PREIS DEUTSCHLAND 4,70 € DIEZEIT Die Mobilitäts-App. WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR 3. MÄRZ 2016 No 11 In dieser Ausgabe: Das neue Magazin ZEIT Doctor Antibiotika: Wann sie wirklich nötig sind – und wann nicht Rückenschmerzen: Operieren oder trainieren? Was Ärzte wirklich denken Titelillustration: Smetek für DIE ZEIT Eine Volkspartei fürchtet das Volk Bei den Landtagswahlen können die Bürger zum ersten Mal über die Flüchtlingspolitik abstimmen. Angela Merkel gibt sich gelassen. Doch gerade das macht die Basis der CDU so nervös. Was die Wahlkämpfer zurzeit erleben, ist für viele von ihnen ein Schock DOSSIER VORWAHLEN IN DEN USA WAHLKAMPF MIT FLÜCHTLINGEN Brutal erfolgreich Die Angst regiert Donald Trump versetzt die Republikaner in Schockstarre. Dabei treibt er deren Politik nur auf die Spitze VON KERSTIN KOHLENBERG J Man nennt das trickle down economics. Es ist nicht gerade ein stolzes Bild, das die Partei da von dem ehemaligen Rückgrat Amerikas malt, der weißen Arbeiterschaft. Eher das von gebeugten Menschen, die am Boden die Krumen aufsammeln. Die Unterschichten-Wähler haben sich daran lange nicht gestört. Die Republikaner hatten es geschafft, liberale Anliegen wie das Recht auf Abtreibung, die Freigabe der HomoEhe oder bessere Waffenkontrolle als bedrohlicher für die Arbeiter darzustellen als die Macht der Reichen. Geräuschlos wurden die Steuern der Reichen gesenkt, die staatlichen Leistungen für die Armen zurückgefahren, die Löhne gekürzt und viele Jobs ins Ausland verlegt. Eben mit diesem Modell hat die Partei den Boden für Trumps brutale Gefühlsoffensive bereitet. Wenn er jetzt sagt: Ich liebe die schlecht AusDem Aufstand der Wähler will die Partei gebildeten, ich werde eure Sozialversicherung einen Putsch entgegensetzen schützen – dann findet Trump bei vielen ArbeiSie waren es, die das wichtigste Werkzeug der tern Gehör. Dass er die Folter wieder einführen demokratischen Politik – den Kompromiss – will und auch die Familien von Terroristen umzerstört haben. Im Kampf gegen Präsident bringen will, stört sie nicht. Es beweist ihnen Barack Obama wollten sie den totalen Sieg. Und eher, dass dieser Mann vor nichts zurückscheut. Die Partei ist in Panik. Allein, es fehlen ihr die so stellten sie sich mit verschränkten Armen in die Ecke und erklärten jeglichen Ausgleich zum Mittel, das Monster, das sie geschaffen hat, zu Verrat. Immer wieder drohten sie damit, die stoppen. Die Republikaner können sich nicht einRegierung zum Stillstand zu bringen, sollte diese mal untereinander auf ein Vorgehen einigen, wie ihren Vorstellungen nicht folgen. Und als jüngst das Schlimmste zu verhindern wäre: eine Kandider republikanische Pragmatiker John Boehner, datur dieses Mannes oder gar seine PräsidentSprecher des Repräsentantenhauses, das Hand- schaft. Sie müssten dazu die Fehler der eigenen tuch warf, jubelte die Partei wie befreit. Warum Politik erkennen, die das Phänomen Trump mögalso soll Donald Trump nun respektvoll und ge- lich gemacht haben. Stattdessen sehen sie schockmäßigt auftreten, wenn seine Partei sich schon starr zu, wie er sie auf den Abgrund zutreibt. Aus dem Undenkbaren ist das Wahrschein seit Jahren in Respektlosigkeit und Blockade gefällt? Trump hat die Politik des Brutalismus nicht liche geworden: dass die republikanischen Wähler Donald Trump in den Zweikampf ums Weiße erfunden, er hat sie nur perfektioniert. Er wendet sie bevorzugt gegen Mexikaner, Haus schicken. Nun macht eine verzweifelte Idee Muslime und Frauen an. Doch auch vor seiner die Runde: ob man nicht im Zweifelsfall die eigenen Partei macht er nicht halt. Er pfeift auf Stimmen der Wähler einfach ignorieren solle, um deren ideologische Vorgaben. Er ist gegen den dann unter Zuhilfenahme komplizierter NomiFreihandel, gegen eine Kürzung der Sozialver nierungsregeln Trump noch auf dem Parteitag sicherungsleistungen, und er kann Planned im Sommer zu verhindern. Dem Aufstand der Parenthood, einem medizinischen Dienst, der Wähler will die Partei einen Putsch entgegen auch Abtreibungen vornimmt, viel Gutes abge- setzen. Trump hat die Partei nicht zerstört, er hat winnen. Trump mischt Brutalismus mit Empa- ihre Selbstdemontage nur vollendet. Irgendwann thie. Dass er damit so erfolgreich ist, treibt die muss sie neu gegründet werden. Am besten bald. Partei zum Wahnsinn. Denn Mitgefühl ist eine Regung, die sie sich schon lange ausgetrieben hat. Siehe auch Wirtschaft, Seite 21: Seit Jahrzehnten wiederholen die Republika- Wie die Ungleichheit Trumps Aufstieg befördert ner gebetsmühlenartig, dass die Arbeiterklasse davon profitiere, wenn es den Reichen gut gehe. www.zeit.de/audio etzt wollen die Republikaner es nicht gewesen sein. Dabei ist Donald Trump nichts anderes als ein Kind seiner Partei. Doch die weigert sich stur, Verantwortung für ihn zu übernehmen. Monatelang hat sie ihrem Intensivtäter wie gelähmt zugeschaut. Er war ihr peinlich, aber sie hoffte, er würde bald von der Bildfläche verschwinden. Mittlerweile jedoch steht der Partei der Angstschweiß auf der Stirn, denn Trump gewann eine Vorwahl nach der anderen und zwang der Grand Old Party seinen brutalen Stil auf (die Wahlergebnisse des Super Tuesday lagen bei Redaktionsschluss noch nicht vor). Dass er nur auf die Spitze treibt, was die Partei ihm vorgemacht hat, wollen die Republikaner nicht wahrhaben. Gabriel entdeckt die Bedürftigen. Keine neuen Schulden, verspricht die Union. Beides verfehlt den Kern des Problems VON MARC BROST K ann man das Richtige sagen und doch alles falsch machen? Sigmar Gabriel kann es, und er beweist es auch jetzt wieder, da er ein Sozialpaket für bedürftige Deutsche fordert. Es stimmt schon: In diesem Land gibt es eine enorme Ungleichheit der Einkommen, Vermögen und Chancen. Manche Menschen glauben, sie hätten von »der Politik« nichts zu erwarten. Und einige dieser Menschen werden deswegen die AfD wählen. Sie mögen frustriert sein. Bloß: Sie sind auch nicht dumm. Wenn der SPD-Chef wenige Tage vor wichtigen Wahlen die Bedürftigen entdeckt, dann dürfte das weniger inhaltlich als taktisch motiviert sein. Dann geht es ihm wohl nicht um die ungerechte Gesellschaft, sondern um die von den Sozialdemokraten empfundene Ungerechtigkeit, in der Wählergunst so miserabel dazustehen. Und außerdem: Wenn das Erstarken der AfD dazu führt, dass die SPD das Soziale stärker betont – warum sollten die Bürger dann SPD wählen und nicht gleich die AfD? Wir stoßen nicht jene ab, die kommen wollen, sondern alle, die bereits da sind Gabriel wird von der Angst getrieben, wie so viele Regierungsmitglieder in diesen Tagen, man erlebt das als Journalist bei fast allen Gesprächen. Es gibt die Angst vor zu vielen Flüchtlingen, die ins Land strömen könnten; die Angst vor einer Niederlage bei den Landtagswahlen; die Angst vor der AfD; die Angst vor einem Auseinanderbrechen Europas; und, ja, auch die Angst vor einem Terroranschlag im Land. Und weil so viel Angst herrscht, konzentriert sich die Regierung auf die Steuerung und Begrenzung des Menschenstroms, auf die Sicherung der europäischen Außengrenzen. Es ist das Signal an die Verunsicherten im Innern. Aber zugleich wächst ein Problem heran, das täglich größer wird. Denn selbst wenn von heute auf morgen keine Flüchtlinge mehr nach Deutschland kämen: Es sind ja immer noch etwa eine Million Flüchtlinge im Land. Und so streiten wir über Grenzkontrollen und die Begrenzung der Zuwanderung – und entziehen uns der Aufgabe, die Menschen zu integrieren, die bereits hier sind. Die Regierung müsse unbedingt den Eindruck vermeiden, dass für die Flüchtlinge Geld da sei, für die Deutschen aber nicht, hat Gabriel gesagt. Dabei steckt schon im ersten Teil Nichts als primitive Reflexe in unseren Debatten! Der Philosoph Peter Sloterdijk wehrt sich gegen seine Kritiker Feuilleton, Seite 39 PROMINENT IGNORIERT dieses Satzes die pure Übertreibung. Denn auch für die Flüchtlinge ist nicht genug Geld da. Wir karren diese Menschen irgendwohin, in Gegenden, aus denen die Deutschen weggehen. Wir stecken sie in Massenunterkünfte, Turn hallen, Lagerhallen. Wir geben ihnen keine Arbeit. Und dann hoffen wir, dass sie sich ruhig verhalten. Noch immer stauen sich beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mehr als 600 000 unerledigte Fälle, und es wird sehr lange dauern, über sie zu entscheiden. Gleichzeitig wird jede noch so kleine Öffnung des Arbeitsmarktes, jede Erleichterung und Unterstützung für Flüchtlinge von den Innen- und Sicherheitspolitikern der Regierungskoalition blockiert – das könnte ja noch mehr Menschen nach Deutschland locken. Aber genau darin steckt ein großer Irrtum: Denn auf diese Weise stoßen wir nicht jene ab, die kommen wollen – sondern alle, die bereits da sind. Und wer so denkt, der muss auch die Symptome einer gescheiterten Integration benennen: Ghettoisierung, Kriminalisierung, Hass. Eine Million Menschen aufzunehmen ist eine gesellschaftliche Ausnahmesituation, die mit normaler Politik nicht zu bewältigen ist. Genau das aber suggeriert die Union. In der Logik von CDU und CSU gelten die Flüchtlinge als Haushalts risiko, gefährden zusätzliche Ausgaben das Ziel der schwarzen Null. Man werde den Deutschen nichts zumuten, nicht einmal höhere Schulden. So lautet Angela Merkels und Wolfgang Schäubles wichtigste Botschaft. Das ist nicht weniger populistisch als alles, was Gabriel sagt. Im Augenblick dreht sich die Debatte allein darum, ob Merkel ihre Flüchtlingspolitik ändern muss und ob aus ihrem Satz »Wir schaffen das« das Eingeständnis wird, es doch nicht zu schaffen. Tatsächlich müsste Merkel sich korrigieren – indem sie endlich klarmacht, was es zu schaffen gilt: mehr Wohnungen, mehr Lehrer, mehr Polizisten, Sprachkurse für Flüchtlinge, Ausbildungsplätze für Flüchtlinge, Studienplätze für Flüchtlinge. Und warum wagen wir in ungewöhnlichen Zeiten nicht ungewöhnliche Maßnahmen, etwa ein Förderprogramm für alle Einheimischen, die Flüchtlinge bei sich zu Hause aufnehmen? Damit wir nicht eine Million neue Hilfsarbeiter bekommen, sondern gut ausgebildete Menschen, die hier eingebunden sind, unsere Sprache können – und unsere Werte kennen. www.zeit.de/audio Schlafgeschichte Die deutsche Möbelindustrie hat ihren Umsatz gesteigert, um 4,3 Prozent im Inland, um 10,5 im Ausland. Die inländische Zunahme des Matratzenverkaufs um 24 Prozent gibt zu denken. Schlafen die Deutschen so fest und schwer, dass ihre Matratzen darunter leiden? »Unsere ganze Geschichte ist bloß Geschichte des wachenden Menschen«, sagte Lichtenberg, »an die Geschichte des schlafenden hat noch niemand gedacht.« GRN. Kleine Bilder (v. o.): Alessandro Gottardo für DIE ZEIT; Harald Braun/Plainpicture; CI2/Plainpicture Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DKR 47,00/FIN 7,30/NOR 61,00/E 5,90/ Kanaren 6,10/F 5,90/NL 5,10/ A 4,80/CHF 7.30/I 5,90/GR 6,50/ B 5,10/P 5,90/L 5,10/HUF 1990,00 o N 11 7 1. J A H RG A N G C 7451 C 11 4 190745 104708
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