Eiertanz um die Bewertung eines Völkermordes

Gedanken zum 24. April, dem 100. Jahrestag der
Armenierpogrome im Osmanischen Reich
Eiertanz um die Bewertung eines Völkermordes
Aus der Erbmasse des Sowjetreiches haben eine Reihe ethnokultureller und geschichtspolitischer Konflikte bis in unsere Tage
überdauert. Für den meisten Zündstoff sorgt derzeit die Ukrainekrise.
Doch auch die Sicht auf die Armenierpogrome von 1915-17 und deren
Bedeutung nicht nur für die türkisch-armenischen Beziehungen ist von
erheblicher Tragweite.
Zunächst zu den Fakten. Am 24. April gedenkt die Republik Armenien
des hundertsten Jahrestages des Beginns der Massentötungen und –
vertreibungen von Armeniern im Osmanischen Reich. Auf Betreiben
der jungtürkischen Bewegung wurde mitten im Ersten Weltkrieg
zunächst die in Istanbul/Konstantinopel beheimatete armenische Elite
verhaftet, ins Landesinnere verschleppt und größtenteils ermordet. Bis
ins Jahr 1917 kam es zu zahlreichen weiteren Deportationen und
Massakern. Auf armenischer Seite spricht man von rund anderthalb
Millionen Toten, während die Türkei deutlich niedrigere Zahlen ins
geschichtspolitische Feld führt. Dort ist von wenigen hunderttausend
Toten die Rede, deren Schicksal vor allem kriegsbedingt gewesen sei
und keinesfalls als „Völkermord“ angesehen werden könne. Doch,
dass es sich damals gemäß internationalen Recht um einen solchen
Genozid gehandelt hat, steht außer Frage.
Diese Haltung ist auch in der deutschen Politik und Medienlandschaft
mittlerweile nahezu unbestritten. Nachdem Papst Franziskus am 12.
April diesen ersten „Völkermord“ des 20. Jahrhunderts überraschend
deutlich kritisiert hatte, kam eine öffentliche Debatte in Gang, die
durch eine Resolution des Europäischen Parlaments vom 15. April
angefacht wurde. In dieser Entschließung wird die Türkei
aufgefordert, den Massenmord als „Genozid“ anzuerkennen.
Hiesige Politiker unterschiedlicher Couleur äußerten sich ähnlich –
von der früheren Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen (BdV),
Erika
Steinbach,
dem
ehemaligen
Minderheitenund
Aussiedlerbeauftragten Christoph Bergner und Norbert Röttgen (alle
CDU), über Markus Meckel (SPD), Cem Özdemir (Grüne) bis zu
Vertretern der Linkspartei. Letztere spricht sich ebenso wie die
Grünen insgesamt dafür aus, den Völkermord an den Armeniern auch
hochoffiziell als solchen zu benennen. Nicht zuletzt wurde
Bundespräsident Gauck zum Ziel türkischer Kritik, nachdem er
angekündigt hatte, sich am 23. April im Berliner Dom an einem
ökumenischen Gottesdienst unter dem Titel „Völkermord an
Armeniern, Aramäern und Pontos-Griechen“ zu beteiligen.
Erinnerungskultur zwischen Empörungsgestus und Realpolitik
Den Widerpart vertreten oder besser gesagt vertraten die Spitzen der
Regierungskoalition von Union und SPD und das Auswärtige Amt.
Hier herrschte noch bis Anfang der Woche die Befürchtung vor, eine
deutsche Einstufung als Völkermord könne zu einer diplomatischen
Eiszeit in den Beziehungen zur Türkei führen. Michael Roth,
Staatsminister für Europa, erklärte, eine Erinnerungskultur könne
nicht „von außen und oben verordnet werden“. Der heikle GenozidBegriff wurde auf Betreiben dieser Kräfte zunächst aus einer
Resolution für die am 24. April geplante Bundestagsdebatte
gestrichen. Mittlerweile ist Angela Merkel und mir ihr die ganze
GroKo umgeschwenkt. Dennoch werden weder die deutsche
Kanzlerin noch Außenminister Steinmeier an der Gedenkfeier in der
armenischen Hauptstadt Eriwan teilnehmen.
Seit Tagen gibt es einen medial lautstark orchestrierten Eiertanz
zwischen Rücksichten auf die Türkei (und die hiesigen Türken)
einerseits und der Anerkennung geschichtlicher Tatsachen und deren
Instrumentalisierung samt hypermoralischem Empörungsgestus
andererseits. Mögliche Folgen für die deutsche Außenpolitik und
Wirtschaft spielen medial kaum eine Rolle, und Fragestellungen
jenseits rot-grün-orange-magentafarbener Gutmenschendiplomatie
lassen sich im öffentlichen Raum kaum vermitteln, zumal der
türkische Präsident Erdoğan auf andere Weise höchst unprofessionell
auftrat. Im Bewusstsein der Zustimmung durch die überwältigende
Mehrheit seiner Landsleute und mit Blick auf den türkischen
Wahltermin 7. Juni bezeichnete er die Äußerungen des Papstes als
„Unsinn“ und behauptete, die Erklärung der Europäischen Union
ginge „bei uns zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus“.
Tatsächlich belastete er damit die EU-Beitrittsabsichten seines Landes
abermals schwer. Weitere Provokationen aus Ankara folgten. So lud:
Erdoğan ausgerechnet für den 24. April, jenem Tag also, an dem viele
hochrangige
westliche
Staatsoberhäupter
wie
Frankreichs
Staatspräsident Hollande am zentralen armenischen Gedenken in
Eriwan teilnehmen, zu einer großen Feier zur Erinnerung an die
siegreiche Schlacht von Gallipoli gegen die Ententemächte im Ersten
Weltkrieg ein. Ministerpräsident Davutoğlu warf dem Oberhaupt der
katholischen Christenheit vor, Teil einer „Verschwörung“ gegen die
Türkei zu sein und mit seinen Äußerungen zum „steigenden
Rassismus in Europa“ beizutragen.
Markige Sprüche türkischer Spitzenpolitiker gegen Papst und EU
Derselbe Davutoğlu sprach den Hinterbliebenen der Massaker dann
am 20. April hochoffiziell sein Mitgefühl aus. Wie wenig dieses
diplomatische Signal jedoch Ausdruck eines in der türkischen
Gesellschaft tiefer verankerten Umdenkungsprozesses ist, mag man an
einem
Zitat
aus
der
wichtigen
Tageszeitung
Hürriyet ermessen. Dort ware nur zwei Tage später Folgendes zu
lesen: „Die Wahrheit ist (…): Die armenischen Banden wurden von
den europäischen Staaten angestachelt und bewaffnet und begingen
Gräueltaten und Massaker an den anatolischen Türken und
Kurden. Die Türken gingen in die Verteidigung. (...) In den
Gefechten kam es auf beiden Seiten - zu Recht oder zu Unrecht zu Toten und Ermordeten. Kurz gesagt: Armenier haben auch
Türken umgebracht und Türken Armenier. Der größte Fehler
der Armenier: Kein Staat im Kriegszustand kann es verzeihen, wenn
seine Bürger sich mit dem Feind verbünden und dem Land,
in dem sie leben, in den Rücken fallen. (...) Die Armenier haben sich
leider mit den Russen verbündet und den Osmanen in den
Rücken gestoßen."
Als spezifisch deutscher Zugang zum Thema lässt sich die
insbesondere von Grünen-Politikern und Mainstream-Medien
aufgegriffene Frage einer Mitverantwortung oder gar Mitschuld
reichsdeutscher Stellen an den Armenierprogromen nennen. Als
Rechtsnachfolgerin des Kaiserreiches, das eng mit dem Osmanischen
Reich verbündet war, stehe man „in der Mitverantwortung“, betonte
Grünen-Vorsitzender Özdemir. Tatsächlich gab es amtliche
Anweisungen aus Berlin, die den gut informierten militärischen
Instrukteuren vor Ort strikt untersagten, in den Prozeß der
Auslöschung der Armenier „als innerer Angelegenheit“ des
Osmanischen Reiches einzugreifen.
Doch zur ganzen Wahrheit gehört auch, und das bleibt im öffentlichen
Raum unausgesprochen, dass Großbritannien, Frankreich und
Russland damals rein zufällig auf der richtigen, „humanitären“ Seite
gestanden haben (in dem Bemühen um die türkische Waffenhilfe hatte
man 1914 jedenfalls noch bis zuletzt mit Berlin gerungen) und
folgenlos schön klingende Warnungen wie die vom 24. Mai 1915
aussprechen konnten, wonach alle für die Massaker verantwortlichen
türkischen Stellen „persönlich verantwortlich“ gemacht würden. Was
davon zu halten war, merkten die Armenier spätestens nach 1918: Aus
Rücksicht auf die Beziehungen zur neuen Türkei Kemal Atatürks
verzichteten die Siegermächte auf eine massive Bestrafung der Täter,
und im Frieden von Sèvres von 1920 wurde West-Armenien unter
türkischer Herrschaft belassen.
Blaupause für andere Vertreibungsverbrechen
Weitere, aus nationaler deutscher Sicht wesentliche Aspekte des
Themas bleiben ebenso außen vor. Wenn zum Beispiel daran erinnert
wird, in welchem Maße die Massenmorde und -vertreibungen der
Armenier als Blaupause für andere ethnische Säuberungen im 20.
Jahrhundert dienten, dann bleiben die offenkundigen Analogien zu den
Millionen deutschen Vertriebenen und Flüchtlinge aus den
Ostgebieten und dem gesamten ostmittel- und südosteuropäischen
Raum regelmäßig außerhalb der Betrachtung. Und auch andere
wichtige Verbindungen zwischen dem armenischen und dem
deutschen Kulturraum finden aktuell bezeichnenderweise kein
Augenmerk, insbesondere die Bewunderung, die in dem
Kaukasusland bis heute Franz Werfel, dem österreichischen Verfasser
des Genozid-Romans „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, sowie dem
evangelischen Theologen und Orientalisten Johannes Lepsius zuteil
wird, der sich eingehend mit der Geschichte des armenischen Volkes
befasste. Mit beiden ließen sich weit über tagespolitische Debatten
hinausgehende freundschaftliche Bindungen stärken. Doch solcherart
Völkerverständigung ist offenbar nicht angesagt, weder bei den rotgrünen Gutmenschen noch in den Mainstream-Medien.
Darüber hinaus könnte man über die wirkungsvolle Rolle der zwar
kleinen, aber umso aktiveren armenischen Diaspora nachdenken.
Denn ohne deren publizistische und organisatorische Vorarbeit, die zu
Anerkennungen des Völkermord-Tatbestands zum Beispiel in
Frankreich führte, wäre die aktuelle Aufmerksamkeit für diesen 100.
Jahrestag mit Sicherheit deutlich geringer. Demgegenüber gehört es zu
den Bürden deutscher Politik im 20. und 21. Jahrhundert, dass das
Land im Herzen Europas zwar seit dem 18. Jahrhundert eines der im
Weltmaßstab größten Auswandererländer ist, ohne diese globale
Präsenz allerdings nennenswert auf der Habenseite auswärtiger
Kulturpolitik oder gar der eigenen Außenpolitik verbuchen zu können.
Aber das ist ein ebenso ein weites Feld wie die an den ArmenienDiskussionen erkennbaren Veränderungen der machtstrategischen
Stellung des einst so geschätzten Nato-Partners Türkei. Dieser muß
sich und wird sich im Gefolge der Aufwertung der Kurden für die USMilitärpolitik, der zwielichtigen Einstellung Ankaras zum Islamischen
Staat bzw. anderen sunnitischen Terrorgruppen und angesichts des
russischen Werbens (vor allem über das Pipeline-Projekt „Turkish
Stream“) im internationalen Koordinatensystem neu verorten. Ob das
langfristig dann die traditionell eng mit Russland verbundenen
Armenier ebenso tun, bleibt abzuwarten.
Martin L. Schmidt
Der Verfasser leitet einen von kurzem gegründeten „Arbeitskreis für Völker, Kulturen und
Regionalismen in der Alternative für Deutschland – VKR“; Kontakt: Martin L. Schmidt,
Postfach 1125, 76849 Annweiler