Rape - 6. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2015

Rape
6. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2015
Nadine Kimak
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Mein Kopf dröhnte. Ich öffnete vorsichtig meine Augen. Um mich herum war alles
schwarz. Ich schloss die Augen und öffnete sie gleich wieder. Alles schwarz. Es
war kein Traum. Mir war übel und ich fühlte mich schlapp. Ich kroch langsam in
eine Richtung, um meine Umgebung abzutasten. Ich konnte nicht aufstehen. Ich
fühlte mich zu schwach. Der Boden was aus Beton und eiskalt. Dann endlich
eine Wand. Auch aus Beton. Ich taste mich weiter, um ein Ende des Raums zu
finden. Meine Augen fingen an sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und langsam
konnte ich mich immer sicherer auf den Knien fortbewegen. Plötzlich veränderte
sich das Material der Wand. Es fühlte sich an wie Holz. Eine Tür. Sofort fing ich
an auf die Türklinke einzuhämmern. Nichts. Die Tür war verschlossen. Nach und
nach fühlte ich mich etwas besser. Langsam kam ich zu mir. Ich versuchte mich
auf meine Füße zu stellen, musste mich aber an der Wand abstützen. Neben der
Tür erspürte ich einen Lichtschalter. Ich drückte ihn ohne zu zögern. Der erste
Lichtblick. Die Glühbirne funktionierte. Das düstere Licht erhellte den Raum. Ich
blickte mich um. Betonwände, Betonboden, eine alte Matratze und an einer
Wand ein kleines, vergittertes Fenster. Ich wollte zu dem Fenster rennen, aber
auf der Hälfte der Strecke ließen mich meine Beine im Stich. Ich fiel geradeaus
direkt auf mein Gesicht. Nun spürte ich wieder das Dröhnen im Kopf. Ich hielt mir
meine Stirn und taumelte in Richtung Fenster. Als ich davor stand, bemerkte ich
erst, dass das Fenster in großer Höhe angebracht war. Ich konnte zwar nicht klar
denken, aber ich war die Größte in meiner Klasse und konnte nicht einmal auf
Zehenspitzen hindurch sehen. Es war aussichtslos. So nach und nach wurde ich
mir meiner Situation bewusst. Ich war eingesperrt. Aber ich konnte mich
überhaupt nicht daran erinnern was passiert war. Vielleicht war es ja nur ein
Streich und man würde mich in Kürze frei lassen. Ich versuchte Ruhe zu
bewahren, um nicht in Panik auszubrechen und atmete mehrmals tief ein und
wieder aus. Dann setzte ich mich auf die Matratze, um erst einmal einen klaren
Kopf zu bekommen. Ich versuchte mich krampfhaft zu erinnern. An alles was ich
nur konnte. Ich konnte mich nur schwach an Details aus meinem Leben erinnern.
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Ich versuchte mich am heutigen Datum und an der Uhrzeit, doch ich hatte keinen
Erfolg. Ich legte den Kopf auf meine Knie. Dann blickte ich zum Fenster. Ich
konnte aus dem Fenster heraus einen dunklen Streifen Himmel erkennen. Aber
es war Winter und da ist es morgens und abends dunkel. So langsam spürte ich
die Kälte des Raumes. Ich blickte an mir herunter. Ich hatte eine Jeans, ein
Sweatshirt und Sportschuhe an. Um nicht untätig herum zu sitzen, ging ich ans
Fenster und schrie nach Hilfe. Ich schrie so laut ich konnte. Es kam mir schon
vor wie eine Ewigkeit, aber es kam keine Antwort.
Dann hörte ich dumpfe Schritte. Ich rannte zur Tür und spähte durch den
Türschlitz. Im Flur vor meiner Tür war ein Licht angegangen. Ich sah wie ein paar
Schuhe um die Ecke bogen und mir lief es eiskalt den Rücken herunter. Sie
liefen in meine Richtung und ich schrie instinktiv: „Hey! Hallo! Lassen Sie mich
raus. Das ist überhaupt nicht komisch. Hey!“ Kurz bevor die Schuhe meine Tür
erreichten, drehten sie ab und ich hörte wie eine andere Tür geöffnet wurde, in
welcher die Schuhe verschwanden. Ich stand auf und trat vor Wut gegen die Tür.
Sie knarzte laut. Ich setzte mich hinter die Tür und wartete darauf, dass die
Schuhe zurückkommen würden. Es verging eine Ewigkeit. So kam es mir
jedenfalls ohne Uhr vor. Ich hatte gemischte Gefühle. Einerseits hatte ich Angst
vor der Person, die mich hier gefangen hielt. Andererseits dachte ich an meine
Familie und wie viel ich mit ihnen noch bereden und unternehmen wollte. Mir
liefen die Tränen. Dann öffnete sich die Tür einen Spalt weit, es wurde etwas
herein geschmissen und die Tür wurde von außen wieder zu geschlossen. Es
geschah so schnell, dass nicht reagieren konnte und im Türspalt nur den Umriss
einer Person sehen konnte. Ich lief zu dem Paket, dass in den Raum geworfen
worden war. Es war ein mittel großer Karton. Ich öffnete ihn vorsichtig und war
auf alles gefasst. Ich beugte mich langsam über den Karton um hinein zu blicken.
In dem Karton waren eine Decke und eine Tüte mit Essen und Trinken. Ich
atmete auf. Ich trug das Paket mit zu der alten Matratze und setzte mich. Dann
wickelte ich mich in die Decke ein und fing an die belegten Brote zu essen. Es
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fühlte sich gut an, etwas im Magen zu haben und ich fühlte mich gleich besser.
Dann nahm ich die Wasserflasche heraus. Ich trank nur ein paar Schlucke, um
mir den Rest für später aufzuheben. Dann dachte ich an die Person im Türspalt
zurück. Sie war groß und sehr kräftig gebaut. Zu neunundneunzig Prozent ein
Mann. Aber warum ich? Warum hatte er mich entführt? Meine Eltern waren
weder reich, noch berühmt. Wir waren eine glückliche Familie. Waren! Ich
überlegte mir, ob es wohl eine Möglichkeit gab, hier zu verschwinden. Das
Fenster war vergittert und außerdem viel zu klein. Die Tür war also meine einzige
Fahrkarte hier raus. Ich lief zur Tür und fing an auf sie ein zu treten. Sie knarzte
zwar, aber es tat sich nichts. Nach einer Weile fing lediglich mein Fuß an,
höllisch zu schmerzen. Ich gab auf und beschloss mich hin zulegen und bis zum
nächsten Tag zu schlafen, um neue Energie und neue Ideen zu tanken.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war es etwas heller im Raum. Ich rieb
mir den Schlaf aus den Augen und stand langsam auf. Als ich zur Tür blickte
stand vor der Tür ein neuer Karton. Der Entführer musste, während ich
geschlafen hatte, da gewesen sein. Ich öffnete ihn. Dieses Mal hatte er
Frühstück vorbereitet. Beide Pakete waren so liebevoll zubereitet. Ich hoffte,
dass dies ein gutes Zeichen war. Ich setzte mich und aß mein Frühstück. Und
dann kam mir der Gedanke. Mein Entführer öffnet genau dann die Tür, wenn er
mir ein Paket mit einer neuen Mahlzeit bringt. Dieser kurze Moment war meine
einzige Chance, dem Entführer zu entkommen. Die Überraschung wäre auf
meiner Seite. Aber wie genau sollte ich das anstellen? Ich breitete mich mental
auf meinen Plan vor. Ich legte mich auf die Matratze und versuchte mich zu
entspannen, um mir meine Kräfte für später aufzuheben. Der Plan war, den
Entführer, während er die Tür öffnete, zu überraschen und zu fliehen. Aber was
würde passieren, wenn ich dem Entführer nicht entwischen könnte oder wenn
das Haus in dem ich gefangen war, weit von der Zivilisation entfernt war. Ich
atmete einmal tief ein und wieder aus. Ich durfte mir keine Gedanken machen.
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Die Angst durfte nicht meine Gedanken kontrollieren. Ich musste positiv denken
und einfach so schnell rennen, wie ich eben nur konnte.
Es waren schon ein paar Stunden vergangen und ich machte mich nach und
nach bereit. Ich setzte mich direkt neben die Tür und lauschte angespannt, ob
sich etwas im Flur vor meiner Tür tat. Dann, es fühlte sich an wie eine Ewigkeit,
hörte ich die Schritte. Mein Herz fing an zu pochen und meine Knie zitterten. Ich
stand langsam und ganz leise auf. Ich presste meine Hände gegen die Wand
und wartete. Die Schritte kamen immer näher und wurden von Schritt zu Schritt
immer lauter. Mein Herz klopfte immer schneller. Schließlich hörte ich einen
Schlüsselbund klingeln und ein Schlüssel wurde in das Schlüsselloch meiner Tür
gesteckt. Ich schluckte. Dies war meine einzige Chance. Ich durfte sie nicht
vermasseln. Der Schlüssel drehte sich ganz langsam im Schoss. Einmal,
zweimal, dann wurde die Türklinke herunter gedrückt. Die Tür wurde einen Spalt
breit geöffnet. Stille. Jetzt oder nie. Ich stieß die Tür auf, trat meinen Entführer zu
Boden, der sich gerade zu meinem Mittagessen herunter beugte und rannte los.
Der Flur kam mir endlos vor. Ich rannte um eine Ecke, bis ich am Ende des Flurs
eine Art Haustür sah. Ich rannte auf sie zu. Offen. Sie lässt sich öffnen. Sie war
nicht verschlossen. Ich trat nach draußen und blieb erschrocken stehen. Um das
Haus herum gab es nichts. Nur Felder, Bäume und einen kleinen Weg. Ich durfte
nicht stehen bleiben, schoss es mir durch den Kopf. Ich hörte meinen Entführer
fluchend und schreiend in meine Richtung rennen. Ich sah in Richtung des
Weges und rannte los. Der Weg führte zu einer größeren Straße. Ich spürte die
Kälte des Winters in jedem Atemzug. Denn genau dann fing meine Lunge an
höllisch zu schmerzen. Ich rannte weiter, stolperte und fiel auf den Boden. Ich
blickte verängstigt in Richtung Haus. Mein Entführer stand in der Tür. Als er mich
sah lächelte er verschmitzt. Zum ersten Mal konnte ich sein Gesicht sehen. Er
war um die 50 Jahre alt, hatte braunes Haar und einen Schnurbart. Dieses
Gesicht kam mir bekannt vor. Ich hatte es schon irgendwo gesehen. Doch in
diesem Moment konnte ich keinen klaren Gedanken fassen. Ich durfte keine Zeit
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verlieren. Ich rappelte mich auf und lief weiter auf die Straße zu. Nun musste ich
mich entscheiden. Rechts oder links? Ich musste gar nicht überlegen. Mein
Instinkt sagte mir sofort, dass ich rechts wählen sollte. Später würde ich mich
daran erinnern und merken, dass ich meinem Instinkt trauen konnte. Auf der
Straße fuhren keine Autos, sodass ich niemanden um Hilfe bitten konnte. Als ich
über die Schulter blickte, sah ich meinen Entführer an der Ecke seiner Einfahrt
stehen. Und zu meinem Erstaunen drehte er sich um und verschwand wieder in
seiner Einfahrt. Ich atmete auf und verlangsamte meine Schritte. Schließlich
blieb ich stehen, um meinen Puls endlich einmal herunter zu fahren. Urplötzlich
kam ein Auto angeschossen. Ich stellte mich blitz schnell auf die Straße und
versuchte mich, durch wildes Winken meiner Arme, bemerkbar zu machen. Als
das Auto ungefähr 150 Meter entfernt war und immer schneller wurde, bekam ich
es mit der Angst zu tun. Als es näher kam sah ich wer am Lenkrad saß. Hinter
dem Steuer saß mein Entführer. Er wollte mich überfahren. Ja, eiskalt töten und
fuhr deshalb geradewegs auf mich zu. Ich wollte flüchten, aber im ersten Moment
stand ich nur da wie ein scheues Reh im Scheinwerferlicht. Im letzten Moment
konnte ich mich auf die Seite werfen. Das Auto raste knapp an mir vorbei. Dann
hörte ich das laute quietschen der Autoreifen. Ich strauchelte weiter. Lief jetzt
aber nicht mehr auf der Straße, sondern querfeldein. Ich spürte wie schwer
meine Beine wurden, da ich seit Tagen nur in diesem Raum gesessen war. Ich
hoffte, dass der Entführer aufgeben würde und ich entkommen konnte. Doch das
Gegenteil war der Fall. Ich hörte wie das Auto hinter mir über die Felder bretterte.
Ich versuchte in Richtung der Bäume zu rennen, um einen Vorteil gegenüber
dem Auto zu erlangen. Ich war erstaunt, dass ich in so einer Situation, solche
Ideen entwickelte. Plötzlich krachte es. Der Lärm war ohrenbetäubend. Aus
Reflex duckte ich mich, weil ich vermutete, dass er auf mich schoss. Aber als ich
mich umblickte, sah ich zu meiner Verwunderung nur, wie mein Entführer aus
seinem Auto stieg, welches in einem Graben stecken geblieben war. Irgendwie
konnte ich mir ein kleines Schmunzeln nicht unterdrücken. Zwei zu Null, dachte
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ich. Dann sah ich die Wut in dem Gesicht meines Entführers und wie er aus
seiner Tasche ein Messer zog. Ich bekam Panik. Dieser Mann konnte mich
locker einholen und würde mich eiskalt niederstechen. Ich rappelte mich auf und
rannte weiter. Meine Knie zitterten und mein Herz klopfte schneller als je zuvor.
Ich fühlte mich so verloren und meine einzige Chance bestand darin, weiter zu
rennen und zu hoffen, dass meine Hilfe ganz nah war. Als ich ein paar Felder
hinter mir gelassen hatte, sah ich hinter einigen Bäumen eine weitere Straße. Er
kam immer näher. Nun war er nur noch 200 Meter von mir entfernt. Ich fühlte
mich zu schwach, um weiter zu rennen, aber ich durfte um Himmels Willen nicht
aufhören. Endlich erreichte ich die Straße und folgte ihr. Mein Entführer schloss
immer weiter auf. Ich hörte ihn brüllen und ich bildete mir ein, seinen Atem im
Nacken zu spüren. Es lief mir eiskalt den Rücken herunter und ich schüttelte
mich. Am Horizont sah ich etwas leuchten. Ein kleiner Hoffnungsschimmer. Als
ich näher kam konnte ich eine Anzeigetafel erkennen. Eine Tankstelle. Ja es war
wirklich eine Tankstelle. Wenn ich die Tankstelle erreichen würde, bevor mein
Entführer mich erreicht, hätte ich eine realistische Chance. Aber er war jetzt
schon auf ungefähr die Hälfte heran gekommen. Nein, ich konnte das schaffen.
Das Adrenalin schoss in meine Adern. Ich rannte so schnell wie in meinem
ganzen Leben noch nicht. Und da war sie die Tankstelle. Nur noch einen
Katzensprung entfernt. Meine einzige Chance. Mein letzte Hoffnung…..
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