Manuskript

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Der erste Atheist der Neuzeit:
Matthias Knutzen
Von Rolf Cantzen
Sendung: Freitag, 9.9.2016
Redaktion: Udo Zindel
Regie: Tobias Krebs
Produktion: SWR 2016
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MANUSKRIPT
Musik
Erzählerin:
Am 5. September 1674, einem Mittwoch, ereignete sich in der Stadtkirche zu Jena
etwas geradezu Ketzerisches: Der Theologe Matthias Knutzen legte im Beichtstuhl
und auf den vorderen Kirchenbänken heimlich Flugschriften aus, die er selbst von
Hand geschrieben hatte. Darin stand zu lesen:
Zitator 1:
... ich glaube an keinen Gott, halte auch nichts von eurer Bibel, sage auch, dass man
Priester und Obrigkeit aus der Welt jagen soll, weil man ohne dieselben doch wohl
leben kann.
Erzählerin:
Flugschriften ähnlichen Inhalts fanden der Hofprediger Magister Johannes Schlemm
in seiner Kutsche und der Verleger Johann Ludwig Neuenhan in seinem Hausflur –
mit der nachdrücklichen Aufforderung, die Schriften zu drucken. Der Verleger
glaubte, den Verfasser beim Verteilen seiner Pamphlete gesehen zu haben. Seine
Beschreibung, die an den Teufel erinnern sollte, diente als Steckbrief.
Zitator 2:
Ein kleiner Mann, hager, schwarzbraun im Gesicht, mit schwarzbraunen Haaren,
gekleidet in braunes Tuch; Rock und Mantel nach Art der Tracht der ostpreußischen
Studenten.
Ansage:
Der erste Atheist der Neuzeit: Matthias Knutzen. Eine Sendung von Rolf Cantzen.
O-Ton 1 Winfried Schröder:
Zum ersten Mal hatte man Kenntnis von einer Person in Fleisch und Blut, die
behauptete – erstens: Es gibt keinen Gott. Zweitens: Wir brauchen auch keinen Gott,
weil moralische Orientierung ohne die Idee eines göttlichen Gesetzgebers möglich
ist.
Erzählerin:
Diese Person war der evangelische Theologe Matthias Knutzen. Er wurde 1646 als
Sohn eines Organisten geboren, bei Eiderstedt im heutigen Schleswig-Holstein,
damals noch Königreich Dänemark. In Königsberg und Kopenhagen hatte er
evangelische Theologie studiert. Doch statt seinem vorgezeichneten Lebensweg zu
folgen und ein braver Pastor in einer kleinen Gemeinde zu werden, schrieb er Sätze
wie diesen:
Zitator 1:
... wir leugnen das Dasein eines Gottes, wir verachten die Obrigkeit, und verwerfen
alle Kirchen und Priester.
2
Erzählerin:
Derartige Brandreden für den Atheismus hatte es bis dahin noch nicht gegeben:
Bereits für vorsichtige Religionskritik konnte man damals auf dem Scheiterhaufen
landen – auch in Thüringen. Es war die Zeit nach dem 30-jährigen Krieg, eine Zeit, in
der Hunderte von angeblichen Hexen und Hexern verbrannt wurden. Bevor Knutzens
Flugschriften in Jena auftauchten, gab es – so der Stand der Forschung heute – nur
eine einzige, allerdings anonyme Schrift, die ähnlich weit ging. Sie kursierte seit 1659
im gesellschaftlichen Untergrund Frankreichs. Doch davon wusste Matthias Knutzen
nichts. Und er ging noch einen Schritt weiter. Er stellte nicht nur die Existenz eines
Gottes in Frage:
O-Ton 2 Winfried Schröder:
Herrschaft ist neben der Religion und der Annahme der Existenz Gottes die zweite
große Zielscheibe, auf die sich die Kritik von Knutzen richtet. Wir haben es also hier
zu tun mit einer Kombination von Religionskritik und politischer Kritik. Das ist ziemlich
ungewöhnlich.
Erzählerin:
Winfried Schröder ist Professor für die Geschichte der Philosophie an der Universität
Marburg. Er ist Spezialist für "klandestine", also für geheim gehaltene und lange Zeit
nur im Verborgenen verbreitete Texte der Aufklärung. Er hat die Schriften Knutzens
neu herausgegeben und kommentiert. Eine davon hatte Matthias Knutzen in Latein
verfasst: "Amicus Amicis Amica", was im Deutschen soviel heißt wie:
Zitator 1:
Freundliche Wünsche eines Freundes für seine Freunde.
Erzählerin:
Zuerst analysierte Knutzen die Widersprüche der damals wortwörtlich ausgelegten
und als sakrosankt geltenden Bibel. Das hatten vor ihm auch andere Autoren getan,
die hatten aber an der Existenz eines Gottes festgehalten. Die von Knutzen
verfassten Texte verwarfen als erste überhaupt jeglichen Gottesglauben, berichtet
Winfried Schröder:
O-Ton 3 Winfried Schröder:
Wenn wir also fragen, ob der Atheismus eine begründete Negation der Existenz
Gottes früher, in vergangenen Perioden belegt ist, ist die Antwort klar: Wir finden kein
einziges Zeugnis für diese Aussage. Und das ist kein Zufall, denn: Man hatte gute
Gründe anzunehmen, dass die Welt und ihre Ordnungsstrukturen das Produkt einer
schöpferischen Intelligenz ist, die man Gott nennen kann, dass die Welt nicht dem
Zufall entsprungen ist. Und also war der Atheismus eine gar nicht zur Verfügung
stehende theoretische Option.
Erzählerin:
Im 17. Jahrhundert gab es noch keine physikalische Kosmologie, die die Entstehung
der Welt erklärte. Es gab keine Evolutionstheorie, die die Entstehung des Menschen
erklärte. Es war damals also selbstverständlich, auf göttliche Instanzen
zurückzugreifen, um Natur und Gesellschaft zu erklären. Wer die Existenz Gottes
leugnete, galt als verrückt. In der Bibel heißt es bereits:
3
Zitator 2:
Die Toren sagen in ihrem Herzen: "Es gibt keinen Gott".
Erzählerin:
Auch aus der europäischen Antike sind keine Texte überliefert, die die Existenz eines
Gottes generell verwarfen. Es gab höchstens Vorwürfe der "Asebie", der
Gottlosigkeit, und Gerüchte, dass manche antike Philosophen die Existenz von
Göttern oder eines göttlichen Prinzips verworfen haben sollen.
O-Ton 4 Winfried Schröder:
Aristoteles zum Beispiel sagte, wer die Existenz eines göttlichen Prinzips oder von
Göttern leugnet, verdient, eine Antwort nicht in Form von Argumenten, sondern in
Form von Prügeln zu bekommen. Cicero meinte, kein Volk auf dieser Erde, selbst
unter den Barbaren, sei so wild und dumm, dass es nicht wüsste, dass es Götter gibt.
Musik
Erzählerin:
Anderthalb Jahrtausende später tauchte Matthias Knutzen in Jena auf und wollte
seine gottesleugnende Schrift von Johann Ludwig Neuenhan, dem Verleger der
Zeitschrift "Avisen", drucken lassen. Dazu griff er zu einer List. Er gab an, Mitglied
der "Gewissener" zu sein, einer bedeutenden, im Untergrund agierenden
Atheistensekte, die er frei erfunden hatte:
Zitator 1:
Hochverehrter Herr!
(Wir) tun Ihm hiermit zu wissen, dass (sich) allhier zu Jena gewisse Leute, und zwar
an der Zahl 700, teils Bürger, teils auch Studiosi, aufhalten, welche dieser Lehre ...
zugetan sind. Wir gebieten Ihm demnach diese Schrift in "Die Avisen" zu setzen,
oder wir werden Ihn, nach Eurer Schrift zu reden, nach der der Tod ein Schlaf ist,
durch eine Wind-Büchse auf öffentlicher Straße schlafen legen. Gehabt Euch wohl,
und bleibt günstig dem, der Euch warnt.
O-Ton 5 Winfried Schröder:
In der Sache ist es nicht vorstellbar, dass er mehrere Hundert Anhänger für den
Atheismus gewonnen hat in dem kleinen Universitätsstädtchen Jena damals. Es ist
ausgeschlossen. Es riecht nach Prahlerei.
Erzählerin:
Doch die List zeigte Wirkung: Verleger Neuenhan ließ den Text zwar nicht drucken
und ihm wurde kein Haar gekrümmt. Doch die Drucklegung besorgte ein Jahr später
der Theologie-Professor Johann Musaeus – ausdrücklich zur Abschreckung. Er
schrieb zunächst eine eher moralisierend-zurechtweisende als argumentierende
"Widerlegung":
Zitator 2:
Ableinung der ausgesprengten abscheulichen Verleumbdung.
4
Erzählerin:
Die obrigkeitliche "Richtigstellung" war notwendig, weil Knutzens Flugschriften in
Jena und darüber hinaus bekannt wurden und den Ruf Jenas als Universitätsstadt
gefährdeten. So schrieb Musaeus:
Zitator 2:
Christliche Leser
Man hat zeithero nicht ohne sonderbare Gemüthsbestürtzung vernehmen müssen /
was massen an nahen und weitentlegenen Orten ein Geschrey erschollen / ob wäre
in hiesiger Fürstlich Sächsicher Residentz und gesamten Universität Jena eine neue
Sekte der so genannten Gewissener entstanden, welcher die heilige Schrift
verwerffen / und nichts glauben, als was ihnen ihr eigenes Wissen und Gewissen
sage.
Erzählerin:
Eine zweite Auflage dieser "Widerlegung" wurde bald nötig, und dieser zweiten
Auflage wurden dann – quasi als Beleg für das Ungeheuerliche – die bekannt
gewordenen drei Flugschriften Knutzens angehängt. Der hatte damit erreicht, was er
wollte.
O-Ton 6 Martin Mulsow:
Das wurde auch diskutiert, soll man überhaupt Widerlegungen schreiben, dadurch
macht man ex negativo doch die Gedanken bekannt und manche haben sich für den
Weg entschieden, nein, man muss Leute totschweigen, und andere haben gesagt,
unsere Widerlegungen sind so gut, auch Musaeus hat sich sicherlich so sicher
gefühlt als Theologe mit seinen Argumenten und hat das biografisch unterfüttert,
weshalb der Mann so geworden ist. Der hat sich so sicher gefühlt, dass er meinte,
dann kann ich in der zweiten Auflage auch diese Texte abdrucken. Das richtet keinen
Schaden mehr an.
Erzählerin:
Der Historiker und Philosoph Martin Mulsow ist Professor in Erfurt und forscht als
Experte für frühneuzeitliche Geistesgeschichte zur "Radikalaufklärung".
O-Ton 7 Martin Mulsow:
Die Radikalaufklärer, die sind eben Atheisten, lehnen komplett die Obrigkeit ab,
wollen die Kirche abschaffen und so weiter, während die Moderateren, Pragmatiker –
oder Realos heutzutage wären – und die sagen dann durchaus, man kann das
Christentum reformieren, nicht alles abschaffen, man kann ein Minimalchristentum
vielleicht behalten.
Erzählerin:
Doch Matthias Knutzen ist an einer Reform des Christentums ebenso wenig gelegen
wie an einer Reform der Obrigkeit.
O-Ton 8 Winfried Schröder:
Wenn man sich die politischen Ideen, die skizzenhaft entwickelt sind in den Schriften,
näher anschaut, muss man tatsächlich den moderneren Begriff des Anarchismus auf
5
sie anwenden. Im Kern geht es Knutzen darum, politischer Herrschaft per se ihre
Legitimität abzusprechen.
Musik
Erzählerin:
Seine Ideen skizziert Matthias Knutzen in seiner deutschsprachigen Schrift:
Zitator 1:
Ein Gespräch zwischen einem Lateinischen Gastgeber / und drey ungleichen
Religions-Gästen / gehalten zu Altona, nicht weit von Hamburg.
Erzählerin:
Der Gastgeber, ein Wirt, vertritt die atheistische Position Knutzens, die Gäste sind
ein Katholik, ein Lutheraner und ein Reformierter – ein Calvinist. Der Wirt trägt das
Essen auf.
Zitator 2:
Last uns beten. Aber Herr Wirth / warumb betet ihr nicht mit uns?
Zitator 1:
Wozu dienet das Beten / das Essen und Trincken schmecket mir doch wohl / wenn
ich gleich nicht bete.
Erzählerin:
Und so beginnt ein Streitgespräch über die Bibel. Schnell räumt der Wirt ein:
Zitator 1:
Ich gläube an keinen Gott (und) sage auch / daß man Priester und Obrigkeit aus der
Welt jagen soll.
Zitator 2:
Allein uns wundert, daß euch der König hier leidet / als ihr die Obrichkeit verachtet.
Zitator 1:
Gemach ihr Herren / fürchtet euch nur nicht / ich werde euch nicht fressen. Denn ob
ich gleich an keinen Gott glaube, so lebe ich doch nach Wissen und Gewissen ... ich
und meine Glaubens-Brüder.
Zitator 2:
Ei, was ist das für eine neue Religion ... erzehlet uns von deren Urheber.
Zitator 1:
Matthias Cnutzen gebürtig aus Eiderstedt von Oldenswort / eines Organisten Sohn ...
Erzählerin:
Und so erzählt der Wirt kurz den Lebensweg Knutzens – über sein Theologiestudium
in Königsberg und Kopenhagen, darüber, dass er, in seine Heimat zurückgekommen,
eine rebellische Predigt gehalten habe, woraufhin man ihm die Kanzel verboten
habe. Dann, so erzählt der Wirt weiter, habe Knutzen Briefe verschickt ...
6
Zitator 1:
... worinnen er weitläufig beweiset / daß die ganzte Bibel mit ihr selbst streite /... daß
gute redliche / aber arme Handwercksleute und Bauern / der Obrigkeit als den
Geldsüchtigen ... insgleichen den Priestern ihren sauren Fleisch und Blut hingeben
müssen / Geld vor das Tauffen / Geld vor die Vorbitten / Geld vor die
Leichenpredigten / Geld zur Besoldung.
Erzählerin:
Dann kommt der Wirt – alias Matthias Knutzen – noch auf die Ehe zu sprechen. Er
plädiert für freies "copulieren".
O-Ton 9 Winfried Schröder:
Die Ehe und ihren Sinn zu bestreiten, freie Liebe zu fordern – das alles ist mehr als
erstaunlich. Das heißt, wir haben hier ein Bündel von radikalen Negationen
bestehender normativer Ordnungen und auch weltanschaulicher Orientierungen,
nämlich der Religionen.
O-Ton 11 Martin Mulsow:
Schleswig-Holstein war voller solcher einzelner religiöser Querköpfe sozusagen seit
Jahrzehnten. Überall gab es Nester und im Einzelnen muss man dann noch viel
stärker die Brücke sehen und suchen von der radikalen Reformation zur radikalen
Aufklärung. Man denkt immer, die Aufklärung war gegen Religion, also kann das
nichts miteinander zu tun haben, das Kleid hat sich nur geändert, aber der Gestus,
dieser Protestgestus ist der gleiche geblieben.
Erzählerin:
Dieser "Protestgestus" begleitete Knutzen schon in seiner Kindheit und Jugend in
Eiderstedt. Hier, an der Nordsee-Küste, die oft von Sturmfluten heimgesucht wurde,
hatte man verschiedenen religiösen Sekten Siedlungsgebiete überlassen. Einige
dieser Gruppierungen lehnten die politischen und religiösen Obrigkeiten ab. Sie
waren sogenannte "Wiedertäufer" und orientierten sich an der Idee des
Gemeinschaftseigentums. Andere waren Mystiker und suchten Gotteserfahrungen in
sich selbst. Die autoritätskritischen Arminianer betrachteten die Vernunft als
maßgebliche Instanz der Bibelauslegung und plädierten für weitgehende religiöse
Toleranz. Den David-Jorianern, einer anderen Sekte, wurde eine äußerst freizügige
Sexualmoral nachgesagt. Die Ideen dieser verschiedenen Gruppierungen hatte
Knutzen kennen gelernt und später im Sinne seines Atheismus und seiner
herrschaftskritischen Auffassungen radikalisiert.
O-Ton 12 Winfried Schröder:
Man könnte denken, dass jemand wie Knutzen, der in dieser radikalen Weise vom
Konsens seiner Zeit in religiöser, politischer, moralischer Hinsicht abweicht, wohl ein
intellektueller Desperado gewesen ist. Kann ein rationaler Mensch damals derart aus
dem Ruder laufen, fragt man sich. Ist es ein wildgewordener, nicht-akademischer
Intellektual-Anarchist, so könnte man fragen.
7
Erzählerin:
Doch Matthias Knutzen war kein isoliert lebender Autodidakt: Er absolvierte ein
komplettes Theologiestudium, auf dem seine kenntnisreiche Bibelkritik ebenso
aufbaut wie seine vernichtenden Schlussfolgerungen:
Zitator 1:
Alles ist erlogen, was von Christi Geburt, Leiden und Auferstehung in eurer Bibel
gesagt wird.
Erzählerin:
Das hatten bereits Ketzer wie Celsus im zweiten Jahrhundert nach Christus gesagt,
deren Lehren Theologiestudenten zu verurteilen lernten. Knutzen entwickelte diese
Ideen weiter zum Atheismus. Weil er im Rahmen seines Theologiestudiums auch
Philosophie studiert hatte, kannte er die Klassiker der philosophischen Literatur. Und
daher stammt vermutlich auch sein Interesse an der Philosophie seiner Zeit. Der
damals noch anonyme "Tractatus theologico-politicus" des in Holland lebenden
Philosophen Baruch de Spinoza war seit 1670 bekannt.
O-Ton 13 Martin Mulsow:
Dieser Tractatus, er war anonym erschienen, hatte aber eine sehr große Wirkung –
er wurde an vielen Unis von den Studenten, von den Professoren sofort diskutiert,
nicht überall, aber in Leipzig, Jena. Das heißt: Viele Leute, wenn sie ihn auch nicht
selber gelesen hatten, die hatten die Thesen gehört und das wurde diskutiert. So
etwas hatte schon Einfluss.
Erzählerin:
In Spinozas "tractatus" sind Formulierungen zu lesen, die sich ähnlich in Schriften
Knutzens wiederfinden, dass z.B.:
Zitator 2:
... in einem freien Staat jedem erlaubt ist, zu denken, was er will, und zu reden, wie
er denkt.
Erzählerin:
Spinoza betont, dass die Obrigkeit Allen Alles erlauben solle ...
Zitator 2:
... wenn sie niemanden schädigen, jedem das seine lassen und anständig leben.
Erzählerin:
Matthias Knutzen zog daraus die Schlussfolgerung, man könne auf die Obrigkeit
auch ganz verzichten: Anders als Spinoza fordert er keine gute Herrschaft, sondern
gar keine.
Das heißt: Knutzen lebt nicht in einem intellektuellen Elfenbeinturm, sondern setzte
sich mit dem auseinander, was er in Eiderstedt erlebt und während seines Studium
und unterwegs gelernt hatte. Ab 1669 führte er ein unstetes Wanderleben im
Baltikum und in Polen. Darüber ist wenig bekannt. Wissenschaftler vermuten, er sei
in Polen mit Kasimir Korczak Lyszszynski zusammen getroffen, einem Adligen, den
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man 1687 wegen Atheismus zum Tode verurteilt habe. Doch das sind Spekulationen.
Als sicher gilt, dass er zeitweise als Hauslehrer arbeitete und dass er Ende 1673 ...
Zitator 2:
... kahl, nacket und ohne einen einzigen Heller ...
Erzählerin:
... bei seinem Bruder in Eiderstedt ankam, im Städtchen Tönning. Nach einer
aufrührerischen Predigt musste er Eiderstedt bald wieder verlassen. Wieder war er
unterwegs. Sein Ziel war dieses Mal Jena, erzählt Martin Mulsow:
O-Ton 14 Martin Mulsow:
Es kann durchaus sein, dass er sich nicht einmal eine Kutschenfahrt hat leisten
können. Und wie meist die Studenten auch, wenn die von einer Uni zur anderen
gegangen sind, um den Studienort zu wechseln, sind die auch meistens zu Fuß
gegangen. Da hat man sich auch anderen Reisenden angeschlossen. Das konnten
dann Spieler sein, das konnten auch Kriminelle sein, dann aber auch Radikale, aber
klar, man nahm dann die Gesellschaft von der Unterseite her.
Erzählerin:
Dieses prekäre Leben am unteren Rand der Gesellschaft prägte sein Denken –
neben den religiösen Sekten in seiner Heimat, der Religionskritik und der kritischen
Philosophie. Das Wohlstandsgefälle war nach dem 30-jährigen Krieg enorm: Der
armen Masse an Bauern und Handwerkern stand die wohlhabende Minderheit der
Adligen und Kaufleute gegenüber.
Musik
Erzählerin:
Knutzen fand das ungerecht und wollte der Welt, wie er schrieb, eine "andere Bibel"
zeigen, deren Werte ...
Zitator 1:
... alle Menschen in sich führen, nämlich die Vernunft oder das Wissen, doch nicht
eines, sondern vieler Menschen ...
Erzählerin:
Matthias Knutzen glaubte, im kollektiven Gewissen ein Prinzip zu entdecken, das
eine Gesellschaft stabilisieren und organisieren könne. Deshalb nannte er seine
fiktive Atheistensekte auch die "Gewissener".
Zitator 1:
Dieses Gewissen, welches die gütige Natur allen Menschen mitgetheilet hat, vertritt
bey uns die Stelle der Bibel, der Obrigkeit, (denn es ist der wahre und höchste
Gerichtsstuhl) ... denn es lehret uns niemanden zu beleidigen, rechtschaffen zu
leben, und einem jeden das seinige zu geben.
Erzählerin:
9
Die Gottesgläubigen hielten dagegen: Wenn es keinen Gott gäbe, sei alles erlaubt.
Ohne die Angst vor Höllenstrafen täten die Menschen, was sie wollten. Ohne
Gottesglauben drohe moralischer Verfall.
O-Ton 15 Winfried Schröder:
Knutzen vertritt in seinen Schriften die These, Gott existiert nicht; und dennoch ist
keineswegs alles erlaubt, vielmehr gibt es grundlegende moralische Intuitionen –
Knutzen spricht vom Gewissen – es gibt grundlegende moralische Intuitionen, die
jedenfalls praktische moralische Prinzipien betreffen.
Zitator 1:
Thun wir Böses, so wird (das Gewissen) uns statt tausend Henker, ja statt der Hölle
selbst seyn; thun wir aber Gutes, so wird es uns statt des Himmels seyn, und zwar so
lange dieses Leben dauert, außer welchem es kein anderes gibt. Denn dieses
Gewissen wird mit uns geboren, höret aber auch mit uns im Tode auf.
O-Ton 16 Winfried Schröder:
Und es gibt – das ist ein zweiter Gedanke, den ich bemerkenswert finde in dieser
Zeit, wir sind ja im späten 17. Jahrhundert –, es ist der Gedanke, dass wir moralische
Forderungen gegeneinander rechtfertigen müssen. Knutzen drückt sich so aus: Ein
jedes Individuum hat ein Gewissen, das ihm grob eine Richtung für sein Handeln
anzeigt. Darüber hinaus aber gibt es so etwas wie ein kollektives Gewissen: das
Gewissen mehrerer Menschen oder das Gewissen aller Menschen.
Zitator 1:
Denn wir Gewissener unterwerfen uns nicht der Überzeugung und Vernunft eines
einzigen, sondern den meisten, denn ein Mensch kann nicht alles sehen.
O-Ton 17 Winfried Schröder:
Also ein intersubjektiv inhaltlich gefülltes Gewissen. Man sieht daran, dass Knutzens
Rede vom Gewissen, das dem göttlichen Moralgaranten überflüssig macht, nicht
bloß eine Floskel ist.
Erzählerin:
Das Gewissen als innere Instanz – statt äußerer Kontrolle – hatten bereits die
Lutheraner gepriesen. Knutzen nahm diesen Gedanken auf. Er löste das Gewissen
vom Gottesglauben und verstand es als alleinige Instanz, die mit Hilfe der Vernunft
zu einer moralischen Lebensweise anleite. Das heißt für ihn: Um das
gesellschaftliche Leben zu ordnen, bedarf es weder Gott noch der Obrigkeit.
Flugschriften mit derlei revolutionären Gedanken fanden die Honoratioren der Stadt
Jena auf den Kirchenbänken ihrer Stadtkirche am Mittwoch und Donnerstag, den 5.
und 6. September 1674.
O-Ton 18 Winfried Schröder:
Nachdem Knutzen seine atheistischen Flugschriften in Jena verbreitet hat, wurde ihm
natürlich der Boden heiß. Er musste fliehen in die Nähe von Nürnberg. Dort in dem
kleinen Ort Altdorf, der die Universität der Reichsstadt Nürnberg beherbergte, ist er
zum letzten Mal gesehen worden.
10
Erzählerin:
Am 19. September 1674 übergab er einem Schullehrer in Altdorf zwei Exemplare
seiner Flugschriften mit dem Hinweis, die Manuskripte würden Gelächter hervorrufen.
Deshalb solle er sie an die Studenten verteilen. Danach, so ein Gerücht, sei er nach
Italien aufgebrochen.
O-Ton 19 Winfried Schröder:
Ich glaube, es ist nichts dran an diesem Gerücht, denn vermutlich haben Knutzens
Gegner ihn posthum noch diskreditieren wollen, indem sie ihm unterstellten, dass er
am Ende sogar ganz tief gesunken ist, nämlich auf das Niveau des Katholizismus,
und ein Mönch in einem italienischen Kloster wurde. Vermutlich ist nichts daran.
Musik
Erzählerin:
Der Schriftsteller Raoul Schrott behauptet in seinem Buch:
Zitator 2:
"Die Kunst an nichts zu glauben"
Erzählerin:
Er habe einen bisher unbekannten Text mit gleichem Titel in der "Biblioteca
Classense" in Ravenna gefunden. Diese – allerdings vom Lateinischen ins
Italienische übersetzte und bearbeitete Handschrift – trage als Verfassernamen
Matteo Cnuzen, zu Deutsch: Matthäus Knutzen. Dieses Manuskript sei offensichtlich
inspiriert von einem sehr lebensfreundlich wirkenden Mosaik, das Motive einer
endzeitlichen Erlösung zeige, jedoch ohne eindeutige Gottesbezüge. Raoul Schrott
schiebt Knutzen den Satz unter:
Zitator 2:
Hätte mich der allmächtige zu rate gezogen bevor er sich an die schöpfung machte
würde ich ihm etwas einfacheres empfohlen haben – gäbe es gott müsste man ihn
absetzen
Musik
Erzählerin:
Raoul Schrotts fiktiver schriftstellerischer Auseinandersetzung mit Knutzen ging die
Herausgabe seiner Texte durch Winfried Schröder voraus. Und in den 60er- und
70er-Jahren bereits hatten DDR-Wissenschaftler zu Knutzen geforscht.
O-Ton 20 Winfried Schröder:
Man hat in der DDR auch Ausgaben gemacht der Werke von Knutzen, aber auch
einiger anderer Autoren dieses Genres, während in der Bundesrepublik dieses
Segment der Radikalaufklärung so gut wie völlig vernachlässigt worden ist.
11
Erzählerin:
Die Auseinandersetzung mit Knutzens radikalen Thesen hatte – dank der Publikation
seiner Flugschriften zur Abschreckung – bereits Ende des 17. Jahrhunderts
eingesetzt.
O-Ton 21 Winfried Schröder:
Knutzens Schriften wurden nämlich schon sehr früh auch im Ausland rezipiert.
Wichtig ist vor allem, dass der große Multiplikator von Aufklärungsideen in jener
Epoche Pierre Bayle in seinem historischen-kritischen Wörterbuch – das war ein
Grundbuch für die Bildung aller Europäer – dem Knutzen einen Artikel gewidmet hat.
Und in diesem Artikel fokussiert Bayle genau auf diese Position, nämlich auf die Idee:
Auch ein Atheist kann moralisch leben beziehungsweise mehr noch: Gerade ein
Atheist hat moralische Motive, die nicht beeinträchtigt sind durch die Idee, dass es
einen Lohn oder eine Strafe im Jenseits gibt.
Erzählerin:
Auch in der wahrscheinlich 1680 anonym erschienenen und weit verbreiteten
religionskritischen Schrift "Tractat über die drei Betrüger" wird Knutzen zitiert. Mit
diesem "Tractat" setzten sich Mitte des 18. Jahrhunderts die französischen Aufklärer
auseinander. Die moderaten unter ihnen – Voltaire zum Beispiel – verwarfen den
Atheismus, die Radikalaufklärer wie Diderot und Holbach bestätigten ihn. So wurde
es möglich, dass unkonventionelle Denker – ein Rezensent der Neuen Züricher
Zeitung nannte die Beschäftigung mit Radikalaufklärern wie Knutzen "SchrägeVogel-Kunde" – dass solche Denker also auf Umwegen Bedeutung gewinnen. Martin
Mulsow meint:
O-Ton 22 Martin Mulsow:
Ich denke, man greift zu kurz, wenn man nur auf diese klandestinen Texte sieht. Man
muss das, glaube ich, in einer "Ökologie des Geistes" sehen, ähnlich wie die Biologie
die Nahrungskette oder das Nahrungsnetz sieht, wo auch nicht der einzelne kleine
Käfer allein steht, so sind diese klandestinen Texte von Sammlern zum Beispiel
immerhin gesammelt worden. Aber dann konnte es von da aus in die Finger von
einem wirklich interessanten Theoretiker kommen, der daraus viel mehr gemacht hat
als diese schrägen Vögel, wie Knutzen selber, die dann mal so drauf losgehauen
haben, dadurch aber manchmal auch neue Perspektiven entdeckt haben oder
entwickelt haben.
Zitator 1:
Dazu erklären wir, daß es Gott nicht gibt, verachten zutiefst die Obrigkeit und lehnen
auch die Kirchen mitsamt allen Priestern ab.
O-Ton 23 Winfried Schröder:
Diese Kritik ist radikal. Wir können es auch mit einem modernen Begriff sagen, sie ist
anarchistisch.
Musik
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Erzählerin:
Was aus Matthias Knutzen geworden ist, ist historisch nicht eindeutig geklärt. Es gibt
einen Hinweis, dass er im Oktober des Jahres 1674 unter dem Namen Matthias
Donner nach Jena zurückgegangen sei. Tatsächlich aber verliert sich jede Spur von
ihm. Vielleicht lebte er irgendwo unauffällig unter anderem Namen. Vielleicht ist er im
Winter des Jahres 1674/75 irgendwo am Straßenrand gestorben. Vielleicht hat er es
aber doch nach Italien geschafft, um dort weitere radikale Schriften zu verfassen, die
heute in verstaubten Archiven darauf warten, von "Schräge-Vögel-Kundlern" entdeckt
zu werden.
*****
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