Ernst Christoph Suttner Die armenische Kirchengeschichte - eine Geschichte unter dem „lebenspendenden Kreuz“ In schier unerschöpflichem Erfindungsreichtum schmückten die armenischen Künstler das Kreuz Christi aus. Wer die Freude haben darf, durch Armenien zu reisen, oder wer anhand von Abbildungen mit den reich ausgestalteten Kreuzsteinen der armenischen Bildhauer bekannt wird, ist betroffen von der Selbstverständlichkeit, mit der unsere armenische Schwesterkirche das Kreuz als ein Zeichen des Lichts und der Freude verkündet. Die armenischen Kreuzsteine sind ein in Stein gehauener Kommentar zu den Paulusworten des Korintherbriefs. „Ich hatte mich entschlossen, bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten. Denn das Wort vom Kreuz ist denen, die verlorengehen, Torheit; uns aber, die gerettet werden, ist es Gottes Kraft. Es heißt nämlich in der Schrift: Ich lasse die Weisheit der Weisen vergehen und die Klugheit der Klugen verschwinden. Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen und das Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“ (1 Kor 2,2; 1,18-19.25). Die kunstvollen Kreuzsteine wollen nichts beschönigen, sondern stellen dem Betrachter eindringlich das Holz vor Augen, an dem unser Herr sein Leiden in tiefer Bitternis ertrug. Zugleich aber reden sie vom Segen und von der Kraft des Duldens, wodurch das Kreuz, das ein Werkzeug des Untergangs zu sein scheint, in Wirklichkeit zum Zeichen der Hoffnung und Auferstehung wurde. Damit sind diese Kreuzsteine auch eine Kurzfassung der armenischen Geschichte. Denn das armenische Volk, das seit den Erdentagen unseres Herrn Jesus Christus nie zu den Großmächten zählte, sich nur zeitweise als ein von Weltmächten bedrängter Kleinstaat der politischen Unabhängigkeit erfreute und jahrhundertelang überhaupt schutzlos der Willkür fremde Eroberer ausgesetzt war, hat seinen Bestand gewahrt dank seines Glaubens an Christus und dank des Umstands, daß es sich nach schweren Leidensperioden immer wieder neu erhob. Es ist uns, der Kirche von Wien, eine Ehre, daß heute in Eurer Heiligkeit der oberste Repräsentant des so sehr vom Kreuz und vom Leben, das aus dem Kreuz stammt, gekennzeichneten armenischen Volks zu uns kam. Krisen, die im vergangenen Jahr zehnt die Welt erschütterten, haben bei vielen Menschen das unkritische Vertrauen auf eine fast unbegrenzte Machbarkeit der irdischen Verhältnisse zum Wanken gebracht. Ihr Besuch sei uns ein Anlaß, nach der geschichtlichen Erfahrung mit dem Leiden zu fragen, die Ihr Volk besitzt. Kraft zum Bestehen Noch im 4. Jh., als Armenien sich als ganzes Land dem Christentum zuwandte, wurde es zum erstenmal aufgeteilt zwischen den beiden damaligen Weltmächten Byzanz und Persien. Die Autonomie, die dem Volk im persischen Bereich zunächst noch verblieb, ging einige Jahrzehnte später ebenfalls zu Ende. Im Jahr 451, in dem die Kirche des von Byzanz aus beherrschten Reichs das uns um seiner verdienstvollen Aspekte willen ehr- S würdige, aber leider auch von negativen Beitönen verunzierte Konzil von Chalkedon abhielt, scheiterte in einer heldenmütigen und blutigen Abwehrschlacht der Versuch i der Perser, den ihnen botmäßigen Armeniern die Identität zu nehmen und sie zu einem 1 Bestandteil der mazdaistischen persischen Staatsnation umzuformen. Die Armenier, unterlagen in der Schlacht, und auf Jahrhunderte hin mußten sie sich mit persischer, byzantinischer und später arabischer Fremdherrschaft abfinden. Doch die Erinnerung an die armenischen Helden, die 451 lieber in den Tod gingen, als daß sie sich nach dem Verlust der politischen Freiheit auch noch geistig hätten knechten lassen, war den kommenden Generationen ein bleibendes Vermächtnis. Ihr Opfer war von größter Wirkung, obwohl es keinen Sieg auf dem Schlachtfeld herbeiführte und deswegen die Herrschaftsverhältnisse in Armenien nicht ändern konnte. Es gab nämlich dem Widerstandswillen des Volkes Auftrieb. Unter dem hl. Gregor dem Erleuchter hatte dieses Volk sich zu Beginn des 4. Jh.s die Religion des Kreuzes zu eigen gemacht. Die Bekehrung Armeniens zum Christentum war ein überwältigender Aufbruch gewesen. Zwar war das Christentum auch vorher im Land schon verbreitet, aber nur als eine unter anderen geistigen Strömungen. Zur Zeit Gregors wurden die öffentlichen Kultstätten des Landes umgewandelt in christliche Gotteshäuser und die Priesterschaft, die bisher dort Dienst tat, für den Dienst Christi gewonnen. Korporativ brachte Gregor der Erleuchter sein Volk in die Kirche ein. Dies führte zur intensivsten bewußtseinsmäßigen Verknüpfung zwischen dem Armenier-Sein und dem Christ-Sein und gab den Armeniern die Kraft, aller Machtüberlegenheit der mazdaistischen Perser - später der islamischen Eroberer - zum Trotz ihre christlich-armenische Identität zu wahren. Der große hl. Gregor, der zum ersten bischöflichen Oberhaupt der neu organisierten Armenischen Kirche geweiht wurde, machte das Oberbischofsamt zunächst in seiner Familie erblich. Es gab große Gestalten unter seinen Nachkommen, so seinen Enkel, den Bischof Nerses den Großen, der die Anliegen seines Großvaters voll aufzugreifen verstand und in den letzten Jahrzehnten des selbständigen armenischen Königreichs Reformsynoden durchführte, durch welche die Annahme des Christentums in ganz Armenien zum Abschluß geführt werden konnte. Dessen Sohn Sahak, der im schon zweigeteilten Armenien für die Kirche zu sorgen hatte und der die ersten Verfolgungsmaßnahmen des persischen Staats gegen die Armenische Kirche miterlebte, erlangte größtes Gewicht, weil unter ihm und mit ihm der Mönch Mesrop Machtotz den Armeniern das Alphabet schenkte. Die sogenannte goldene Epoche der armenischen Literatur setzte ein. Die Heilige Schrift und die gottesdienstlichen Texte wurden ins Armenische übersetzt. Das armenische Volk, das unter Gregor das Christentum zu seiner geistigen und geistlichen Bastion gewählt hatte, konnte nun in jeder Hinsicht eine armenische Form des Christ-Seins ausbilden, denn das Beten, Predigen und theologische Reflektieren war ihm fortan in der eigenen Sprache möglich. Sahak und Mesrob verstanden es in einer Zeit politischer Abhängigkeit von den Großmächten, eine Gruppe junger Männer zu gediegener Bildung führen zu lassen und durch sie den politisch unterdrückten Armeniern den Weg zur Freiheit des Geistes zu weisen. Die von Sahak und Mesrop geformte geistige Elite schuf armenische Übersetzungen der wichtigsten griechischen und syrischen theologischen Schriften ihrer Zeit. Manche Väterschrift, die im Original verloren ging, wurde so der Christenheit auf Armenisch gerettet. Auch eine Reihe armenischer Originalwerke entstand. Die Herausgeber der deutschsprachigen Bibliothek der Kirchenväter hielten es für angebracht, zwei Bände ihrer Reihe für die Publikation deutscher Übersetzungen von Predigten und katechetischen Schriften aus der goldenen Epoche der armenischen Literatur zu verwenden. Vor allem aber schufen die Schüler Sahaks und Mesrops eine reiche Geschichtsschreibung, die in der Folge bis auf den heutigen Tag für alle Generationen der Armenier das Bewußtsein lebendig erhielt, daß sie ihr Armenier-Sein nur wahren können, wenn sie sich durch keine Fremdherrschaft die geistige Freiheit nehmen lassen, sondern Christen bleiben. Während zweier Perioden, die, gemessen an den Jahrhunderten, welche zwischen der Zeit Sahaks und unseren Tagen verflossen sind, sehr kurz erscheinen, hatten die Armenier die politische Selbständigkeit wiedererlangt. Im 9. Jh. konnten die Bagratiden einen unabhängigen Staat gründen, und in der Kreuzfahrerzeit bestand ein Armenierreich in Kilikien. Mächtige Nachbarstaaten bereiteten der armenischen Freiheit wieder ein Ende, und das armenische Volk durchlebte wechselnde Fremdherrschaft und Unterdrückung, Einfälle fremder Heere mit Plünderung und Mord, Deportationen und Flucht, Emigration wegen bedrückender Not und - die furchtbaren Ereignisse in Anatolien vor und während des 1. Weltkriegs schreien zum Himmel! - Massenmord an der Einwohnerschaft ganzer Distrikte. So hart war das Schicksal dieses Volkes, daß man sich vor Menschen, die seine Geschichte nicht kennen, fast davon zu reden scheut. Denn man läuft Gefahr, daß als Übertreibung erscheint, was doch wahrheitsgetreuer Bericht ist. Es verdient Bewunderung, daß es dieses kleine Volk überhaupt noch gibt nach den vielen Jahrhunderten, in denen es sich schon glücklich schätzen mußte, wenn die Machthaber es nur tolerierten und ihm wenigstens für eine gewisse Zeit erlaubten, sozusagen auf der Schattenseite der Weltgeschichte friedlich zu leben und zu arbeiten, denn nur allzu oft wurde ihm selbst das verweigert. Es ist ebenso erstaunlich, daß die überall in der Welt verstreuten Armenier, deren Emigration aus der angestammten Heimat zum Teil vor 6 bis 9 Jh.en, zum Teil an der Wende vom 19. zum 20. Jh. erzwungen wurde, bis heute den Willen nicht aufgaben, Armenier zu sein und zu bleiben. Was ein Volk als mächtige Nation in die Geschichtsbücher einführen könnte: große Zahl, ausgedehnte Reiche, imperiale Politik, haben die Armenier nicht aufzuweisen. Sie beweisen aber, daß ein Volk auch dann stark und damit wirklich groß sein kann, wenn es sich die Freiheit wahrt, auch in ärgster Not und unter harten Opfern an einer großen Idee festzuhalten. Machtpolitikern, die sich als die großen „Macher“ der Geschichte vorkommen, mag dies töricht erscheinen, denn sie sehen im Opfer nur Untergang, und nur das Herrschen halten sie für Sieg. Aber die Armenier, die nicht nur das Aufrichten mehrerer Weltreiche miterlebten und darunter jedesmal zu leiden hatten, sondern auch den Niedergang der Machtgebilde überdauerten und sich nach den Opfern ungebrochen neu organisierten, sind ein lebendiger Beweis, daß das, was schwach aussieht in den Augen kurzsichtiger Menschen, sich als das eigentlich Starke erweist. So sind wir zurückgekehrt zu den Paulusworten am Anfang, die aufforderten, im Kreuztragen Gottes Kraft zu erkennen. Wir sehen, wie sehr es angebracht ist, beim Ausdeuten der armenischen Geschichte die großartigen Kreuzsteine der armenischen Bildhauer als Schlüssel zu verwenden. Denn sie ist eine Geschichte des siegreichen Erdulden aufgrund innerer geistiger Freiheit, welche sich auch vor der blutigen Tyrannei nicht beugte und deswegen am Ende immer Bestand haben konnte. Sie ist in der Tat eine Geschichte unter dem „lebenspendenden Kreuz“, wie die Dichter der östlichen Kirchen die widersinnig erscheinende Siegeskraft des Erduldens in einem Paradoxon auszudrücken lieben. An der armenischen Geschichte zeigt sich, daß das Kreuz Kraft gibt zum Bestehen und Licht des Friedens ist, wenn im Namen des Schöpfer- und Erlösergottes der Weg der Gewaltlosigkeit gewählt wird. Mir scheint, das kleine neutrale Osterreich in seiner beengten Lage zwischen zwei Militärblöcken sollte in einer Zeit weltweiter Angst vor weiteren Militärinterventionen der Großmächte ernsthaft die historische Erfahrung studieren, welche die Armenier aufgrund ihrer entschiedenen Verankerung im Christentum mit der Kraft des Duldens erwarben. Kraft zum Vermitteln Schon Katholikos Sahak, der mit Mesrop Machtotz die erste literarische Blüte einleitete, mußte für ein Armenien sorgen, das zweigeteilt war zwischen verfeindeten Großmächten mit unterschiedlichen Ideologien. Dies muß bedenken, wer Sahaks Größe erfassen will. Denn ihm gelang es nicht nur, das Zusammengehörigkeitsbewußtsein der getrennten Armenier zu erhalten; er konnte seinem Volk sogar in dieser schwierigen Situation helfen, den für die weitere Selbstbehauptung erforderlichen kulturellen Aufstieg einzuleiten. Ohne Schutz und finanzielle Hilfe durch einen mächtigen König aus dem eigenen Volk mußte er ans Werk gehen. Er mußte also überzeugen, denn es gab keine Staatsmacht, die notfalls mit „sanftem Druck“ das Kulturwerk gefördert hätte. Im Gegenteil, er mußte überdies Sorge tragen, daß die mißtrauischen Fremdherrscher nicht Gefahr witterten und keine Gegenmaßnahmen ergriffen. Ohne Zweifel erforderte dies außergewöhnliche Tatkraft und Klugheit. Seine Nachfolger waren in ähnlicher Situation, denn seit Sahaks Tagen waren die Armenier zwischen Staaten verschiedener Orientierung aufgeteilt. Rivalitäten um die Vorherrschaft über Armenien trug zunächst das christliche Byzanz aus mit dem mazdaistischen Persien, dann mit dem islamischen Kalifat, schließlich mit ebenfalls islamischen Turkvölkern. Die Armenier wurden einbezogen in die Auseinandersetzungen der Kreuzfahrer mit ihren Gegnern. Des Weiteren standen sie zwischen den Fronten in den Rivalitäten zwischen islamischen Turkvölkern und schamanischen Mongolen, sowie in jenen zwischen den sunnitischen Osmanen mit den schiitischen Persern, bzw. später mit dem orthodoxen russischen Zarenreich. Auch in den beiden Perioden armenischer Eigenstaatlichkeit stand es nur wenig besser, denn jeweils war ein großer Teil des armenischen Volkes jenseits der Grenzen dieser Staaten unter fremder Herrschaft verblieben, und der Katholikos mußte sich auch die Sorge für sie angelegen sein lassen. Dazu galt es, die Nachkommen der Emigranten und Deportierten im Blick zu behalten, die fern der Heimat Armenier blieben und ihr Kirchenwesen unter ganz anderen Bedingungen als die zu Hause Gebliebenen gestalten mußten. Es war ein hartes Kreuz für die Inhaber des höchsten Amts in der Armenischen Kirche, unter solchen Bedingungen dienen zu müssen. Wir verstehen sehr wohl, daß es nicht leicht war und nicht immer gelang, die organisatorische Einheit der Armenischen Kirche bruchlos zu wahren. Doch in der jahrhundertelangen Schule des Kreuzes erwarb das Armenische Katholikosat Erfahrung und Kraft zum Vermitteln und konnte trotz aller Sachzwänge, die Spaltungen unvermeidbar zu machen schienen und sie bisweilen auch verursachten, stets neu den Ausgleich und die Versöhnung finden. Es verdient die volle Bewunderung der Historiker, daß die armenische Nation dank der Kirche und dank dem Wirken der häufig hart bedrängten, aber in der Bedrängnis immer wieder vom herniedergestiegenen, gekreuzigten und auferstandenen Gottessohn gestärkten Nachfolger des hl. Gregors des Erleuchters bis in unsere Tage geeint bleiben konnte. Diese Feststellung sei Anlaß zu einem kurzen Wort der Würdigung für die Tätigkeit unseres hohen Ehrengastes, S. H. Vasken 1., des Obersten Patriarchen und Katholikos aller Armenier. Seine Heiligkeit wurde in Rumänien geboren, in einem Land, in dem es nachweislich seit weit über einem halben Jahrtausend blühendes armenisches Gemeindeleben gibt. Nach einem Studium an der Universität Bukarest wurde er zunächst Lehrer an einer armenischen Pfarrschule. Während des 2. Weltkriegs wurde er zum Priester geweiht und nach dem Krieg zum leitenden Geistlichen der armenischen Diözese seiner rumänischen Heimat berufen. 1951, also heuer vor 30 Jahren, erteilte ihm Katholikos Georg VI. von Etschmiadzin die Bischofsweihe. Nach dem Tod dieses Katholikos wurde er, ein Sohn der armenischen Diaspora, 1955 zu dessen Nachfolger gewählt. Mit großem Erfolg machte sich der neue Katholikos daran, in einer Welt, die von der Konfrontation des Kalten Kriegs gekennzeichnet war, die Verbindungen auszubauen mit den Armeniern in aller Welt. Wenngleich die Kirche nicht von dieser Welt ist, so lebt sie nichtsdestoweniger in dieser Welt, und Seine Heiligkeit hatte wie die Vorgänger mit den politischen Gegebenheiten zu rechnen. In Ländern beider Machtblöcke, die im Kalten Krieg gegeneinander standen, gab es Diözesen seiner Kirche, ebenso in Drittländern, die beiden Blöcken mit Vorsicht zu begegnen suchten. Eine alte Tradition fortsetzend, diente Seine Heiligkeit in geduldiger Vermittlerfunktion dem friedlichen Ausgleich. Es gelang ihm auf zahlreichen Auslandsreisen, die armenischen Diözesen in aller Welt trotz der tiefen ideologischen, politischen und wirtschaftlichen Gegensätze unserer Zeit so eng zusammenzuführen, wie dies vor seinem Amtsantritt über eine lange Periode nicht mehr gewesen war. Wenn Seine Heiligkeit immer wieder die Stimme erhebt, um zum Frieden aufzurufen, sollen wir gut hinhören, denn seine Worte sind durch Taten gedeckt. Hier in Wien, am Sitz der Generalabtei der Mechitharisten und im Rahmen eines Festakts von PRO ORIENTE, sei in diesem Zusammenhang eigens hervorgehoben, daß Seine Heiligkeit auch mit den mit Rom unierten Armeniern das brüderliche Einvernehmen sucht. Wir wissen sehr wohl um die dornigen Fragen, die mit den Teilunionen verknüpft sind. Deshalb möchten wir nicht versäumen, dankend hervorzuheben, daß Seine Heiligkeit mit den heute lebenden unierten Armeniern ein gutes Auskommen sucht, obgleich er verständlicherweise das Vorgehen ihrer Väter, die die Union abschlossen, nicht billigen kann. Ein großes Aufbauwerk hat Seine Heiligkeit auch für die Kirche in der Republik Armenien vollbracht. Er ist, obwohl aus der Diaspora kommend, in der Tat zum Bischof der Seinen in der alten Heimat geworden. Kirchenrenovierungen, Sorge für den Ausbau der theologischen Bildung seines Klerus und Eifer für die Publikation theologischer Literatur sind kennzeichnend für ihn, und die kirchliche Nationalversammlung hat ihm den Titel“ Erbauer“ verliehen. Es sei mir als einem Ausländer verziehen, wenn ich den vollen Umfang dieser Tätigkeit weder zu ermessen, noch recht zu würdigen verstehe. Nur dies möchte ich nicht zu vermerken unterlassen, daß wir Mitglieder des Vorstands und des Kuratoriums von PRO ORIENTE bei unserer Reise im vergangenen Jahr sehr beeindruckt waren von dem, was wir in Etschmiadzin und Erevan sahen. Kraft zum Versöhnen Erlauben Sie mir, auf das noch zu sprechen zu kommen, was mich seit Jahren, seitdem ich mich mit der Armenischen Kirche beschäftige, am meisten beeindruckt, nämlich mit ihrer großen Befähigung zur Synthese. Kreuztragen macht demütig- „dien-mütig“: es gibt Mut zum Dienen; es verhindert die Versteifung auf sich allein. So hat das harte Geschick die Armenier bewahrt vor jener Selbstüberheblichkeit, die den großen Nationen droht, weil diese nur allzu leicht meinen, sie müßten selber ausarbeiten, was ihnen gut tut. Bei anderen in die Schule gehen und aufgreifen, was dort Gutes erarbeitet wurde, kann nur, wer sich nicht selbst als das Maß betrachtet. Schwach, wie sie als kleine und unterdrückte Nation waren, nahmen die Armenier dankbar jede gute Anregung und Hilfe auf, die sie bei ihren Nachbarn fanden; sie hatten den Mut, dies hinzunehmen zu ihrem eigenen Erbe und erwiesen sich so als die wahrhaft Starken. Es wäre nötig, die Liturgie-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte der Armenischen Kirche im einzelnen durchzugehen und würde den Rahmen des Vortrags sprengen, wenn ich anhand von Fakten darstellen wollte, in welchem Ausmaß die Armenier zu allen Epochen ihrer Geschichte offen und zur Synthese bereit waren. So mag die Feststellung genügen, daß alle Kirchen, die im Lauf der Kirchengeschichte in näherer Berührung mit den Armeniern standen, im heutigen Erbe der Armenischen Kirche Elemente finden, die von ihnen her dorthin gelangten. Doch sind keineswegs mechanische Übernahmen erfolgt, bei denen die armenische Kirche einer Überfremdung erlegen wäre. Vielmehr handelt es sich in der Regel um ein echtes integrieren der empfangenen Anregungen in das armenische Erbe. Die so sehr vom Dulden geprägte Armenische Kirche bildete im Lauf der Jahrhunderte eine besondere Fähigkeit zur Integration und Synthese aus und kann uns - so möchte ich meinen - im Zeitalter des Ökumenismus eine gute Wegweiserin sein, wie unsere Kirchen, die sich über Gebühr lange in Selbstgenügsamkeit voneinander abgrenzten, einander offen begegnen und voneinander empfangen können, ohne Angst haben zu müssen, daß sie dabei ihre Identität verlieren. An vielen großen Gestalten der armenischen Geschichte läßt sich die segensreiche Wirkung der armenischen Fähigkeit zur Synthese aufzeigen. Denken wir etwa an den großen armenischen Dichtermönch, den hl. Gregor von Narek, über den Eure Heiligkeit in Bukarest in der Sprache des Landes Ihrer Jugendjahre einen Aufsatz veröffentlichte1 und darin herausstellte, daß im reifsten Werk Gregors der Einfluß arabischer Dichter spürbar ist. Gerade für dieses Werk aber wuchs Gregor von Narek den Armeniern besonders ans Herz, weil sie noch immer gerne mit Texten daraus beten. Oder denken wir an Ihren großen Vorgänger, den Katholikos Nerses Schnorhali, der im 12. Jh. beim Reden über die Unterschiede zwischen den Kirchen zu einer versöhnlichen Theologie fähig war, die wir im Zeitalter des Ökumenismus als Vorbild vorstellen können2. Oder denken wir auch an den Diener Gottes Mechithar von Sebaste, der den Armeniern ein gewaltiges Werk schenkte, weil er über die Grenzlinien hinweg nach einer Synthese suchte3. Oder denken wir an die vielen armenischen Gelehrten, Künstler und Kaufleute der Diaspora, die Armenier blieben und zugleich zu Förderern des geistigen und wirtschaftlichen Lebens ihres Gastlandes wurden. Was ich eben anführte, ermutigt 1 Vasken I., Patriarhul Suprem şi Catolicos al tuturor armenilor, Viaţá şi opera sfintului Grigorie din Nareg, in: Ortodoxia 19 (1967) 166-181. 2 Vgl. unsern Beitrag: Eine „ökumenische Bewegung“ im 12. Jh. und ihr bedeutendster Theologe, der Armenische Katholikos Nerses Schnorhali, in: Kleronomia 7 (1975) 87-97. 3 Vgl. V. Inglisian, Der Diener Gottes Mechithar von Sebaste, Wien 1929. mich, mit einer Bitte an Eure Heiligkeit zu schließen. PRO ORIENTE erlebte die Freude, daß hier in Wien Theologen der Altorientalischen Kirchen und der Katholischen Kirche in fruchtbaren inoffiziellen Gesprächen zur Überwindung der alten Barrieren zwischen unseren Kirchen beitragen konnten. Die Theologen kamen zur Auffassung, daß auf inoffizieller Ebene bereits hinreichende Vorarbeiten vorliegen, um nun die Kirchen als solche zu fragen, wie die Synthese weiter vorangebracht werden könne. In geziemender Weise bitten wir darum Eure Heiligkeit als den obersten Repräsentanten der durch jahrhundertelanges Ausharren am „lebenspendenden Kreuz“ zur Integration und zur Synthese so sehr befähigten Armenischen Kirche um die besondere Mithilfe, daß bald durch offizielle Schritte der Kirchen weitergeführt werde, was verheißungsvoll bei den Theologen begann. Eure Heiligkeit hat viele ökumenische Initiativen gesetzt. Der Beitritt der Armenischen Kirche zum ökumenischen Rat erfolgte in Ihrer Amtszeit; verschiedene ökumenische Gremien Ihrer Kirche wurden von Ihnen berufen; mit Freude erinnern wir uns Ihres Zusammentreffens mit Papst Paul VI. im Jahr 1970; an der Vorbereitung und am Gelingen der erwähnten Wiener Theologengespräche der Jahre 1971-1978 hatten Repräsentanten Ihrer Kirche jedesmal großen Anteil. Wenn Eure Heiligkeit als der Vorsteher einer Kirche, die durch das Auskosten des Kreuzes große Kraft zum Versöhnen erlangte, sich jenes Versöhnungswerks zwischen unseren Kirchen, das in Wien begonnen hat, besonders annimmt, fassen wir neuen Mut. Denn auf das Kreuz ist die Kirche gegründet, und ein Ökumenismus, der aus dem Kreuztragen befruchtet wird, kann gelingen. Gedruckt in: Veritati in caritate : der Beitrag des Kardinals König zum Ökumenismus / herausgegeben im Auftrag des Stiftungsfonds Pro Oriente, Wien, von Theodor Piffl-Percevic und Alfred Stirnemann. Innsbruck, Tyrolia, 1981, S. 197-203.
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