedingungen in eine Sackgasse – so wie die 11 Gesellschaft der El Argar. Im Laufe weniger Jahre brannten fast alle Siedlungen ab. Auch La Almoloya. O-Ton 26 - Roberto Risch: Wenn es die einzige Siedlung ist, die abgebrannt wäre, würde ich sagen: Es ist ein Unfall gewesen. Aber dadurch, dass fast alle Siedlungen in einer Brandschicht enden, sieht es eher danach aus, dass es Brandstiftung gewesen ist. Erzählerin: Warum legten die Menschen Feuer? Eine Invasion halten die Wissenschaftler nicht für möglich; sie entdeckten keine Spuren gewaltsamen Eindringens. Vermutlich steckte die eigene, ausgebeutete Bevölkerung die Siedlungen in Brand. Gründe dafür schien es genug gegeben zu haben: O-Ton 27 - Roberto Risch: Die Hälfte der Bevölkerung waren Kinder unter sechs Jahren. Und man sieht vor allem gegen Ende der El Argar-Zeit wie die Kindersterblichkeit zunimmt. Erzählerin: Die Knochen deuten darauf hin, dass die Kinder an Eisenmangel litten, verursacht durch schlechte Ernährung. O-Ton 28 - Roberto Risch: Du machst Isotopenmessungen am Stickstoff und am Kohlenstoff... (Erzählerin vor Ort: an den Skeletten) ... an den Skeletten, genau, du nimmst eine Probe aus den Skeletten und auch an Zähnen und daran kannst du erkennen, welche Ernährung die hatten. Weil der Stickstoff-Gehalt hängt von der trophischen Kette ab. Du hast sehr niedrige Gehalte in der Vegetation. Die pflanzenfressenden Tiere haben ein bisschen höhere, die fleischfressenden Tiere haben noch ein bisschen höhere. Und die höchsten haben die Säuglinge, weil die ja ihre Ernährung über die Mutter bekommen. Erzählerin: Während die einfache Bevölkerung haupsächlich Getreide aß und unter Fehlernährung litt, speisten die Menschen der Herrscherschicht gut. Die Fürsten verzehrten viel Fleisch. Die Forscher fanden in La Almoloya noch Spuren eines anderen Nahrungsmittels, das sorgfältig aufbewahrt wurde: Atmo 11: Eine Keramikscherbe wird abgerieben, gesäubert. Erzählerin: In dem nördlichsten Haus in La Almoloya holt der Student Guillermo Vidal-Quadras aus dem Boden vorsichtig ein Fundstück empor: 12 O-Ton 29 - Giullermo Vidal-Quadras: Pues es una ceramica... seguramente, si, si. Erzählerin: Es ist eine Keramikscherbe. Guillermo Vidal-Quadras vermutet, dass auch sie zu einem Gefäß gehört. Atmo 12: Zwei Keramikscherben werden gegeneinander geschlagen. O-Ton 30 - Roberto Risch: Man hört am Klang, wie gut die gebrannt ist. Das sind ungefähr achthundert, neunhundert Grad. Deshalb erhält die sich so gut über die Jahrtausende. Erzählerin: Das Grabungsteam stieß in La Almoloya schon auf viele Scherben und setzte daraus etliche Keramikgefäße zusammen. Chemiker untersuchten sie im Labor. O-Ton 31 - Roberto Risch: Die chemischen Analysen der Gefäße zeigen, dass sie sehr viel Honig hatten. Honig ist ein sehr, sehr gutes Konservierungsmittel. Und in vielen Gefäßen erscheint Honig mit Fleisch vermischt. Also es kann sein, dass sie irgendeine Speise hatten, bei der Fleisch oder Fette, tierisches Fett, mit Honig vermischt wurde. Und das wäre natürlich ein sehr, sehr guter Zusatz zu diesem Getreide. Wer solche Nahrung hatte, lebte sehr viel besser. Erzählerin: Die El Argar-Keramik ist erstaunlich schlicht. Jegliche Dekoration fehlt. Während andere neolithische Keramik wie die der Glockenbecher-Kultur reichverziert ist, bemalt, oder mit Eindrücken versehen. Aber auf einmal 2200 vor Christus hört dieser dekorative Stil auf der Keramik auf. Verschwindet völlig. O-Ton 32 - Roberto Risch: Und was du hast über 600 Jahre ist eine perfekt geglättete Keramik. Niemals dekoriert. Über 35.000 Quadratkilometer – von Westen nach Osten – du wirst die Keramik nicht unterscheiden können. Du siehst also keine regionalen Stile. Die haben die Keramik exakt nach denselben Normen hergestellt. Und das zeigt eine fast diktatorische Weise, die symbolische Welt zu ordnen. Es gab keine Freiheit. Ich mach mal ne andere Keramik. Nein, nur so war ordentlich. Erzählerin: An ihrem Ende war die Gesellschaft der El Argar wohl so reich und fortgeschritten wie zur gleichen Zeit nur die Kultur der Minoer, die auf Kreta ihre Paläste bauten. Doch die südostspanische Zivilisation der frühen Bronzezeit scheiterte. Vermutlich weil die meisten Menschen kaum Freiheiten hatten und am Wohlstand nur eine kleine Elite teilnahm. O-Ton 33 - Roberto Risch: Die Gesellschaften, die danach kommen, sind wieder ganz kleine Gesellschaften. 50, 100 Leute. Man lebt wieder in kleinen Siedlungen, man teilt, man ist selbsterhaltend, man zahlte wahrscheinlich keine Steuern mehr. Wir haben keine Nachweise von 13 Aristokratie. Über tausend Jahre haben diese Leute hier in Südspanien relativ friedlich und nachhaltig gelebt. Erzählerin: Von der Kultur der El Argar schien keine Spur geblieben zu sein. Erst Jahrtausende später beginnen Archäologen ihre Geschichte zu verstehen. ******************** 14
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