Liebe Kolleginnen und Kollegen, Geburtstagspost

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Geburtstagspost, Geschenke, jede Menge Komplimente und Küsschen für
Pixi – ein unvergessliches Jubiläumsjahr, das erfolgreichste Pixi-Jahr überhaupt.
Ich möchte Ihnen für Ihre einzigartige Begeisterung, Ihre Wertschätzung und
Ihre großartige, individuelle Unterstützung von Herzen danken. Sie haben mit
Pixi und den Kindern in Ihren Buchhandlungen gefeiert und mit uns haben 200
Kinder ein Pixi-Familienfest in Hamburg genossen.
Pixi geht gestärkt und erfrischt in die nächsten 10 Jahre und freut sich, Ihnen
gleich eine neue Idee präsentieren zu dürfen: Rechteckig, verspielt, vergnüglich
und klug – das ist Pixi kreativ.
Unsere neue Reihe Pixi kreativ bietet die beliebtesten Mal- und Beschäftigungsideen für Kinder von 4 bis 7 Jahren an und lädt alle kleinen und großen Verwandlungskünstler in den ersten 32 Heften zum Mitmachen und Entdecken ein.
Feiern Sie jetzt einfach mit uns weiter ... Wir freuen uns auf ein spannendes
Frühjahr 2015 und ich wünsche Ihnen viel Freude auf Ihrer persönlichen Ent­
deckungsreise in unserem neuen Programm.
Ihre
Renate Herre und das Carlsen-Team aus Hamburg-Ottensen
Die Texte und Illustrationen dieses Buches sind den Frühjahrs-Neuerscheinungen
des CARLSEN-Verlages entnommen.
Bei den Texten handelt es sich zum Teil um unlektorierte und gekürzte Textproben.
Sämtliche Bücher erscheinen zwischen Februar und September 2015.
© Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2014
Umschlagillustration: Dorothea Tust
Redaktion: Ingrun Wimmer
Herstellung: Sandra Prinz
Druck und Bindung: Griebsch & Rochol Druck, Hamm
ISBN 978-3-551-94952-3
Printed in Germany
i
Neben diesem Symbol finden Sie vor jeder Leseprobe
eine Kurzinfo über das Buch.
book
Die mit diesem Symbol gekennzeichneten Titel
sind auch als E-Book erhältlich.
I n h a lt
R e ih e n u n d s e ri e n
Dagmar Hoßfeld Sattel, Trense, Reiterglück, Band 1: Ein Turnier für
vier 7
Annika Harper Cornwall College, Band 1: Was verbirgt Cara
Winter? 17
Er z ä hl e n d e s pro g r a m m
K inderbuch
Anna Woltz Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess 25
Lauren Oliver Liesl & Mo und der mächtigste Zauber der Welt 41
Sara Pennypacker Der Sommer der Eulenfalter 51
Nikki Sheehan Mein Plan zur Rettung der unsichtbaren Freundin von
nebenan 63
jugendbuch
Lauren Morrill Besser als der beste Plan 77
Dawn O´Porter Papierfliegerworte 87
Jordan Sonnenblick Die total irre Geschichte mit der Gitarre meines
Vaters und allem, was danach kam – obwohl sie mir keiner auch nur
ansatzweise glauben wird 101
Clémentine Beauvais Dreckstück 107
Victoria Aveyard Die rote Königin 117
T a s ch e n b u ch
Daniel Höra Auf dich abgesehen 131
Rebecca Serle Famous in Love 141
James Dawson Sag nie ihren Namen 161
Sandra Regnier Das Flüstern der Zeit 165
C H I C K EN H O USE
Colette Victor Kopfgefühl und Bauchzerbrechen 181
Anneka Driever 6. Stunde: polterfrei! 197
R e ih e n u n d s e ri e n
R e ih e n u n d s e ri e n
Dagmar Hoßfeld Sattel, Trense, Reiterglück, Band 1: Ein Turnier für vier
R e ih e n u n d s e ri e n
i
Emily, Benni, Marie und Luca wollen auf ihrem Reiterhof ein Turnier organisieren – mit Dressur-, Spring- und
Vorführprüfung. Wochenlang sind sie mit den Vorbereitungen beschäftigt. Dann passiert ein Unfall und die
vier wissen nicht, ob das Turnier überhaupt stattfinden
kann …
• ein sommerleichtes Lesevergnügen nicht nur für
Pferdemädchen
• ab 10 Jahren
• Band 1 einer Trilogie
Dagmar Hoßfeld wollte als Kind Tierärztin, Bäuerin
oder Gestütsbesitzerin werden. Dass sie sich anders
entschieden hat, hat sie ihrem Sohn zu verdanken:
Als er ungefähr ein halbes Jahr alt war, bekam sie Lust,
ein Kinderbuch zu schreiben. Sie setzte sich an den
Schreibtisch – und hörte mit dem Schreiben einfach
nicht mehr auf. Zum Glück! Mittlerweile sind viele wunderbare Kinder- und Jugendbücher von ihr erschienen.
Viele davon sind Bestseller geworden: die CarlottaBände, viele Conni & Co-Abenteuer und »Mein Leben,
die Liebe und der ganze Rest« sowie »Mein Sommer fast
ohne Jungs«.
Auch ihr anderes Pferdebuch bei Carlsen hat viele
begeisterte Leser(innen) gefunden: »Das einzig coole
Pferd, die Killerenten und ich«.
Dagmar Hoßfeld Sattel, Trense, Reiterglück, Band 1: Ein Turnier für vier
Hallo, liebe Pferdefans!
Früher war ich total pferdeverrückt. Jede freie Minute habe ich im
Stall verbracht, Pferde und Ponys gestriegelt, Boxen ausgemistet
und unzählige Hufe ausgekratzt. Geritten bin ich natürlich auch.
Allerdings war mir der Umgang mit den Pferden immer wichtiger als
tolle Dressurkunststücke und Siegerschleifen. Einmal hab ich sogar
die Schule geschwänzt, weil ich lieber bei meinem Lieblingspferd sein
wollte. Das hat Riesenärger gegeben. Also nicht nachmachen!
Als Kind und junges Mädchen habe ich ungefähr eine Million
Pferdebücher gelesen. Als ich erwachsen war, wollte ich dann selbst
welche schreiben und bin bis heute dabeigeblieben. Ich liebe es, Geschichten über Pferde und Ponys zu erzählen. Hin und wieder verstecke ich sogar eigene Erlebnisse in den Büchern. Welche das sind,
verrate ich aber nicht. ;-)
Viel Spaß beim Lesen und liebe Grüße
Eure Dagmar Hoßfeld
R e ih e n u n d s e ri e n
Kapitel 7
Gemeinsam gingen die vier zu ihren Pferden, um sie für die
Springstunde aufzuzäumen und zu satteln. Emily und Marie
hatten ihre Pferde schon eingefangen und streiften ihnen die
Reithalfter über. Emily zupfte Toffys dicken Stirnschopf liebevoll zurecht.
»Hey, Süßer«, raunte sie ihrem Pferd ins gespitzte Ohr.
»Lass mich bloß nicht im Stich!«
Toffy knabberte an ihrem T-Shirt und schnaubte. Trotz
Emilys hingebungsvoller Pflege sah er irgendwie immer ein
bisschen struppig aus, aber Emily war das ganz egal. Für sie
war es Liebe auf den ersten Blick gewesen, als sie Toffy zum
ersten Mal gesehen hatte. Sie hatte etwas in seinen Augen
entdeckt; einen ganz besonderen Ausdruck, der ihr Herz
berührt hatte.
»Mit dir hab ich fast keine Angst vorm Springen«, murmelte sie, während sie den Sattel auflegte und die Satteldecke glatt zog. »Pass einfach auf, dass ich alles richtig mache,
okay? Dann kriegen wir den Rest schon irgendwie hin.«
Toffy blinzelte ihr zu und nickte. Oder bildete Emily
sich das nur ein? Sie lächelte, als sie ihn von der Koppel
führte.
Seit dem Buchenhofturnier waren Luca, Benni, Marie
und Emily mit Feuereifer und viel Ehrgeiz bei der Sache.
Allen voran natürlich Luca. Im Fernsehen ließ er sich keine Turnierübertragung mehr entgehen und abends wälzte
Dagmar Hoßfeld Sattel, Trense, Reiterglück, Band 1: Ein Turnier für vier
er Fachzeitschriften und Pferdebücher. In einer ruhigen
Minute hatte er sogar darüber nachgedacht, sich ein rotes Turnierjackett anzuschaffen. Genauso eins, wie es die
echten Springprofis im Fernsehen trugen. Mit schwarzem
Samtkragen und flatternden Rockschößen. Als er jetzt mit
seinem Pferd die Reithalle betrat, fiel ihm allerdings die
Kinnlade herunter. Die Hindernisse kamen ihm nicht sehr
profimäßig vor.
»Schon wieder Cavalettis?«, stöhnte er auf. »Du hast
doch gesagt, wir springen heute richtig!«
»Wart’s einfach ab«, erwiderte Sven geduldig. Er ging
die Abteilung entlang und blieb vor Luca und Bonito stehen. »Die Cavalettis brauchen wir zum Aufwärmen und
Lockern. Kein Reiter springt mit seinem Pferd gleich aus
dem Stand über hohe Hindernisse. Auch du nicht.«
Luca nickte zerknirscht. Vermutlich hatte Sven Recht.
So was Ähnliches hatte jedenfalls auch in einem der Lehrbücher gestanden, das er gerade erst gelesen hatte. Er beschloss, sich zu gedulden, auch wenn’s schwerfiel.
»Ihr lasst die Pferde wie gewohnt im Schritt und Trab
am langen Zügel über die Cavalettis gehen«, erklärte der
Reitlehrer weiter. »Wenn sie schön warm und gelöst sind,
geht’s an die Hindernisse. Auch wenn du es nicht gerne
hörst, Luca: Was das Springen angeht, seid ihr Anfänger.
Und Anfänger fangen am Anfang an. Das sagt doch schon
der Name.«
»Klar!«, rief Luca. Er rutschte im Sattel hin und her.
»Kann’s jetzt vielleicht mal losgehen? Sonst ist die Stunde
rum und wir haben die ganze Zeit nur gesülzt.«
Sven gab den Hufschlag frei. Er blieb in der Mitte der
R e ih e n u n d s e ri e n
Halle stehen und beobachtete die Abteilung. Nach einer
Viertelstunde ließ er sie aufmarschieren und fing an, die
Cavalettis umzubauen. Er stellte zwei davon aufeinander,
um sie zu erhöhen. In einigem Abstand dahinter baute er
einen kleinen Hochweitsprung auf und dahinter noch eine
niedrige Zweierkombination. Im Nu war eine Sprungbahn
mit drei verschiedenen Hindernissen entstanden.
Emily bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend, als sie den Parcours betrachtete.
Im Gegensatz zu ihr war Luca total begeistert.
»Perfekt!«, rief er und reckte einen Daumen. »Ich hatte
ja keinen Schimmer, was man mit diesen Bodenhopsern
alles machen kann! Sieht schon fast profimäßig aus. Kann
ich anfangen? Ich bin Anfänger und muss am Anfang anfangen.« Er grinste über beide Ohren.
»Nein, du musst noch etwas warten. Marie und Robbie
starten als Erste«, erwiderte Sven.
Marie zuckte gleichmütig mit den Schultern und rückte
ihren Reithelm zurecht. Sie konnte es sich nicht verkneifen,
Luca im Vorbeireiten einen triumphierenden Blick zuzuwerfen, dann ließ sie Robbie leicht antraben.
Emily staunte über den Mut ihrer Freundin. Ganz locker
galoppierte Marie mit ihrem Pferd aus der Ecke heraus an,
nahm die Sprünge ins Visier und überwand die Hindernisse,
ohne zu zögern. Es sah ganz einfach aus.
»Wie hast du das gemacht?«, flüsterte Emily ihr zu, als
Marie sich wieder einreihte.
»Keine Ahnung«, antwortete Marie achselzuckend.
»Robbie hat das ganz von alleine gemacht.«
»Das war sehr schön«, sagte Sven. »Nur die Zügel musst
Dagmar Hoßfeld Sattel, Trense, Reiterglück, Band 1: Ein Turnier für vier
du über dem Sprung ein wenig länger lassen, damit du
Robbie nicht im Maul störst.«
Marie nickte und lobte ihr Pferd. Robbie senkte den
Kopf und prustete.
»Kommt von hinten kein Krawumm, macht sich vorn
der Hals nicht krumm«, dichtete Luca und fing sich einen
finsteren Blick von Marie ein.
»Emily, du bist die Nächste!«, rief Sven.
Emily klopfte Toffy den Hals. »Jetzt geht’s los, Dickie«,
raunte sie ihm zu. »Lass mich bitte nicht im Stich!«
Toffy schüttelte seine Mähne und schnaubte, als würde
er spüren, dass etwas Besonderes von ihm erwartet wurde. Mit gebogenem Hals galoppierte er in der Ecke an, als
schon der erste Sprung auftauchte. Emily machte sich ganz
leicht und stellte sich in die Steigbügel. Sie gab Toffy die
Zügel hin und schloss die Augen.
»Wirf dein Herz voraus!«, fuhr es ihr durch den Kopf.
Sie fühlte, wie Toffy sich unter ihr anspannte und absprang. Mit einem großen Satz überflog er das Hindernis.
Emily traute sich kaum, die Augen wieder aufzumachen,
da kam schon der nächste Sprung. Wieder straffte Toffy
die Muskeln und streckte sich. Emily musste eigentlich gar
nichts tun. Sie sah gerade noch die letzte Kombination,
fühlte, wie Toffy unter ihr flog – und dann war es schon
vorbei. In ihren Ohren rauschte es.
»Super!«, hörte sie Svens Lob wie aus weiter Ferne.
Mit roten Wangen nahm Emily mit Toffy wieder Aufstellung, beugte sich vor und fiel ihm um den Hals.
»Das war spitze!«, sagte sie und wuschelte ihrem Pferd
durch die Mähne.
R e ih e n u n d s e ri e n
Benni konnte ihr gerade noch zuwinken, da war er
schon an der Reihe.
Möwe, die hübsche Schimmelstute, war ein bisschen träge und faul. Sie galoppierte nur schwerfällig an. Benni hatte
alle Hände voll zu tun, sie anzutreiben und in Schwung
zu bekommen. Mit einem lauten Seufzer nahm Möwe den
ersten Sprung und verweigerte den nächsten, obwohl Benni
sich die allergrößte Mühe gab, beide Schenkel anlegte und
die Zügel nachgab. Möwe stemmte einfach die Vorderhufe
in den weichen Boden und blieb stehen.
Benni schwitzte. Sein Gesicht war knallrot. Aber so sehr
er sich auch abmühte und versuchte, Möwe zum Weitergehen zu bewegen: Die Stute stand still wie ein störrischer
Esel und rührte sich nicht vom Fleck. Ihrer Miene war abzulesen, dass sie der Meinung war, für heute genug getan
zu haben.
»Ein Hüpfer am Tag reicht«, schien sie sagen zu wollen.
»Jetzt ist Feierabend!«
»Reite eine Volte!«, rief Sven. »Dann richte Möwe gerade und treib sie noch energischer voran!«
Benni nickte. Er wendete Möwe auf einem engen Kreis,
brachte sie in den Galopp und ritt erneut auf die Hindernisse zu.
Brav übersprang die Stute das erste Rick. Beim zweiten wollte sie schon wieder abbremsen, aber Benni biss die
Zähne fest zusammen und drückte die Schenkel energisch
in die Flanken des Pferdes.
»Hopp, Möwe!«, rief er laut und gab die Zügel frei.
Möwe streckte sich so gut sie konnte und nahm den
zweiten Sprung. Bevor sie es sich anders überlegen konnte,
Dagmar Hoßfeld Sattel, Trense, Reiterglück, Band 1: Ein Turnier für vier
nutzte Benni den Schwung und brachte sie auch noch über
das dritte und letzte Hindernis. Als er Möwe durchparierte,
waren beide, Pferd und Reiter, verschwitzt und außer Puste.
Die Abteilung applaudierte. Benni grinste verlegen, als
er an seinen Platz zurückkehrte.
»Ich glaub, Möwe braucht noch eine ganze Menge
Konditionstraining, wenn ihr bei dem Turnier mitmachen
wollt.« Sven klopfte der Stute den Hals. »Sie ist zu schwer
und zu kurzatmig. Reite sie ab morgen am besten täglich
im Gelände. Galoppstrecken wären genau das Richtige für
sie. Lange Ausritte an der frischen Luft.« Er drehte sich um.
»Wer ist der Nächste?«
Luca hob die Hand.
»Der Schrecken des Parcours«, lachte Sven. »Zeig uns,
was du draufhast!«
Luca machte die Steigbügel zwei Löcher kürzer, gurtete
nach, strich Bonito über den Hals und ritt schließlich mit
konzentriertem Gesicht an. Als der Schecke die Hindernisse vor sich sah, war er nicht zu bremsen. Als hätte ihn
etwas gestochen, schoss der Wallach vorwärts und stürmte
über die Sprünge. Luca hielt sein Pferd nicht zurück. Im
Gegenteil, vor der letzten Kombination erhöhte er das halsbrecherische Tempo sogar noch. Mit einigen fröhlichen
Bocksprüngen signalisierte Bonito, dass er noch lange nicht
genug hatte.
Endlich parierte Luca Bonito durch. Er klopfte ihm den
Hals und rief Sven zu: »Darf ich gleich noch mal?«
Sven starrte ihn an. »Wolltest du dir gerade den Hals
brechen? Und deinem Pferd gleich dazu? So geht das nicht,
Luca. Es geht hier nicht um Tempo und Zeit!«
R e ih e n u n d s e ri e n
Lucas Grinsen erlosch. »Sei doch nicht gleich so sauer«,
sagte er kleinlaut.
»Sauer? Ich hatte Angst um dein Leben!« Sven kam
auf ihn zu und griff in Bonitos Zügel. »Wenn du es nicht
schaffst, dein Pferd vor den Hindernissen zu versammeln
und an die Hilfen zu bekommen, kann das schlimm enden.
Wenn Bonito weggerutscht wäre, hättest du überhaupt
nicht mehr reagieren können. Hätte er verweigert, wärst du
im hohen Bogen über seinen Hals geflogen.«
»Bonito verweigert nicht«, wagte Luca einen Einspruch.
Sven winkte ab. »Ihr müsst wirklich noch viel lernen.
Mach’s in der nächsten Stunde besser, okay? Und hör auf
meine Ratschläge. Für heute ist Schluss.«
»Mann, Luca«, sagte Marie, als sie Robbie an Bonito
vorbei aus der Halle führte.
Luca machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.
»Ich kapier das nicht«, sagte er zu seinem Pferd. »Was
haben wir eigentlich falsch gemacht?«
»Ich würde sagen, ihr seid ein bisschen zu tief geflogen«,
grinste Benni.
Dagmar Hoßfeld
Sattel, Trense, Reiterglück, Band 1:
Ein Turnier für vier
Umschlaggestaltung: formlabor
Ca. 192 Seiten
Ab 10 Jahren
15 x 21 cm, gebunden
ISBN 978-3-551-65064-1
Ca. € 9,99 (D) / € 10,30 (A) / sFr. 14,90
Erscheint im April 2015
book
Annika Harper
Cornwall College, Band 1: Was verbirgt Cara Winter?
R e ih e n u n d s e ri e n
i
Das Nobelinternat »Cornwall College« in England.
Hier sind sie alle, die Kinder der Reichen und Schönen:
protzige Prinzen und Glitzergirls, echte Stars und
Dramaqueens. Und Cara Winter. Gerade erst ist sie aus
Deutschland gekommen. Fast könnte man das unauffällige
Mädchen übersehen. Aber Cara hat ein Geheimnis …
• die neue Internatsreihe!
• Topthema: englisches Elitecollege verbunden mit
Krimihandlung
• aufwendig ausgestattetes Cover mit Tiefprägung,
Metallicprägung und Lackierungen
Annika Harper
Cornwall College, Band 1: Was verbirgt Cara Winter?
»Nana, bitte! Ich halte das hier nicht mehr aus.«
»Nein, nein und nochmals nein. Ich habe es dir erklärt.«
»Aber was soll das denn für ein Leben sein? Ich will raus. Ich will auf
eine richtige Schule. Ich will lernen. Ich will Freunde!«
»Ich muss schon sehr bitten, young lady, dein Ton!«
»Entschuldige … Aber stell dir doch mal vor, wie schön das wäre: Ich
wäre frei von dem ganzen Familienkram, wie ein neuer Mensch! Und
… und .. und … Und außerdem vermisse ich England.
… Nana? Warum seufzt du?
… Alles in Ordnung?«
»Very well. Aber zu meinen Bedingungen.«
R e ih e n u n d s e ri e n
1
Es geht loS
Meine Großmutter ist Engländerin. Gefühlsausbrüche liebt
sie nicht.
Also atmete ich tief ein, um auch wieder tief ausatmen zu
können. Meine Stimme war ganz ruhig, als ich sagte: »Und
außerdem vermisse ich England.«
Das war mein letzter Trumpf.
Und damit hatte ich sie.
Meine halbe Verwandtschaft kommt aus England. Also
die Seite meiner Mutter jedenfalls. Weshalb Nana mich keinen Tag vergessen lässt, dass in meinen Adern britisches Blut
fließt. Und in ihr keimte die Hoffnung, dass die fünfzig Prozent deutsches Blut meines Vaters ebenfalls britisch werden
könnten, wenn ich nun in ein englisches Internat ginge.
Es war nur die erste Diskussion von vielen.
Wir diskutierten über mein Gepäck: »Nana, meinst du
das ernst? Dieses Wollhemd?«
Über meinen Namen. »Elizabeth? Vergiss es!«
Und über den Transport zum Flughafen.
»Wie sieht das denn aus, wenn ich mit einem Trupp von
vier Mann dort ankomme?«
»Nun übertreib bitte nicht!« Nana hob die Augenbrauen.
»Zwei würden perfectly genügen. Carl und Heinrich begleiten
dich.«
Annika Harper
Cornwall College, Band 1: Was verbirgt Cara Winter?
Ich bemühte mich, meine Stimme ganz ruhig zu halten.
»Nana, auch zwei Fahrer sind aber doch eher ungewöhnlich,
oder? Reisen die anderen Mädchen nicht allein?« (Wir leben
doch nicht im 18. Jahrhundert!)
Nana machte nur »Tsss« und vertiefte sich wieder in ihre
Financial Times. Was bei ihr locker als »Na gut, du hast Recht«
gewertet werden konnte. Gewonnen, schon wieder!
Tja, und so stehe ich nun tatsächlich hier. Am Flughafen
Hamburg, auf dem Weg nach London. Mein Herz macht
einen Hüpfer, als ich die großen Lettern auf der Eingangshalle sehe.
Neben mir wuchtet Carl, unser Fahrer, das Gepäck aus
dem Auto. Er lächelt leise, so wie er immer lächelt, und nickt
mir zum Abschied zu.
Ich strahle ihn an und will gerade frisch und fröhlich losziehen, als er herbeihechtet und mich ungeschickt umarmt.
»Viel Glück im Cornwall College! Mach’s gut!«, flüstert
er traurig.
Spinnt der? Stocksteif bleibe ich stehen. Nana würde
längst in der Handtasche nach ihrem Riechsalz tasten, vielleicht noch ein dezentes »I am NOT amused!« hauchen. Als
Engländerin hält sie nicht viel von sichtbaren Gefühlen.
Schon gar nicht zwischen uns und Angestellten wie Carl. Sie
hält auch nicht viel von Diskussionen oder aufbrausenden
Worten. Ihrer Meinung nach sind blitzende Blicke und das
stumme Angeln nach Riechsalz – kombiniert mit scharfem
Einatmen ohne Ausatmen – perfectly fine verständliche Kommentare.
»Danke!«, antworte ich steif und winde mich entschieden
aus der Umarmung. Ich versuche, höflich, aber distanziert
R e ih e n u n d s e ri e n
zu lächeln. Ganz Nanas Enkelin: Immer die Contenance wahren!
»Ich bin ja in den Ferien wieder da.«
»Natürlich.« Carl nickt und tritt einen Schritt zurück.
Jetzt hebt er noch mal kurz die Hand zum Gruß, steigt in
den Wagen und fährt endlich los.
Keine schlechte Idee: Hinter ihm hupen schon zwei Taxis, die vor der Eingangshalle ihre Kunden entladen wollen.
»Sieh zu, dass du Land gewinnst, du Affenhintern!« Der
eine Fahrer (lockige Haare mit Pferdeschwanz, Elftagebart,
verwaschenes Sweatshirt – Nana hätte sich geweigert in sein
Taxi überhaupt nur einzusteigen) hängt mit halbem Oberkörper und wild geballter Faust aus dem Fenster. »Kannst du
nicht lesen? NUR FÜR TAXIS! «, ruft er Carl zu.
»Fetten Benz, und schon denken die, die können sich alles erlauben!«, grunzt der andere.
Okay, das reicht. Eilig schnappe ich meine beiden Rollenkoffer, schlüpfe in die große Drehtür, tripple weiter, bis sich
die andere Seite vor mir öffnet, mache einen großen Schritt
heraus und stehe – swusch! – in der riesigen Abflughalle, die
alle Geräusche von draußen komplett verschluckt.
Aaaah! Das ist sie also, die große, weite Welt!
Annika Harper
Cornwall College, Band 1:
Was verbirgt Cara Winter?
Ca. 240 Seiten
Ab 10
15 x 21 cm, gebunden mit Glanzlack und Prägung
ISBN 978-3-551-65281-2
Ca. € 11,99 (D) / € 12,40 (A) / sFr. 17,90
Erscheint im August 2015
book
Er z ä hl e n d e s P ro g r a m m
K I N D E R B U ch
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
Anna Woltz
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
i
Bobs
GleichSchwester,
am erstendie
TagRatte,
in denistFerien
das tollste
bricht Mädchen
sich Samuels
in ganz
Kanada.
Bruder den Fuß. Na, das kann ja ein schöner Urlaub
Wenn
werden.
sie den Fußball durch Präriegarten dribbelt, ist sie
so
Aber
glücklich
beim Dorfarzt
wie sonst
aufniemand.
Texel lernt
Wenn
Samuel
sie aristokratisch
die Tochter der
spricht,
Sprechstundenhilfe
klingt sie wiekennen,
der größte
Tess.Snob
Und Samuel
bei der BBC.
hilft Tess
Und
bei ihrem
wennverrückten
sie etwas voraussagt,
Plan, ihren dann
Vater tritt
kennenzulernen,
es auf jeden
Fall
von ein.
dem sie bisher nicht mehr als den Namen weiß.
Nur
Sie hat
wenn
ihnder
zusammen
Rapper Iceman
mit seiner
im Fernsehen
Freundin Elise
kommt,
für eine
ist die
Contenance
Woche in ihrder
Ferienhaus
Ratte futsch.
eingeladen
Dann biept
und lauter
sie, was
verrückte
das Zeug
hält.
Sachen
Denn
für geflucht
ihn organisiert.
wird nicht.
Natürlich ohne ihm zu
verraten, dass sie seine Tochter ist. Und auch ihre Mutter
hat sievon
nicht
eingeweiht.
Tessanderen
will erstmüssen
einmal Bob
herausfinDoch
einem
Tag auf den
und die
den,
ob
sie
ihn
überhaupt
als
Vater
will.
Ratte ihr Zuhause verlassen – die Frank-Sinatra-Songs zum
Der Plan geht
schiefBobs
und angebetete
am Ende fliegt
alles
Aufstehen,
ihr gründlich
Boot am Fluss,
Lehrerin
auf, aber
einesFelipe
ist klar:
Tess möchte
Vater
haben
Miss
Gabriela
Méndez.
Und dieihren
beiden
Waisenkinund
ihr
Vater
möchte
Tess
haben.
der aus der Prärie machen sich auf einen verwegenen
Roadtrip – quer durch Kanada, bis nach New York.
Meine
wunderbarund
seltsame
Woche
mit Tess istvon
eines der
Der
warmherzige
tiefsinnige
Debütroman
schönsten
Kinderbücher
langem:
warmherzig,
Gregory
Hughes
schaffteseit
es auf
die Shortlist
für denklug
und witzig!Guardian
Es ist ein Fiction
Buch, das
Kinder
Leser
englischen
Award
undund
ist für
diejeden
Alters gleichermaßen
begeistern wird. Tess erinnert
Carnegie
Medal 2011 nominiert.
sofort an die Penderwicks, ist aber eine Spur frecher und
schräger und mit wunderbaren Illustrationen von Regina
Kehn ausgestattet!
Das Buch wird in der Sonderfarbe blau gedruckt.
Anna Woltz
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess
3
Draußen waren noch immer Ferien. Ich stand mitten zwischen den Häusern und trotzdem schmeckte die Luft salzig.
Die sonnigen Gehwegplatten waren mit einer dünnen Sandschicht bedeckt. Kleine Häufchen Strand, mitgenommen
von Flipflops, nassen Handtüchern und Gummitieren.
Ich steckte die Autoschlüssel ein und ging los. Natürlich
war ich nicht so doof, mir dabei den Himmel anzusehen. Ich
hatte nicht vor, in eine Kuhle zu fallen.
Die Schlüssel klimperten in meiner Hosentasche. Mein
Kopf war leer. Manchmal denke ich viel. Und manchmal
denke ich nichts. Bei mir gibt es wenig dazwischen. Ich
schlenderte über den Parkplatz neben dem grauen Gebäude,
und dann blieb ich stehen.
Die Hintertür der Arztpraxis führte auf eine kleine Terrasse, und mitten auf dieser Terrasse stand ein Tisch mit einem
Laptop, einer Zimmerpflanze und einer Schreibtischlampe.
Das Lampenkabel schlängelte sich ein Stück über die grauen
Platten und hörte dann auf. Der Stecker endete im Nichts.
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
An dem Tisch saß ein Mädchen mit sandfarbenen Haaren
und einem ernsten Gesicht. Ich drehte mich schnell um, aber
sie hatte mich schon gesehen.
»Warte mal«, rief sie.
Ich drehte mich halb zu ihr.
»Weißt du was über Zebrafische?« Ihre Stimme war genauso ernst wie ihr Gesicht.
»Eigentlich nicht«, sagte ich.
»Spielst du vielleicht Trompete?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Hast du mal einen Schnitzkurs gemacht?«
Ich schüttelte wieder den Kopf, und sie seufzte.
»Dann kann ich dich nicht gebrauchen. Geh ruhig weiter.«
Erstaunt blieb ich stehen. Ich sah mir noch mal den losen
Lampenstecker an und die verstaubte Zimmerpflanze ohne
Blüten.
Anna Woltz
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess
Und dann schaute ich mir vorsichtig das Mädchen an.
Das ging, weil sie gerade auf den Bildschirm ihres Laptops
starrte. Sie war älter als ich, das sah ich sofort. Und sie war
bestimmt keine Touristin. Sie trug glänzende braune Stiefel
und eine Lederjacke. Alle auf der Insel spielten Sommer, nur
sie nicht.
»Halt!«, rief sie plötzlich, während ich reglos dastand.
»Ich brauche dich doch. Kannst du tanzen?«
Eigentlich war es ganz einfach. Ich konnte mich umdrehen und weggehen. Aber sie hörte nicht auf zu reden.
»Standardtänze, meine ich, wie Leute auf einem Ball.
Oder auf einer Hochzeit. Kannst du das?«
»Nein!«, sagte ich laut. Sie sollte wissen, dass ich nicht nur
nicht tanzen konnte, sondern es auch nicht wollte.
Sie lachte mich an. »Ich kann es auch nicht.« Sie stand
auf. »Dann lernen wir es.«
Sie tippte auf ihrem Laptop, klickte ein paarmal hin und
her, und plötzlich ertönte Musik. Altmodische Musik voller
Geigen, die nicht zu dem halb leeren Parkplatz und der Meeresbrise passte.
»Ich bin übrigens Tess«, sagte das Mädchen. »Wir fangen
mit dem Wiener Walzer an.«
Sie kam zu mir und stellte sich vor mich. Ich wollte wegrennen, aber sie nahm meine Hand. Sie war mindestens einen Kopf größer als ich und hatte klebrige Finger. Ich spürte
ihren Atem auf meiner Stirn.
»Die rechte Hand legst du auf meinen Rücken«, sagte sie,
als wäre sie die Inselchefin persönlich. »Ich habe es alles im
Internet nachgelesen, aber ich hatte niemanden zum Üben.«
Sie legte die linke Hand auf meine Schulter.
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
Anna Woltz
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess
»Hör auf!«, rief ich. Ich machte mich los und trat einen
Schritt zurück. »Das ist verboten. Du darfst nicht einfach so
Leute anfassen, die du nicht kennst.«
Tess trat einen Schritt vor, und ich machte schnell zwei
Schritte zurück. Die altmodische Musik spielte weiter.
Schwebend, kreiselnd, vornehm, aber trotzdem auch fröhlich. »Ich bin zehn«, sagte ich. »Wenn du mich noch ein einziges Mal anfasst, gehe ich zur Polizei.«
»Du bist zehn?« Sie klang erstaunt. »Ich dachte, du wärst
neun. Oder acht.« Sie ging ein wenig in die Knie. »Ich bin
elf, aber alle halten mich für älter.«
Wieder trat sie einen Schritt vor.
»Lass das«, sagte ich, aber Tess schaute fröhlich. Sie bohrte mir einen ihrer Klebefinger in die Schulter.
»Die Polizei lacht dich aus, wenn du dahin gehst. Ein elfjähriges Mädchen darf einen zehnjährigen Jungen anfassen,
ganz bestimmt.«
Ich verschränkte die Arme. »Aber ich will es nicht.«
Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Bitte?«, fragte sie. »Es ist
sehr wichtig, dass ich bis heute Abend tanzen kann.«
»Das glaube ich nicht.«
»Der Rest meines Lebens hängt davon ab.«
Sie schaute mich an, ohne wegzusehen. In ihren braunen
Augen waren helle Pünktchen. Sie war kein Roboter, sondern ein echter Mensch. Sie sah mich an.
»Was meinst du …«, fing ich an. Ich räusperte mich.
»Fand der letzte Dinosaurier es schlimm, zu sterben?«
Sie dachte nach. Eine ganze Weile, bis die Musik zu Ende
gespielt hatte und wir nur noch die Möwen über uns hörten.
»Ich fände es immer schlimm, zu sterben«, sagte sie dann.
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
»Der Gedanke, dass dann alles aufhört …« Sie biss sich auf
die Lippe. »Aber wenn ich die Allerletzte wäre, dann wäre
es vielleicht etwas weniger schlimm. Dann wäre ich ja doch
ziemlich einsam.«
Sie schaute mich mit ihren Pünktchenaugen an und ich
nickte. Zögernd trat ich einen Schritt vor.
»Stell dir vor«, sagte sie. »Wenn ich die Letzte wäre, dann
hätte ich niemanden zum Tanzen.«
Sie rannte zum Laptop und tippte schnell darauf herum.
Die Musik setzte wieder ein. Diesmal war es Drehorgelmusik, aber irgendwie doch nicht.
»Ich heiße Samuel«, sagte ich.
Sie nahm meine Hand fest in ihre. Die Musik machte
mich schwindlig.
»Mit dem rechten Fuß machst du einen Schritt nach vorne«, sagte Tess.
Das tat ich, und gleichzeitig setze sie den linken Fuß einen Schritt zurück.
»Jetzt mit links einen Schritt zur Seite.«
Ihr anderer Fuß bewegte sich zusammen mit meinem.
»Und jetzt wieder mit rechts.«
Das machte ich, und ihr linker Fuß folgte. Sie lachte.
»Das ist alles. Wir tanzen!« (…)
Anna Woltz
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess
9
Der Wind blies durch meine Haare und die Welt flitzte an
mir vorbei. Tess strampelte so fest sie konnte und ich spürte,
wie sich ihr Bauch hob und senkte. Ich hatte einen Arm um
ihre Taille gelegt, um nicht vom Rad zu fallen, und mit dem
anderen hielt ich einen Strauß gelbe Tulpen fest.
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
Wir sausten auf einem glatten breiten Radweg durch die Dünen. Bergauf ging es langsam, die Hügel hinab waren wir
schneller als das Licht. Der Weg wurde von alten Tannen
mit krummen Stämmen und Eichen voller junger grüner
Blätter gesäumt.
Ich war zum ersten Mal auf Texel und mochte die Insel
schon jetzt. Die Straßencafés quollen vielleicht vor Touristen
nur so über, aber hier sah ich überhaupt niemanden. Nur
Tess, die strampelte und keuchte und lebte.
Ganz kurz dachte ich an meinen Bruder. Armer Jorre.
Mit einem gebrochenen Fuß würde er die ganze Woche
nicht radeln können. Aber dann fiel mir wieder ein, wie blöd
er geworden war. Ich hatte überhaupt keinen netten Bruder
mehr, sondern einen, der nur noch von dem Schulmusical
erzählen konnte. Einen Bruder, der in eine Kuhle fiel, weil er
nicht beim Fußballspielen mitmachen wollte.
»Wir sind da!«, rief Tess außer Atem.
Mit Schwung bog sie in die Einfahrt zu einem kleinen
braunen Haus ein. Es hatte ein Flachdach und vor den Fenstern hingen geblümte Gardinen. Tess rannte die Holztreppe
hinauf und schloss die Tür auf. Wie ein Wirbelwind stürmte
sie durch das Haus: Fenster auf, Tulpen in eine Vase, das
Programm auf den Tisch – und schon stand sie wieder neben
mir auf der Veranda. Ihre Stirn war schweißnass. Im Stehen
wackelte sie ständig mit den Füßen hin und her. Ich kannte
sie erst einen halben Tag, aber ich wusste, dass das nicht normal war. Für andere Mädchen vielleicht, aber nicht für Tess.
»Ich fall in Ohnmacht«, sagte sie, und plötzlich war sie
wirklich ganz blass. »Echt wahr, ich fall jeden Moment in
Ohnmacht.«
Anna Woltz
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess
»Quatsch«, sagte ich. »Dieser Herr Faber kann doch nicht
so schlimm sein?«
»Du kapierst überhaupt nichts.«
»Ihr habt doch öfter Mieter?«
»Aber dieser ist mein Vater!«
Sie rief es, und sofort danach schlug sie sich die Hand vor
den Mund.
In der Ferne hörten wir ein Auto.
»Da kommt er«, flüsterte sie.
»Dein Vater?«, fragte ich aufgeregt. »Und du kennst ihn
nicht?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn noch nie gesehen, meine ich. Aber vor ein paar Monaten habe ich seinen Namen
entdeckt.« Sie hielt mich an den Schultern fest. »Du hältst
den Mund! Er hat keine Ahnung. Er weiß nicht, wer ich bin
– er weiß nicht mal, dass es mich gibt. Und vielleicht soll das
auch so bleiben. Ich …«
Ein blauer Saab bog in die Einfahrt, und Tess ließ mich
los. Sie wischte sich die Stirn ab und ich sah, dass ihre Hand
zitterte. Ganz kurz dachte ich, dass ich ihr Herz hören könnte, aber es war mein eigenes.
(…)
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
16
Der Picknickkorb stand mitten auf dem knallgrünen Küchentisch. Tess holte sieben in Alufolie verpackte Päckchen
aus dem Kühlschrank und legte sie in den Korb. Ich saß auf
dem Fußboden und streichelte die dicke Katze.
»Warte mal eben«, sagte sie. »Ich bin gleich fertig. Aber
erst will ich dir noch was zeigen.«
Sie goss eine halbe Flasche Wein in eine leere Wasserflasche, drehte den Verschluss fest und rannte dann nach oben.
Einen Moment später kam sie mit einem dicken verschlissenen Heft wieder. Auf der Vorderseite klebte eine Ansichtskarte von einem weißen Palmenstrand.
Sie legte das Heft vor mir auf den Tisch.
»Sieh nur«, sagte sie ernst.
Ich klappte das Heft auf. Es fing mit einem Flugticket
nach Bombay an. Danach waren die Seiten mit bunten Zuckertütchen vollgeklebt und Broschüren von Jugendherbergen und Karten von Fähren. Manchmal war etwas dazugeschrieben. Ein Datum, der Name eines Ortes, oder der
allerschönste Tempel!
Anna Woltz
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess
Ich blätterte von Indien nach Nepal und nach Bhutan
und nach Thailand – und dann hörte ich auf. Unter einem
Foto von einem weißen Hotel am Meer stand ein einziger
Satz.
Hier möchte Hugo für immer bleiben …
Ich sah zu Tess. »Hugo?«
Sie nickte. »Das ist das Reisetagebuch meiner Mutter, von
ihrer Weltreise. Ich darf es mir ansehen, denn der Nachname
meines Vaters steht ja nicht darin. Aber sieh mal, hier …«
Sie blätterte weiter, bis sie zu einer Seite gelangte, die mit
Bildern von Motorrollern beklebt war.
»Als sie sich Motorroller gemietet haben, mussten sie dieses Formular ausfüllen. Die Vorderseite ist nicht so interessant. Aber der Leim ist schon zwölf Jahre alt. Und als ich mir
das Tagebuch neulich wieder ansah …
Jetzt sah ich es auch. Eine Ecke von dem Formular hatte
sich gelöst.
Tess faltete es vorsichtig um und ich hielt den Atem an.
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
Da stand es, in Buchstaben, die eckiger waren als die
Handschrift im Rest des Heftes: Hugo Faber.
Er war nicht mein Vater, und trotzdem klopfte mein
Herz wild, als ich seinen Namen sah.
»Plötzlich wusste ich es«, flüsterte Tess. »Plötzlich wusste
ich, wie er heißt.«
»Und dann hast du ihn gegoogelt«, sagte ich genauso leise.
Sie nickte. »Sofort. Ohne darüber nachzudenken. Ich
wollte überhaupt nicht darüber nachdenken. Ich wollte es
einfach wissen. Wer er ist. Ob es ihn noch gibt.«
Ich wartete mucksmäuschenstill ab, aber sie erzählte nicht
weiter.
»Und dann?«, fragte ich schließlich.
Sie schüttelte den Kopf. »Wir müssen erst den Korb vorbeibringen. Sie brauchen ihn zum Mittagessen.«
Sie rannte nach oben und legte das Reisetagebuch zurück,
und danach trugen wir den Picknickkorb zusammen nach
draußen. Er hatte zwei Haken, die genau um einen Fahrradlenker passten. Tess fuhr mit dem Korb vor und ich raste
hinter ihr her.
Es war unglaublich, wie schnell man auf dem Weg durch
die Dünen war, wenn man nicht auf zwei wunden Füßen
humpeln musste. Wir hatten keinen Atem zum Reden übrig,
und auch fast keine Zeit, um nervös zu werden.
Als wir ankamen, war mein T-Shirt ganz nass vor Schweiß.
Tess band ihren Pferdeschwanz mindestens dreimal neu, und
dann gingen wir mit dem Korb zwischen uns zu dem Häuschen.
»Du darfst nichts sagen«, flüsterte sie noch schnell, und
ich nickte gehorsam.
Anna Woltz
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess
Hugo und Elise saßen auf der Veranda und lasen. Hugo
trug ein T-Shirt mit einer Giraffe darauf und eine orangefarbene kurze Hose. Fast hätte ich laut gelacht, denn dieses
Outfit passten wirklich nicht zu einem Vater.
Aber dann fiel es mir wieder ein. Hugo wusste ja gar
nicht, dass er Vater war.
Plötzlich tat er mir leid, denn eigentlich war es wie bei
Hunden. Wenn man einen kleinen Hund bekam, musste
man ihm beibringen, dass er nicht drinnen pinkeln durfte
und ordentlich an der Leine laufen musste. Genauso mussten Väter viel lernen. Sie durften nicht auf der Straße singen, nicht komisch mit der Kellnerin rumscherzen und keine
doofen Sachen tragen. Aber das alles hatte Hugo nie gelernt.
Er war noch kein Vater. Er war erst ein Mann.
»Guten Morgen!«, rief Tess. Sie klang wieder, als spielte
sie in einer Zahnpastawerbung. »Wir bringen Ihren Picknickkorb.«
»Großartig«, sagte Elise sofort. »Ich bin schon ganz gespannt, was da alles drin ist.«
»Wo soll ich ihn abstellen?«, fragte Tess.
Sie schaute zu Hugo, aber Elise antwortete ihr.
»Lass ihn einfach hier, wir fahren eh sofort los. Danke
schön!«
Hugo schaute schon wieder in sein Buch.
»Ähm«, sagte Tess. »Die Schnitzeljagd, die auf dem Programm steht … Möchten Sie die morgen oder übermorgen
machen?«
Elise lachte. »Weißt du, vielleicht sind wir ein wenig zu
alt für eine Schnitzeljagd …«
Ich sah, wie sich Tess’ Gesicht verdüsterte.
e r z ä h l e n d e s P r o g r a m m k in d er buch
»Oh!« Sie klang, als hätte die Zahnpasta doch nicht so
gut gewirkt. Als hätte sie plötzlich ein Loch entdeckt. »Ja
dann …«
Aber da schaute Hugo von seinem Buch auf. »Natürlich
sind wir nicht zu alt für eine Schnitzeljagd! Darauf freue ich
mich besonders. Geht es übermorgen? Dann können wir uns
extralange darauf freuen.«
»Wirklich?«, fragte Tess. »Sie finden das nicht seltsam?«
»Ich mag seltsam«, sagte er fröhlich.
Es dauerte vier Sekunden, bis sie antwortete.
»Ich auch«, sagte sie dann. Ihre Stimme tanzte fast. »Ich
mag seltsam auch.«
Wie es weitergeht? Fordern Sie mit dem Bestellschein doch das
Leseexemplar dazu an. (Auch als E-Book möglich)
Anna Woltz
Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess
Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
Umschlag- und Innenillustrationen: Regina Kehn
Ca. 176 Seiten
Ab 9 Jahren
15 x 21 cm, gebunden
ISBN 978-3-551-55099-6
Ca. € 10,99 (D) / € 11,30 (A) / sFr. 16,50
Erscheint im Juni 2015
book
Lauren Oliver
Liesl & Mo und der mächtigste Zauber der Welt
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
i
Erfolgsautorin Lauren Oliver hat mit Liesl & Mo ein
bezauberndes, fantasievolles Kinderbuch vorgelegt, das
das Zeug zum modernen Klassiker hat.
Liesl lebt in einer Dachkammer, weggesperrt von ihrer bösen Stiefmutter. Ihre einzigen Freunde sind die Schatten –
bis eines Nachts ein Geist namens Mo aus der Dunkelheit
tritt. In derselben Nacht unterläuft Will, dem jungen
Gehilfen des Alchemisten, ein folgenreicher Fehler: Er
vertauscht zwei Schatullen, eine mit dem mächtigsten
Zauber der Welt, die andere mit der Asche von Liesls
verstorbenem Vater.
Es wird der Auftakt einer ungewöhnlichen Reise, die
Liesl, Mo und Will zusammenführt, ihnen neue Hoffnung
schenkt – und der Welt Zauber und Licht.
»Dieses Buch bringt die Seele zum Klingen.«
Kirkus Reviews (starred review)
Lauren Oliver
Liesl & Mo und der mächtigste Zauber der Welt
1
Drei Tage nachdem ihr Vater gestorben war, sah Liesl nachts
den Geist.
Sie lag in der gleichförmig grauen Dunkelheit ihres kleinen Dachzimmers im Bett, als die Schatten in einer Ecke
sich zu wellen oder zu kräuseln schienen, und plötzlich stand
neben ihrem wackeligen Schreibtisch und dem dreibeinigen
Stuhl eine Gestalt, die ungefähr so groß war wie sie. Als wäre
die Dunkelheit ein ausgerollter Plätzchenteig und jemand
hätte gerade eine Kinderform ausgestochen.
Liesl setzte sich erschrocken auf.
»Wer bist du?«, flüsterte sie in die Dunkelheit, obwohl sie
wusste, dass es ein Geist war. Normale Menschen tauchen
nicht aus der Dunkelheit auf oder sehen aus, als bestünden
sie aus flüssigem Schatten. Außerdem hatte sie von Geistern
gelesen. Sie las eine Menge in ihrem kleinen Dachzimmer.
Dort gab es sonst nicht viel zu tun.
»Mo«, sagte der Geist. »Ich heiße Mo.«
»Woher kommst du?«, fragte Liesl.
»Von der Anderen Seite«, sagte der Geist, als wäre das
offensichtlich, als würde er sagen »von unten« oder »aus
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
dem Eichenweg« oder von irgendeinem anderen Ort, den sie
kannte.
»Bist du ein Junge oder ein Mädchen?« Liesl trug schon
seit Dienstag, als ihr Vater gestorben war, dasselbe dünne
Nachthemd und dachte, wenn der Geist ein Junge wäre, sollte sie sich vielleicht bedecken.
»Weder noch«, entgegnete der Geist.
Liesl war überrascht. »Du musst doch eins von beidem
sein.«
»Ich muss gar nichts«, erwiderte der Geist und klang verärgert. »Ich bin, was ich bin, und damit basta. Auf der Anderen Seite ist alles anders. Alles ist … unschärfer.«
»Aber was warst du früher?«, hakte Liesl nach. »Du weißt
schon … vorher?«
Mo sah Liesl eine Weile an. Zumindest hatte sie den Eindruck, als sähe der Geist sie an. Er hatte eigentlich keine richtigen Augen. Nur zwei etwas dunklere Falten an der Stelle,
wo seine Augen hätten sein können.
»Ich weiß es nicht mehr«, erklärte er schließlich.
»Oh«, sagte Liesl. Neben Mo schien sich ein kleinerer
dunkler Fleck zu wellen und zu kräuseln und dann ertönte
ein Geräusch aus der Ecke, eine Mischung aus dem Miauen
einer Katze und dem Kläffen eines kleinen Hundes. »Und
wer ist das?«, fragte Liesl.
Mo warf einen Blick auf die Stelle, wo früher mal seine
Füße gewesen waren. »Das ist Büschel.«
Liesl beugte sich vor. Sie hatte nie ein Haustier gehabt,
nicht einmal als ihr Vater noch am Leben und gesund gewesen war, was eine Ewigkeit zurücklag, bevor er Augusta,
Liesls Stiefmutter, kennengelernt hatte. »Gehört er dir?«
Lauren Oliver
Liesl & Mo und der mächtigste Zauber der Welt
»Auf der Anderen Seite gehört niemandem etwas«, sagte
Mo. Liesl fand, dass der Geist ganz schön überheblich klang.
Dann fügte Mo hinzu: »Aber Büschel folgt mir überallhin.«
»Ist er ein Hund oder eine Katze?« Aus der Kehle des
kleinen Geister-Haustiers drang jetzt ein schnurrendes Geräusch. Es schlich leise durchs Zimmer und blickte zu Liesl
hoch. Sie konnte gerade so einen zotteligen Kopf aus ausgefranstem Schatten erkennen, zwei dunkle Spitzen, die möglicherweise Ohren waren, und zwei Streifen blassen, silbrigen
Mondlichts, die wie Augen aussahen.
»Wie gesagt«, antwortete Mo, »weder noch. Er ist einfach
Büschel. Auf der Anderen Seite …«
»…ist alles unschärfer, ich weiß«, unterbrach Liesl ihn.
Sie schwieg einen Moment, dann fiel ihr etwas ein. »Bist du
zum Spuken hier?«
»Natürlich nicht«, sagte Mo. »Sei nicht albern. Wir haben Besseres zu tun.« Mo hasste das Bild, das sich lebende
Menschen von Geistern machten. Er hasste ihre Vorstellung,
dass Geister nichts Besseres zu tun hatten, als in Kellern und
verlassenen Lagerhallen herumzulungern und Leute zu erschrecken.
Die Andere Seite war ein geschäftiger Ort – genauso geschäftig wie die Seite der Lebenden, wenn nicht sogar geschäftiger. Sie verliefen parallel, die beiden Welten, wie zwei
gegenüberliegende Spiegel, aber normalerweise war sich Mo
der Seite der Lebenden nur undeutlich bewusst. Es war ein
Wirbel aus Farben links von ihm; plötzlich aufbrandende
Geräusche rechts von ihm; ein undeutlicher Eindruck von
Wärme und Bewegung.
Sicher, Mo konnte zwischen den beiden Seiten hin und
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
her wechseln, aber das tat er nur selten. In der ganzen Zeit
seit seinem Tod war Mo nur ein- oder zweimal zurückgekehrt. Warum sollte er auch öfter auf die Seite der Lebenden
hinüber? Die Andere Seite war voll von herumhuschenden
und sich balgenden Gespenstern und Schatten, es gab endlose Flüsse mit dunklem Wasser, in denen man schwimmen
konnte, weitläufige Tiefen wolkenlosen Nachthimmels,
durch die man fliegen konnte, und schwarze Sterne, die zu
anderen Teilen des Universums führten.
Lauren Oliver
Liesl & Mo und der mächtigste Zauber der Welt
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»Was machst du dann in meinem Zimmer?«, wollte Liesl
wissen und verschränkte die Arme. Es ärgerte sie, dass der
Geist sie »albern« genannt hatte. Wenn Mo unfreundlich
war, konnte sie auch unfreundlich sein.
Ehrlich gesagt wusste Mo gar nicht genau, warum er in
Liesls Zimmer aufgetaucht war. (Büschel war natürlich dort,
weil er Mo überallhin folgte.) In den letzten paar Monaten
hatte Mo jede Nacht zur selben Zeit ein schwaches Licht am
Rand seines Bewusstseins aufscheinen sehen, und neben diesem Licht saß eine Lebende, ein Mädchen, das im Schein
dieses Lichts zeichnete. Und dann war das Licht drei Nächte
lang nicht aufgetaucht, genauso wenig wie der Schein oder
die Zeichnungen, und Mo hatte sich gerade gefragt, woran
das wohl lag, als er – plopp! – aus der Anderen Seite geschleudert wurde wie ein Korken, der aus einer Flasche schießt.
»Warum hast du aufgehört zu zeichnen?«, fragte Mo.
Liesl war kurzzeitig von den Gedanken an ihren Vater abgelenkt gewesen. Aber jetzt fiel er ihr wieder ein, Traurigkeit
überkam sie und sie legte sich hin.
»Mir war nicht danach«, antwortete sie.
Mo stand plötzlich neben ihrem Bett, nur ein weiterer
Schatten, der durch ihr Zimmer huschte.
»Warum nicht?«
Liesl seufzte. »Mein Vater ist gestorben.«
Mo sagte nichts.
Liesl fuhr fort: »Er war schon lange krank. Er lag im
Krankenhaus.«
Mo sagte immer noch nichts. Büschel erhob sich auf seine beiden Schattenhinterbeine und schien Liesl mit seinen
Mondlichtaugen anzusehen.
Lauren Oliver
Liesl & Mo und der mächtigste Zauber der Welt
Liesl fügte hinzu: »Meine Stiefmutter hat mich nicht zu
ihm gelassen. Sie hat mir gesagt … Sie hat mir gesagt, er
wolle nicht, dass ich ihn so sehe, so krank. Aber es hätte mir
nichts ausgemacht. Ich wollte mich doch nur von ihm verabschieden. Aber ich konnte nicht und habe es nicht getan, und
jetzt werde ich ihn nie wiedersehen.«
e r z ä h l e n d e s P r o g r a m m k in d er buch
Lauren Oliver
Liesl & Mo und der mächtigste Zauber der Welt
Aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier
Umschlag- und Innenillustrationen: Kei Acedera
Ca. 320 Seiten
Ab 10 Jahren
14 x 22 cm, gebunden mit Leinenrücken
ISBN 978-3-551-55591-5
Ca. € 14,99 (D) / € 15,50 (A) / sFr 21,90
Erscheint im September 2015
book
Sara Pennypacker
Der Sommer der Eulenfalter
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
i
Stellas Mutter hat sich aus dem Staub gemacht, um sich
selbst zu finden, und Stella ist bei ihrer dicken Großtante
Louise in ihrem alten Haus an der Küste untergekrochen.
Dort gefällt es ihr eigentlich ziemlich gut, wenn nur
nicht Louises Pflegetochter Angel wäre – zickig, faul und
einfach nur nervig.
Dann liegt Tante Louise eines Tages mausetot in ihrem
Sessel. Schnell wird Stella und Angel klar, dass das niemand erfahren darf – denn wo sollen sie dann hin?
Eine Weile lässt sich der Geruch mit Raumspray in Schach
halten, aber dann muss Tante Louise ins Kürbisbeet.
Und die beiden Mädchen müssen es irgendwie schaffen,
alleine den Alltag zu bewältigen, an Louises Stelle die
vermieteten Strandhäuser nebenan in Ordnung zu halten
und den neugierigen Nachbarn George abzuwehren. Aber
dafür müssen sie sich zusammenraufen – und sie tun
mehr als das: Langsam werden die beiden füreinander
immer mehr zu einem Stück Familie.
Die Autorin der wunderbaren »Clementine«-Serie erzählt
federleicht und zum Teil urkomisch eine eigentlich ernste
Geschichte – wunderbar.
»Sara Pennypacker ist eine Mädchenflüsterin.«
New York Times Book Review
Sara Pennypacker
Der Sommer der Eulenfalter
2. K a p i t e l
»He, das sind meine!«
Angel hing über dem Spülbecken und goss Sirup über
einen zusammengeklappten Pfannkuchen. Sie linste durch
ihre Haare zu mir herüber und nahm einen Bissen, dann
warf sie den Rest in den Mülleimer und stolzierte hinaus.
Ich blieb cool und dachte an den Dokumentarfilm über
Eisberge, den ich gesehen hatte. Diese Eisberge, die still und
konzentriert dahintrieben und nicht auf die wilden Stürme
achteten, die um sie herum tobten. Seit Angel eingezogen
war, musste ich mir sehr oft diese Eisberge in Erinnerung
rufen.
Ich wusch mir die Hände, dann fischte ich einen Müsliriegel aus dem Schrank und aß ihn. Neben mir schüttelte Louise die beiden Proviantbeutel aus und ließ in jeden
eine Banane fallen. Als sie dann Thunfischbrote aufeinanderklatschte, holte ich zwei Flaschen Wasser aus dem Gefrierfach. »Wegen der Mayonnaise und den Salmonellen«,
erinnerte ich sie hilfsbereit. »Das habe ich aus Heloises’ Ratschlägen gelernt. Außerdem …«
Ich hörte Angel im Wohnzimmer schnauben. Sie
schnaubte jedes Mal, wenn ich Heloise erwähnte, was deut-
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
lich zeigte, was Angel für ein Mensch war, denn Heloise tut
nur Gutes mit ihrer Zeitungskolumne mit Haushaltstipps,
sie hilft anderen, ihr Leben in Ordnung zu bringen.
Ich achtete nicht auf Angel, ich war noch immer in Eisbergstimmung. »Tiefgefrorene Saftkartons gehen auch.« Ich
steckte den einen Proviantbeutel in meine Schultasche, zog
den Reißverschluss zu und suchte meinen Kram zusammen.
»Na, dann geh ich wohl mal.«
Ich wartete ein wenig und fragte mich, ob die Umarmung
eine Art Signal dafür war, dass die Lage sich geändert hatte
und dass wir jetzt die Sorte Verwandte waren, die sich gegenseitig umarmt. Ich wusste nicht so ganz, ob ich das wollte.
Aber ich wusste auch nicht so ganz, ob ich das nicht wollte.
Ich machte einen Schritt auf Louise zu, hob die Hände und
lächelte.
Sie schaute auf, während sie sich Kaffee eingoss. »Na,
dann los«, sagte sie.
»Alles klar«, sagte ich. »Bis dann.«
Ich ging hinaus und setzte mich auf den Holzzaun vor
dem Haus. Ich war zu früh für den Bus, aber ich hatte Angel
gegenüber folgende Strategie entwickelt: Wo immer sie war,
ich war anderswo. An den meisten Tagen beschränkte sich
unser Gespräch auf »Gib mal das Ketchup.«
»Öl und Wasser«, so sah Louise das. »Pah, da nehme ich
extra ein Pflegekind auf, damit du Gesellschaft hast, und ihr
beide entpuppt euch als Öl und Wasser.«
Das war nicht fair. Erstens hatte ich Louise daran erinnert, dass ich fast zwölf war, kein Kindergartenkind, das eine
Spielkameradin brauchte. Aber sie gab sich nicht geschlagen.
»Du wirst dich bestimmt allein fühlen, vor allem, wenn erst
Sara Pennypacker
Der Sommer der Eulenfalter
der Sommer kommt und ich mit den Hütten zu tun habe«,
erklärte sie. Und als Angel zu uns gekommen war vor zwei
Wochen, hatte ich mir Mühe gegeben, wirklich. Es ist nur
schwer, zu einem Kaktus freundlich zu sein. Angel bestand
nur aus Stacheln.
»Dein Herz ist wie jeder andere Muskel, Stella«, hätte
meine Großmutter gesagt, wenn sie hier gewesen wäre. »Du
musst ihn strecken, wenn er sich verkrampft.«
Ich bückte mich, um einige Kieselsteine aus dem Weg
einer Ameise zu räumen, die sich mit einer schweren Last
abmühte. Na gut, von mir aus, Angel hatte es schwer. Wenn
ich eine Waise wäre, würde ich mich vielleicht auch wie irgendeine düstere Königin aller Tragödien aufführen, so wie
sie – als ob sie der einzige Mensch auf der ganzen Welt wäre,
der jemals irgendwelchen Mist erlebt hatte, weshalb alle anderen deshalb gewaltig Rücksicht auf sie nehmen müssten.
Ich versuchte wieder, auch nur eine einzige Verbindung
zwischen Angel und mir zu finden. Wir waren beide in der
sechsten Klasse, lebten unter demselben Dach, und überhaupt, aber das waren nur geografische und zeitliche Zufälle.
Zwischen uns gab es keine echten Verbindungen.
Aber Louise! Ich verhakte meine Füße unten unter dem
Zaun, lächelte über die Überraschung dieses Morgens und
dachte daran, dass sie fast hübsch ausgesehen hatte, als sie
mir von ihren Blaubeersträuchern erzählte – bei denen ich
ihr helfen sollte, den Sträuchern, die meine Mutter mit ihr
zusammen gepflanzt hatte. Ein dreifaches Band war das, das
uns alle drei miteinander verknüpfte.
Ich würde meiner Mom bei ihrem nächsten Anruf davon erzählen. Mrs Marino hatte gesagt, ich dürfte sie nicht
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
bedrängen. »Sie hat noch einen sehr langen Weg vor sich,
Stella«, hatte sie gesagt. »Sie muss zurückkommen und einen
Elternkurs machen. Dann muss sie beweisen, dass sie wieder
zuverlässig ist – und Arbeit und eine Wohnung hat.«
»Aber bis zum Labor Day Anfang September schafft sie
das doch sicher?! Ich bin nur für den Sommer hier, oder?«,
hatte ich gefragt.
»Na ja, das ist unser Ziel«, hatte Mrs Marino gesagt. »Aber
du darfst nicht zu viel erwarten, nicht zu schnell.«
Ich hatte zugestimmt, aber das bedeutete nicht, dass ich
meine Mom nicht daran erinnern durfte, dass sie auch mal
dort gewohnt hatte, wo ich jetzt war. Oder an die Blaubeersträucher, die sie zusammen mit Louise gepflanzt hatte.
Vielleicht war das ja genau, was sie brauchte – an die Bänder erinnert zu werden, die sie auf der Erde festhielten. Die
Schwerkraft meiner Mom war ein bisschen schwach.
In diesem Moment kam der Bus Nr. 2 durch die Pine
Lane gescheppert und ließ seine übliche sandfarbene Staubwolke aufwirbeln. In letzter Sekunde, wie immer, kam Angel
aus dem Haus gestürzt und rannte an mir vorbei. Ich folgte
ihr zu ihrem Thron ganz hinten im Bus und setzte mich. Angel riss ihre Schultasche hoch, um wieder wegzustürzen. Ich
streckte den Arm aus und versperrte ihr den Weg. »Ich will
nur kurz mit dir reden. Dauert bloß eine Minute.«
Angel versuchte, sich an mir vorbeizudrängen, aber ich
hielt den Arm ausgestreckt, bis sie die Stirn runzelte und mit
dramatischer Geste ihre Schultasche auf den Boden knallte.
Ich stellte mir die Banane in ihrem Proviantbeutel vor. Angel
aß nie so gesunde Dinge wie Bananen, aber diese würde sowieso bis zur Frühstückspause zu einem schleimigen braunen
Sara Pennypacker
Der Sommer der Eulenfalter
Matsch geworden sein. Gut, musste ich einfach denken. Geschieht dir recht. Wieder ein Krampf im Herzen.
Angel drehte sich zum Fenster um und ihre Haare fielen
zwischen uns herunter wie ein schwarzer Vorhang, dann zog
sie ihre Kopfhörer aus der Schultasche.
»Ich habe mir überlegt«, fing ich an, »es ist fast Sommer,
und … Angel, würdest du mir mal zuhören?«
Angel machte sich daran, die Kabel zu entwirren. »Reg
dich ab. Ich hab’s gehört.«
»Du hast es gehört?«
»Fenster stehen offen. Du willst, dass Louise deine Mutter hier wohnen lässt, und du stellst dir vor, du kannst sie
eher dazu überreden, wenn ich zu dir halte.«
»Na ja«, sagte ich, überrascht, weil sie das so korrekt erraten hatte und weil ich mich ein bisschen schuldig fühlte – als
ob Angel mich bei irgendwas ertappt hätte. Was ja nicht der
Fall war. »Also, deshalb …«
Angel knallte sich die Kopfhörer auf die Ohren, schob sie
dann aber wieder zurück. »Was ist eigentlich mit ihr los? Ist
sie …« Angel drehte den Zeigefinger an ihrer Stirn.
»Nein. Nein! Sie ist nur …« Man sollte meinen, ich hätte
nach einem ganzen Leben mit meiner Mutter herausgefunden, wie ich das erklären konnte. Aber das hatte ich nicht.
Am Ende nahm ich immer eins von den Wörtern, die meine
Großmutter benutzt hatte, wenn von ihr die Rede war. Unstet. Überspannt. »Ruhelos.«
Angel verdrehte die Augen. »Sie haben dich ihr weggenommen, weil sie ruhelos ist?«
Ich seufzte. »Sie hat in letzter Zeit ziemliche Schwierigkeiten gehabt«, sagte ich. Was stimmte. Oma war krank ge-
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
worden und gestorben. Dann hatte Mom ihr Haus verkaufen
müssen, um die Krankenhausrechnung zu bezahlen. »Wir
sind nicht wohnungslos«, hatte meine Mutter dann gesagt.
»Wir sind wohnungsfrei.« Dann hatte sie eine Menge Jobs
ausprobiert, aber aus keinem war was geworden – die anderen waren immer neidisch auf Moms kreative Begabung –,
und wir hatten ganz oft umziehen müssen. Jede neue Wohnung war kleiner und schäbiger als die davor, und bei jedem
Umzug wirkte meine Mutter noch etwas … »Sie ist gerade
nur ein bisschen neben der Spur, das ist alles. Aber hier würde alles gut werden. Du würdest sie mögen. Ich könnte mein
Zimmer mit ihr teilen und wir könnten …«
»Ein bisschen neben der Spur? Louise hat gesagt, dass irgendwer die Bullen geholt hat, weil sie dich alleingelassen hatte.« Angel fischte einen Dumdumlutscher aus ihrer Tasche
und schob ihn in einen Mundwinkel.
»Die hätte sich lieber um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern sollen«, sagte ich und formulierte diesen Satz
sehr vorsichtig, weil ich das Gefühl hatte, dass mein Gesicht
plötzlich in Glas verwandelt worden war. Ich sah mir die mit
grauen Platten verkleideten Häuser an, an denen wir vorbeikamen. Meine Mutter hatte mich nicht alleingelassen. Ich
war nur nicht mehr rechtzeitig ins Auto gestiegen bei diesem
letzten Mal. Ich hätte sehen müssen, dass sie gleich losbrettern würde, und mich ins Auto setzen müssen.
Ich drehte mich zu Angel um. »Meine Mom wäre von sich
aus zurückgekommen. Sie war immer nur ein paar Tage weg.
Und wenn sie hier wohnte, würde alles gut werden. Einfach
gut. Und außerdem wäre es besser für Louise, ihre Nichte in
der Nähe zu haben. Ich glaube, es gefällt ihr jetzt langsam
Sara Pennypacker
Der Sommer der Eulenfalter
so richtig, dass wir bei ihr wohnen. Als ob sie vielleicht gern
eine Familie hätte …«
Angel nahm den Lolli aus dem Mund und hielt ihn
mir vor das Gesicht, höchstens einen Fingerbreit weg. »Du
kannst einem leidtun, Stella, weißt du das? Sie musste dich
aufnehmen, und an mir gefällt ihr nur der Scheck, den sie
vom Staat für mich bekommt.«
»Deshalb würde sie doch kein Pflegekind nehmen. Das
würde niemand«, sagte ich.
Sie stach immer weiter mit dem Lolli nach mir. »Siebzehn
Dollar pro Tag. Da kommt was zusammen. Damit kann sie
sich all den Müll aus dem Shoppingkanal kaufen.«
Ich schloss die Augen und füllte meinen Kopf mit Eisbergen, bis ich fast schon den salzigen Nebel schmecken konnte, den sie ausströmten. Dann öffnete ich die Augen. »Bitte,
Angel. Ich mein doch nur, wenn Louise etwas darüber sagt,
dass meine Mom kommen könnte, ob du dann vielleicht …«
»Stella, was immer du hier für eine Kitschfantasie hast,
lass mich da raus. Mir ist das egal. Und außerdem bleibe ich
nicht lange genug hier, um irgendwo mitzumachen.«
Davon war ich total überrascht. »Du gehst weg? Wann
denn?«
Angel schob sich den Lolli wieder in den Mund, rutschte
am Fenster nach unten und zog ihre Haare zwischen uns. Sie
drehte die Musik auf. Und sie strahlte geradezu Wellen des
Ekels aus.
An der nächsten Haltestelle stand ich auf und setzte mich
auf die andere Seite des Ganges. Angel drehte sich nicht einmal um, aber na und? Auf der ganzen Busfahrt lächelte ich
vor mich hin, weil ich an Angels freigeräumtes Schlafzimmer
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
dachte. Jetzt könnte meine Mom vielleicht wirklich zu uns
ziehen. Ich lächelte auch in der Schule die ganze Zeit. Da
nur noch eine Woche übrig war, hatten die Lehrer so ziemlich aufgegeben. Ich lächelte und träumte von einem neuen
Leben.
Morgens, nachdem ich im Haus geholfen hätte, würde
ich losgehen – zur Schule, oder zum Strand, wenn Sommer
wäre –, damit meine Mom tagsüber Skizzen machen oder
bildhauen konnte, oder was immer gerade ihr neues Hobby
war. Diese Phasen waren ziemlich kurz. Aber ich würde zumindest dafür sorgen, dass es keinen Stress gab. Sie würde
so glücklich sein, dass ich nicht mehr mitten in der Nacht
aufwachen müsste, um mich davon zu überzeugen, dass sie
noch da war.
Und Louise würde sich über unsere Gesellschaft freuen.
Nachmittags würden wir ihr mit den Blaubeersträuchern
helfen, und dann würden wir vielleicht mit ihr ihre Serie gucken – wer weiß? Danach könnten wir uns vielleicht ein Eis
holen oder ins Kino gehen oder so. Wir würden alles tun, was
normale Familien tun. Als ich in den Bus nach Hause stieg,
holten wir in meinen Gedanken fast schon ein Hundebaby
aus dem Tierheim.
Angel irrte sich. Es war nicht bemitleidenswert, sich ein
nagelneues Leben vorzustellen. Es war wichtig, positiv zu
bleiben. Das gehörte zu den Dingen, die ich an Heloise bewunderte – egal was das Leben Heloise vor die Füße warf, sie
wischte es auf und sah das Positive darin.
Angel verpasste wie üblich den Bus nach Hause, und deshalb
wusste ich, dass mir zehn Minuten blieben, ehe sie eintref-
Sara Pennypacker
Der Sommer der Eulenfalter
fen würde. Ich ließ meine Schultasche neben die Tür fallen
und lief um das Haus herum ans Ende des Gartens. Der Boden dort war sandig und grob und durchsetzt mit kratzig
aussehenden Büschen. Ich sah mir einen genauer an. Und
wirklich, an den Zweigen drängten sich winzige Beeren –
hart und grün, aber trotzdem konnte man sehen, das würden
Blaubeeren sein, wenn sie erst reif wären.
Ich rannte in die Küche. »Du, soll ich bei den Blaubeersträuchern Unkraut rupfen?«, rief ich. »Oder ihnen was von
diesem Dünger geben?«
Und dann fuhr ich zurück. Die Anrichte war voll mit allem möglichen Kram und die Kaffeesahne stand noch draußen. Louise achtete nicht auf ihr Aussehen, wohl aber auf
ihre Küche. Der Geruch von angebranntem Kaffee hing in
der Luft – der Kaffee in der Maschine war zu einer schwarzen
Haut zusammengekokelt. Ich schaltete die Kaffeemaschine
aus. »Louise?« Ihr Name klang ganz verloren, als ob er in der
Luft hinge und nach etwas Ausschau hielte, an dem er sich
festhalten könnte. »He, Louise?«
Keine Antwort.
»Sei nicht so ein Baby, Stella«, sagte ich laut zu mir selbst.
»Sie musste eben schnell mal weg. Das kann mal passieren.«
Aber die Haut in meinem Nacken fühlte sich nach Alarmglocken an, als ob meine Haut dort klingelte. Es war dasselbe
Gefühl wie immer dann, wenn meine Mutter mich verließ.
Ich schaute auf die Uhr – in fünf Minuten würde Louises
Serie anfangen. Die verpasste sie nie. Sie würde also gleich
wieder da sein.
Ich schob die Vorhänge zur Seite, die sie immer nach den
Fernsehnachrichten öffnete – immer, das war eine feste Re-
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
gel. Das gefiel mir an ihr – sie wusste, wie wichtig es ist,
sich an einen Zeitplan zu halten. Der Escort stand in der
Auffahrt. Meine Großtante war keine, die nur so zum Vergnügen mal spazieren ging. Auch an einem so schönen Tag
wie heute wäre schon ein platter Reifen nötig, damit sie zu
Fuß ging, und für mich sahen die Reifen unversehrt aus. Die
Säcke vom Gartencenter lagen immer noch da, wo wir sie
abgeladen hatten. Neben dem Gartentor stand ein Tablett
mit verwelkten Sämlingen.
Ich lief ins Wohnzimmer und rief lauter: »He, Louise?«
Die Alarmglocken schrillten jetzt bis in meine Kopfhaut.
Ich hatte dieses Gefühl schon oft gehabt – wenn die vergangenen zwei Jahre ein Film gewesen wären, dann hätte der
Soundtrack aus Alarmglocken bestanden.
Ich irre mich nie mit diesem Gefühl, damit, was es bedeutet. Das ist das einzige Talent, das ich habe. Aber diesmal
musste ich mich einfach irren.
Sara Pennypacker
Der Sommer der Eulenfalter
Aus dem Englischen von Gabriele Haefs
Umschlaggestaltung: formlabor
Ca. 288 Seiten
Ab 11 Jahren
15 x 22 cm, gebunden
ISBN 978-3-551-55648-6
Ca. € 13,99 (D) / € 14,40 (A) / sFr. 20,90
Erscheint im Juni 2015
book
Nikki Sheehan Mein Plan zur Rettung der unsichtbaren Freundin von nebenan
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
i
Freunde zu haben ist gut. Unsichtbare Freunde zu haben
ist verdächtig. Aber die unsichtbaren Freunde anderer
Kinder zu haben ist schlichtweg lebensgefährlich!
Zumindest behaupten das alle.
Darum steckt Joseph in echten Schwierigkeiten. Denn seit
kurzem schwirrt ihm ständig die Fantasiefreundin von
Nachbarjunge Floh um den Kopf. Und da die unsichtbare
Klaris angeblich einiges auf dem Kerbholz hat, will Flohs
Vater die Behörden einschalten. Wenn Joseph also nicht
ganz schnell Klaris’ Unschuld beweist, geht es ihr und
Floh – und ihm selbst – an den Kragen …
»Ein ungewöhnlich fesselndes, originelles und bewegendes Debüt … Toll.«
Sally Morris, The Daily Mail
»Sheehans Buch regt zum Nachdenken an und ist
gleichzeitig unglaublich bewegend.«
Eleanor Tucker, The Guardian
Nikki Sheehan Mein Plan zur Rettung der unsichtbaren Freundin von nebenan
Die letzte Kurve
Unsere Familien sind schon immer in beiden Häusern ein
und aus gegangen – im Einfamilienhaus der Cliffs, Potter’s
Lodge, und in Kiln Cottage, unserem bescheidenen Häuschen,
das daran klebt wie ein großer, roter Furunkel an einem Hintern.
Daher überquerte ich wie sonst auch den löcherigen Rasen, den wir uns teilten, kickte im Vorbeigehen einer Pusteblume den flauschigen weißen Kopf vom Stängel und marschierte direkt durch die Hintertür in das Haus der Cliffs.
Drinnen war es dunkel und still, was bei fünf Kindern,
zwei Hunden und der üblichen Anzahl Eltern ungewöhnlich
war. Aber ich wusste genau, wo ich Rocky finden würde.
Obwohl die roten Samtvorhänge im Wohnzimmer zugezogen waren, konnte ich ihn gerade so auf dem Teppich vor
dem Fernseher ausmachen. Er lümmelte faul herum und trug
sein übliches Sommerferienoutfit: Armeehosen mit Tarn-TShirt. Seine frisch geschnittenen Haare waren so kurz, dass es
aussah, als würden sie wie Eisenspäne magnetisch an seinem
Schädel kleben. Man hätte ihn für eine Leiche halten können, wenn seine Hände nicht so quicklebendig den Joystick
der PlayStation bedient hätten.
Er flog mit seinem Rennwagen aus der Bahn, fluchte und
sah auf.
»Alles klar, Joseph? Lust auf ein Rennen?«
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
Meine Hände zuckten und ich ließ mich nicht lange bitten. »Okay.«
Bei Motorrennen kann ich einfach nicht Nein sagen. Ich
schlage Rocky jedes Mal – ich schlage jeden jedes Mal, und
ich weiß, dass das bescheuert ist, aber ich liebe es, zu gewinnen, selbst gegen jemanden, der wie ein Blinder mit Boxhandschuhen spielt.
»Dann such dir deine Waffe aus.«
Ich nahm den Joystick und entschied mich für meinen
Lieblingsrennwagen, den grünen mit der weiß gestreiften
Motorhaube.
Er stöhnte. »Ah, komm schon, Joseph, nicht den. Du
weißt doch sowieso, dass du gewinnst. Lass mich das schnellste Auto haben.«
»Der Wagen spielt keine Rolle. Es kommt darauf an, wie
man damit fährt. Nimm ein Motorrad. Die sind schneller.«
»Warum willst du dann das Auto? Na gut, du kannst es
haben, wenn du mit der linken Hand spielst.«
Ich lächelte. »In Ordnung.«
Mit der linken Hand bin ich nämlich auch ziemlich gut.
Während der vielen Abende, an denen ich darauf gewartet
habe, dass Mum zurückkommt, habe ich mit beiden Händen
geübt. Ich habe es sogar mit den Füßen probiert und selbst
mit denen habe ich es gerade so über die Rennbahn geschafft.
Wir stellten uns am Start auf. Ich dehnte die Finger, bis
die Knöchel knackten, und schob mir das Haar aus den Augen. Ich bin zwar gut, aber was sehen muss ich trotzdem.
Dann 3, 2, 1 und wir brausten los.
Während ich spiele, könnte alles um mich herum passieren – jemand könnte hereinkommen, mir die Schuhe aus-
Nikki Sheehan Mein Plan zur Rettung der unsichtbaren Freundin von nebenan
ziehen, die Fußnägel schneiden und sie pink lackieren, ich
würde es nicht merken. Zuerst war es die übliche Geschichte.
Ich hatte das Gefühl, dass ich tatsächlich in diesem unglaublichen Flitzer saß und nicht zwischen Krümeln und Hundehaaren auf dem durchgesessenen Sofa der Cliffs. Aber gerade
als ich mich der Ziellinie näherte, spürte ich durch den Krach
und das Adrenalin, mit jeder Sekunde lauter und stärker …
Sie.
Klaris.
Es kam mir so vor, als würde sie schreien. Doch irgendwie wusste ich, dass sie nicht wütend war; sie war aufgeregt.
Total aus dem Häuschen.
»Halt die Klappe!«, murmelte ich leise, damit der Lärm
des Spiels meine Stimme überdeckte. Sie schwieg ein paar
Sekunden lang, aber als ich um die letzte Kurve fuhr, war sie
noch immer da, und es fühlte sich an, wie wenn jemand zu
eng bei einem steht und man einatmen muss, was die Person
ausatmet.
Dann fing sie an zu jubeln und ich drehte durch. Obwohl
ich kurz vor dem Ziel war, sprang ich auf und schleuderte
den Joystick durch das Zimmer auf den Sessel. Er prallte ab
und knallte auf den Boden, wobei das hintere Teil und die
Batterie in entgegengesetzte Richtungen davonflogen.
Rocky glotzte mich mit offenem Mund an. »Warum hast
du das gemacht? Du hättest gewonnen.«
»Ich hab nur …« Ich spürte Schweiß auf meiner Oberlippe.
»Alles in Ordnung, Alter? Du siehst irgendwie komisch
aus.«
»Ja, mir ist nur ein bisschen schlecht. Hier drin ist es sti-
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
ckig.« Ich zog die Vorhänge auf und stemmte den unteren
Teil des Schiebefensters hoch. Dann atmete ich tief ein und
flüsterte leise in die frische Luft: »Bist du jetzt zufrieden? Ist
es das, was du wolltest? Geh einfach zu Floh zurück und hör
auf, mein Leben kaputt zu machen!«
Feiner Tee
Als ich mich umdrehte, kniete Rocky auf dem Boden, den
Kopf unter dem Sofa, und fischte nach der Batterie. Seine
Hose war so tief nach unten gerutscht, dass mich sein Hintern groß und weiß anstrahlte, was meine Übelkeit nicht gerade linderte.
Er tauchte mit einer roten Fußballsocke voller Flusen, einer Ein-Pfund-Münze und dem Objekt seiner Begierde, der
lebenswichtigen silbergrauen Batterie, wieder auf. Er stopfte
die Socke zurück unters Sofa, ließ die Münze in seiner Hosentasche verschwinden, steckte die Batterie in den Joystick
und schaltete ein.
»Jep, funktioniert noch. Komm, noch ’ne Runde. Du mit
der linken Hand, ich mit dem grünen Auto, und der Verlierer muss zur Strafe tun, was der Gewinner will.«
Ich lachte. Rocky ist eigentlich nicht auf den Kopf gefallen, aber er ist eindeutig optimistischer, als ihm guttut.
Also spielte ich eine weitere Runde und gewann – machte
ihn völlig platt, um genau zu sein –, und Klaris ließ mich in
Ruhe.
Nikki Sheehan Mein Plan zur Rettung der unsichtbaren Freundin von nebenan
Während des Spiels fühlte ich mich völlig normal, als
wäre alles in Ordnung. Nachdem ich gewonnen hatte, führte
ich meinen üblichen Siegestanz in Rockys Wohnzimmer auf
und erinnerte ihn daran, dass er jetzt alles tun musste, was
ich von ihm verlangte.
»Ich entscheide mich für …«, ich grinste wie ein durchgeknallter Axtmörder – zumindest hoffte ich das, »für Nummer
sieben. Du musst eine durch meine Socke gefilterte Tasse
Tee trinken.«
»Das soll wohl ein Witz sein, Joseph. Das ist eklig.«
Ich grinste. »Die Strafe hast du dir doch selbst ausgedacht.
Ich dachte, du würdest es gerne als Erster ausprobieren.« Ich
warf den Joystick, diesmal ein wenig sanfter, aufs Sofa. »Los,
schalt den Wasserkocher ein.«
Die Küche der Cliffs ist so altmodisch, dass sie locker in
unserem Heimatmuseum stehen könnte.
An Stelle eines Herds haben sie eine rostige grüne Kochplatte, über der ein Wäschegitter voller Unterwäsche hängt.
Dann gibt es da noch die Geschirrschränke aus Holz, die
nicht zusammenpassen, und in der Mitte den alten Kieferntisch. Während auf unserem Küchenboden Linoleum liegt,
besteht ihrer aus unebenen Fliesen mit riesigen Spalten dazwischen, und jedes Mal wenn einer der Cliffs ein Glas fallen lässt, zerschellt es in tausend Stücke und jemand schreit:
»Feuert den Jongleur«, was schon seit Ewigkeiten nicht mehr
lustig ist.
Rocky hatte die Hand in der Schweinchenkeksdose, die
früher einmal Grunzgeräusche von sich gegeben hatte, und
seine Zungenspitze schaute ihm aus dem Mundwinkel, während er darin herumgrapschte. »Oh, komm schon, Kleiner.
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
Und da hab ich dich!« Er holte einen Schokoladenkeks heraus, der uralt aussah und mit so viel Keksstaub bedeckt war,
dass die glänzende braune Glasur darunter perfekt getarnt
war. Er brach ihn auseinander und gab mir die größere Hälfte.
»Danke«, sagte ich. »Aber bild dir bloß nicht ein, dass du
mich bestechen kannst, um deiner Strafe zu entgehen.« Ich
zog einen Turnschuh aus und dann die graue Sportsocke, die
irgendwann einmal weiß gewesen war, und hielt sie ihm vors
Gesicht. Sie hatte immer noch die Form meines Fußes, nur
mit einem münzgroßen Loch am großen Zeh.
Rocky rümpfte die Nase. »Wann hast du die das letzte
Mal gewechselt?«
»Diese Woche.« Ich überlegte. »Oder letzte.«
»Wie wär’s zuerst mit einer Revanche?«, versuchte er es
jetzt. »Der Verlierer muss zwei Sachen machen.«
Ich lachte. »Los, mach schon. Es ist doch bloß eine leicht
feuchte, superstinkige Socke. Du weißt, dass du andere schon
zu schlimmeren Sachen gezwungen hast.«
Rocky runzelte die Stirn. »Ja, aber nicht dich. Nur Floh,
und das zählt nicht.« Er seufzte. »Na schön, aber bloß einen
Schluck. Ich trink nicht die ganze Tasse.«
Ich schüttelte den Kopf. »Den Regeln nach musst du die
Strafe entweder selber ausführen, und das bedeutet, dass du
die Tasse ganz austrinken musst, oder jemanden finden, der
er es für dich tut, aber hier ist sonst niemand. Also mach,
dass du es hinter dich bringst.«
Einen Moment lang war es still, während Rocky die
Lapsang-Souchong-Teeblätter seiner Mutter in meine Socke
löffelte. Als sie anfingen wie Ameisen aus dem löchrigen Zeh
Nikki Sheehan Mein Plan zur Rettung der unsichtbaren Freundin von nebenan
herauszupurzeln, steckte er die Socke in eine Tasse und füllte
sie randvoll mit heißem Wasser.
»Dieser feine Tee wird den Geschmack übertünchen«,
erklärte er. »Was meinst du, soll ich Milch reintun? Meine
Mum trinkt ihn gern schwarz.«
»Ein Tropfen kann nicht schaden«, erwiderte ich. »Milch
und Käse passen gut zusammen. Ist praktisch dasselbe Zeug.«
Er tauchte die mit Tee gefüllte Socke ein paarmal ein,
schlabberte sie dann ins Spülbecken und griff nach dem Zucker. »Das Gebräu muss ich ordentlich süßen.«
»Hey, nimm nicht den ganzen Zucker«, sagte Po, die
gerade mit einem Vampirroman in der Hand in die Küche
kam. »Ich will auch eine Tasse Tee.«
Mir war aufgefallen, dass sie mittlerweile etwa zwei Zentimeter größer war als ich, obwohl ich ein paar Monate älter
bin. Sie trug eine kurze Jeanshose und ein weißes Shirt mit
Spaghettiträgern. Und nach den vielen Wochen, die sie im
Garten in der Sonne gelegen hatte, war sie braun gebrannt
und ihr langes Haar strohblond.
Sie schnupperte an Rockys Tee. »Der riecht gut, irgendwie rauchig. Den nehme ich auch.«
»Dieses feine Zeug trinkst du doch sonst gar nicht«,
wandte Rocky ein. Dann flüsterte er mir laut zu: »Sie tut nur
so erwachsen, um dich zu beeindrucken.«
»Träum weiter!«, gab Po zurück, aber ihre Wangen färbten sich rot. »Geh aus dem Weg, damit ich mir eine Tasse
machen kann.«
Rocky grinste mich an und hielt ihr seine hin. »Bitte
schön, Po. Du kannst meinen Tee haben. Ich glaub, ich mag
den normalen lieber.«
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Sie nahm die Tasse und schnupperte noch einmal daran.
»Was hast du damit gemacht?«
Rocky runzelte die Stirn. »Was soll das heißen?« Er
blickte sie an wie ein ausgesetztes Hündchen. »Du glaubst
doch nicht etwa, dass ich den Tee vergiftet habe, oder? O
Mann, Po, das fass ich nicht! Da tu ich mal was Nettes für
dich, meine einzige Schwester, und du glaubst, ich will dich
umbringen. Es muss so riechen. Das ist feiner Tee. Feine
Tees riechen immer so. Deshalb trinkt man sie ja. Komm,
Joseph«, sagte er und richtete sich steif auf. »Lassen wir Po
ihren ›vergifteten‹ Tee genießen.«
Als wir das Zimmer verließen, entdeckte sie offenbar die
Socke im Spülbecken.
»Hey, was ist das?«
Wir rannten hinaus in den Garten und warfen uns lachend auf den Rasen. Ich zog die andere Socke aus und versteckte sie in meiner Hosentasche.
»Keine Sorge, Joseph«, sagte Rocky. »Wenn sie dahinterkommt, sag ich einfach, dass es Klaris war.«
Mein Herz kam kurz ins Stolpern. »Ja, aber Floh ist doch
gar nicht hier«, antwortete ich und bemühte mich normal
zu klingen. »Wie kann es dann irgendwas mit Klaris zu tun
haben?«
Rocky grinste und die Sonne glänzte auf seinen großen
Vorderzähnen. »Hast du’s nicht gehört? Klaris ist ein ganz
ungezogenes Mädchen gewesen. Mein Dad glaubt, dass sie
bösartig wird.«
Ich versuchte angestrengt meine Stimme unter Kontrolle
zu halten, traute mich aber nicht mehr zu sagen als: »Warum?«
Nikki Sheehan Mein Plan zur Rettung der unsichtbaren Freundin von nebenan
»Oh, eigentlich sind es bloß ’ne Menge Kleinigkeiten,
aber Dad sagt ständig, dass es in Shorefield auch so angefangen hat. Du weißt schon, erst verstecken sie die Zahnstocher,
und ehe man sich’s versieht, ermorden sie uns alle in unseren
Betten.«
Er fing an die Blütenblätter von einem Gänseblümchen
abzureißen. »Hätte eigentlich nicht gedacht, dass die kleine
Klaris das Zeug dazu hat. Jedenfalls redet er davon, den Gemeinderat einzuschalten.«
»Was, für die Kappung?«
Er nickte. »Ich glaub aber nicht, dass er es macht. Das würde er Floh nicht antun. Er redet viel, wenn der Tag lang ist.«
Ich versuchte, diese Information erst mal zu verdauen,
doch davon bekam ich Magenschmerzen. Ich hatte niemandem erzählt, dass Klaris mich nervte. Ich konnte es nicht.
Nur merkwürdige Eigenbrötler wie Floh haben unsichtbare
Freunde. Nicht dreizehnjährige Jungs mit echten Kumpels,
die Fußball spielen und nicht besonders gut in Kunst oder im
Aufsatzschreiben sind und die vor allem nicht viel Fantasie
haben. Also nicht Typen wie ich selbst, die so normal sind,
dass es beinahe unnormal ist.
Und niemand, ganz gleich wie unnormal, teilt sich unsichtbare Freunde mit einem anderen. Es sei denn, sie sind
abgewandert, und ich war noch nicht bereit, das in Betracht
zu ziehen.
»Was soll sie denn gemacht haben?«
»Ach, nichts Besonderes. Dad ist nur genervt, dass seine
Autobatterie ständig leer ist, weil sie die Autobeleuchtung
über Nacht anlässt und er deshalb zur Arbeit laufen muss.
Du weißt ja, wie faul er ist.«
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m K inderbuch
»Das ist alles?«, fragte ich. Dabei wollte ich doch eigentlich nur eins wissen, nämlich ob sie noch andere in den
Wahnsinn trieb, indem sie in ihre Köpfe eindrang.
»Keine Ahnung. Frag den Spinner.« Rocky wies mit dem
Kopf auf Floh, der auf Zehenspitzen über den Rasen tappte
und lächelte, jedoch nicht in unsere Richtung.
»Hey, Floh!«, rief Rocky. »Joseph will wissen, was Klaris
alles angestellt hat.«
Floh sah einen Moment lang zu mir herüber, mit ausdrucklosem Blick und offenem Mund wie ein Fisch auf Eis,
dann drehte er sich um und rannte zurück zum Haus.
»Wie unhöflich«, sagte Rocky. »Kein Wunder, dass ihn
keiner mag.«
Doch ich wusste, dass er nicht unhöflich gewesen war. Er
hatte Klaris zugehört. Und ihm hatte nicht gefallen, was sie
ihm erzählte.
Wie es weitergeht? Fordern Sie mit dem Bestellschein doch das
Leseexemplar dazu an. (Auch als E-Book möglich)
Nikki Sheehan
Mein Plan zur Rettung der unsichtbaren Freundin von nebenan
Aus dem Englischen von Ann Lecker
Umschlag: formlabor
Ca. 272 Seiten
Ab 11 Jahren
15 x 21 cm, gebunden
ISBN 978-3-551-55360-7
Ca. € 13,99 (D) / € 14,40 (A) / sFr 20,90
Erscheint im April 2015
book
Er z ä hl e n d e s P ro g r a m m
J ugendbuch
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
Lauren Morrill
Besser als der beste Plan
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
i
All You Need Is Love
Von dieser Klassenfahrt nach London hat Julia schon
lange geträumt. Schade, dass ihr Sandkastenfreund Mark
fehlt, in den sie heimlich verliebt ist. Ihr Referatspartner
wird nämlich ausgerechnet der nervige Jason, der sich
ständig über ihr Faible für ausgefeilte Pläne lustig macht.
Nach einer Party bekommt Julia eine SMS von einer unbekannten Nummer und jagt dem Absender gemeinsam mit
Jason quer durch London hinterher. Am Ende wartet eine
Überraschung auf sie, denn manchmal kann das Leben
auch den besten Plan durchkreuzen.
• Liebeskomödie zum Dahinschmelzen
und Unter-der-Bettdecke-Kichern
• Dialoge zum Einrahmen
• London spielt die heimliche Hauptrolle
• Debüt einer vielversprechenden Autorin
• Liebling von Buchbloggern
• für Fans von Jennifer E. Smith, Megan McCafferty
und Sarah Dessen
Lauren Morrill wuchs in Tennessee auf und studierte
Geschichte. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem
Hund Lucy in Cambridge, Massachusetts. Wenn sie nicht
schreibt, spielt sie leidenschaftlich gerne Roller Derby.
Besser als der beste Plan ist ihr erster Roman.
Lauren Morrill
Besser als der beste Plan
1
Aufs Ganze gehen in 10. 000 Metern Höhe
Gute Reise, und mach gern alles,
was ich nie tun würde :) – P
Gewisse Dinge im Leben sind einfach mehr als überflüssig. Eine große Schüssel Cornflakes mit Milch zu übergießen, um dann zu merken, dass die Milch sauer ist, zum Beispiel. Oder Wörter wie »feucht«. Oder vor den Augen der
gesamten Lacrosse-Mannschaft mit dem Gesicht voran in die
Salatbar zu fallen ...
»Vogelschlag!«
Oder mit Jason Lippincott im selben Flugzeug zu sitzen.
Jason reckt zwei Reihen vor mir pseudoflehentlich die
gefalteten Hände gen Himmel, während unser Flieger auf
und ab hüpft, als hinge er an einem Bungeeseil. Nicht dass
ich auch nur die leiseste Ahnung hätte, wie sich Bungeespringen anfühlt. Lieber würde ich in Unterwäsche an einem
Buchstabierwettbewerb teilnehmen, als bloß mit einem Seil
an den Knöcheln von einem Kran zu springen. Denn beim
Buchstabierwettbewerb würde ich wenigstens eine Medaille
bekommen.
Meine Finger krallen sich in die Armlehne, während das
Flugzeug mehrere Dutzend (oder Hundert?) Meter an Höhe
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
verliert. Jasons Gebete mögen ja reines Theater sein, aber
meine sind sehr, sehr echt. Bitte, lieber Gott, setz mich heil
in London auf der Erde ab … und könntest du irgendwie
dafür sorgen, dass Jason die Klappe hält?
Ich hasse Fliegen. Wirklich. ICH HASSE ES . Es kommt
mir einfach nicht richtig vor, mit Warp-Geschwindigkeit in
einer Metallröhre durch die Wolken zu düsen. Das ist genauso absurd, wie mit einer Schleuder über den Atlantik befördert zu werden.
Ich stecke meine Shakespeare-Taschenausgabe in das
Fach auf der Rückseite des Vordersitzes und rücke sorgfältig
die Zeitschriften auf meinem Klapptisch wieder gerade, die
in den Turbulenzen durcheinandergeraten sind.
»Wir stürzen ab!« Das kommt – was für eine Überraschung! – wieder von Jason.
Das Flugzeug wackelt jetzt noch schlimmer. Meine Knie
stoßen gegen den Klapptisch, woraufhin meine halb leere
Erdnusstüte und mein kompletter Zeitschriftenstapel in den
Mittelgang segeln. Ich umkralle reflexartig wieder die Armlehne und der Geschäftsmann neben mir schreit laut auf.
Ups. War nicht die Lehne. Sondern sein Oberschenkel.
(Kam mir gleich ein bisschen wabbelig vor.)
Ich murmele eine Entschuldigung und verlege meinen
Kung-Fu-Griff auf die echte Armlehne.
Einatmen, ausatmen. Ich schließe die Augen und versuche mir Mark vorzustellen. Seltsamerweise kommt mir dabei
als Erstes sein Foto aus dem Jahrbuch in den Sinn. Mark hat
die perfekt proportionierten Gesichtszüge eines Models und
ein breites Lächeln, das perfekt weiße, absolut gerade Zähne
entblößt. Nur ein Zahn, der dritte von der Mitte ausgesehen,
Lauren Morrill
Besser als der beste Plan
steht ein winziges bisschen schief, und den liebe ich besonders, weil er umso deutlicher macht, wie gerade die anderen
sind. Marks dichtes, welliges braunes Haar liegt immer genau so, wie es liegen soll. Gerade verstrubbelt genug, aber
nicht zu sehr – und das ganz ohne irgendwelche pomadigen
oder klebrigen Haarpflegeprodukte. Perfekt. Genau wie er
selbst. Endlich kann ich mich wieder entspannen. Ich fühle
mich, als würde ich auf dem Rücken eines kleinen Singvogels
über den Atlantik gleiten und nicht an einen unbequemen
Polyestersitz geschnallt.
Dann stößt Jason ein lautes »Whoohoo!« aus, und schon
ist es mit meiner von Mark inspirierten buddhistischen Gelassenheit wieder vorbei.
Ich setze mich in meinem Sitz auf. Jason hat die Arme
hochgerissen, als säße er in einer Achterbahn. Eine hübsche
Stewardess huscht durch den Gang zu ihm hin. Gut. Wenn
Gott Jason nicht zum Schweigen bringen kann, dann vielleicht sie.
Ich recke den Hals, um nur ja nichts von der Standpauke
zu verpassen, die ihm jetzt garantiert blüht. Aber Fehlanzeige. Die Stewardess überreicht ihm etwas in einer Papierserviette, das er sofort auspackt, und es kommt ein Stapel Chocolate Chip Cookies zum Vorschein. Daran, wie vorsichtig er
sie anfasst, erkenne ich, dass sie noch warm sind.
Die Stewardess lächelt Jason an. Er sagt etwas und sie fängt
an zu lachen. Der Kerl benimmt sich unmöglich und bekommt
dafür auch noch Kekse aus der Ersten Klasse geschenkt!?
»O mein Gott! Er ist einfach zum Brüllen! Findest du
nicht auch?« Das sagt Sarah Finder, die amtierende Klatschtante der Newton North Highschool, während sie ihrer Sitz-
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
nachbarin Evie Ellston den Ellbogen in die Rippen stößt und
mit dem Kinn auf Jason weist.
»Ja, absolut. Echt süß. Das mit Scarlet ist doch vorbei,
oder?«
»Aber so was von vorbei. Die beiden haben sich schon vor
Wochen getrennt.« Natürlich weiß Sarah Bescheid. Sarah
weiß immer Bescheid. Während der inzwischen drei Stunden und 27 Minuten, die wir auf diesem Flug sind, haben
Sarah und Evie wirklich jeden Mitschüler durchgehechelt.
(Mit Ausnahme von mir – wahrscheinlich, weil es in der
achten Klasse zum letzten Mal etwas über mich zu tratschen
gab, als Bryan Holloman am Valentinstag eine Filzrose an
mein Schließfach geklebt hat. Dass eigentlich Stephenie Kelley diese Rose hätte bekommen sollen, war damals aber der
einzige Grund, weshalb das irgendwen interessiert hat.) Auf
meinem Beobachterposten in der Reihe gleich hinter Sarah
habe ich inzwischen von Amber Rileys angeblicher NasenOP erfahren, von Rob Diamos Suspendierung, weil er beim
Rauchen in der Putzkammer erwischt wurde, und von der
Schmach, die Laura Roberts erlitten hat, weil ihre Mutter ihr
einen zwölf Jahre alten Honda statt des brandneuen Range
Rovers geschenkt hat, von dem sie allen schon erzählt hatte,
dass sie ihn bekommen würde.
»Meinst du, er ist total verletzlich und anlehnungsbedürftig? Auf der Suche nach einer neuen Beziehung?« Evie hat einen übertrieben großen Mund in einem übertrieben großen
Gesicht und zieht alle Vokale übertrieben in die Länge.
»Das bezweifle ich«, antwortet Sarah. Dann senkt sie die
Stimme: »Er hat gesagt, er will dem Mile High Club beitreten.«
Lauren Morrill
Besser als der beste Plan
»Was, wirklich? Ist das nicht, wenn Leute ... du weißt
schon ... in einem Flugzeug?« So wie Evies Stimme auf
Mariah-Carey-Höhen steigt, kann man nicht genau unterscheiden, ob sie der Gedanke abstößt oder ob sie sich als willige Partnerin ins Spiel bringen will.
»Pssst! Und ja, absolut. Du kennst ihn doch. Er ist für
alles zu haben«, meint Sarah.
Igitt. Ich spreche ein stilles Gebet, damit Gott Sarah
ebenfalls auf die Liste der vorübergehend mit Stummheit zu
Schlagenden setzt, während er ansonsten fleißig daran arbeitet, unseren Flieger in der Luft zu halten. Ich meine, ich
bin absolut keine von diesen prüden Tanten, die es für eine
Todsünde oder ein soziales Todesurteil halten, wenn man als
Teenager Sex hat. Ich habe kein Problem mit Sex. Es ist nur
so, dass ich zufällig keinen habe. Und selbst wenn ich Sex
hätte, dann ganz bestimmt nicht auf einer Flugzeugtoilette.
Wer will denn auf so engem – und noch dazu stinkigem –
Raum aufs Ganze gehen?
Ich schließe die Augen und versuche zu Mark zurückzukehren, aber Sarahs schneidende Stimme zersägt meine Fantasiebilder wie eins dieser Wundermesser aus der Fernsehwerbung. Zerlegt Dosen, Schuhe und Tagträume.
Da ich der Gesellschaft des imaginären Marks beraubt
bin, bleibt mir nur eine Methode, um das loseste Maul der
Schule auszublenden und gleichzeitig alle Gedanken an das
drohende Airmageddon zu vertreiben. Ich hole meinen iPod
aus der violetten Tasche, die sicher unter dem Sitz vor mir
verstaut ist, entwirre die Kabel und suche nach etwas Ruhigem. (Meine Wahl fällt auf Hayward Williams. Er klingt,
als hätte jemand Schotter und Butter zusammen in einen
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
Mixer gegeben und heraus kam seine Stimme.) Aber als ich
mir die Knöpfe ins Ohr stecken will, stoße ich auf etwas
Nasses und Klebriges, das in meinen Locken festhängt. Ich
ziehe das Ende von meinem Pferdeschwanz nach vorn und
entdecke etwas, das aussieht, riecht und sich anfühlt wie ein
Kaugummi mit Traubengeschmack.
Hinter mir fängt jemand hysterisch an zu kichern. Ich drehe
mich um und erblicke einen kleinen Jungen, vielleicht sieben,
in einem Buzz-Lightyear-T-Shirt. Er grinst wie ein Wahnsinniger, während seine Mutter friedlich neben ihm schläft.
»Hast du etwa ...«, flüstere ich und halte ihm meinen
Pferdeschwanz vor die Nase.
»Ups!«, macht er und kichert sofort aufgedreht weiter.
Seine runden Wangen leuchten knallrot unter seinem Mopp
aus blonden Locken hervor.
Kinder kommen auch auf die Liste der Dinge, die ich
hasse. Fliegen und Kinder.
Nach einigen Minuten vorsichtigen Zupfens, gefolgt von
einer Phase kräftigen Reißens (derweil ich meinen Eltern dafür danke, dass ich Einzelkind bin), wird eins klar: Ich werde meinen Sitz verlassen und auf die Toilette gehen müssen,
und zwar unter totaler Missachtung des vom Piloten eingeschalteten Anschnallzeichens.
Ich gehe nicht auf Bordtoiletten. Grundsätzlich nicht.
Und ich verstoße wirklich ungern gegen die Regeln. (Das
ist quasi eine meiner Regeln.) Wenn ich schon in den Tod
plumpsen soll, dann doch bitte nicht mit heruntergelassenen
Hosen. Aber einen fetten Kaugummi im Pferdeschwanz zu
haben, ist definitiv ein Notfall, egal wie wenig ich mich sonst
um meine chlorgeplagte, wilde braune Mähne kümmere. Ich
Lauren Morrill
Besser als der beste Plan
öffne vorsichtig meinen Gurt, behalte die Küche mit den
Stewardessen im Auge und begebe mich auf dem kürzesten
Weg zur Toilette.
Während ich an der glibbrigen rosa Masse herumzupfe,
die sich auf meinem Kopf breitgemacht hat, höre ich durch
die Wand ein leises Kichern. Was ist bloß los mit den Leuten,
dass sich alle benehmen, als wären sie im Vergnügungspark?
In diesem Moment wäre ich sogar lieber auf der Titanic. Da
würde ich wenigstens komfortabel reisen, mit Kristallgläsern
und vorgewärmten Handtüchern.
Irgendwann reiße ich das letzte Stück Kaugummi aus
meinen Haaren und kann endlich die Toilette verlassen. Dabei verfängt sich der Ärmel meines Kapuzenshirts am Griff
der schmalen Falttür. Ich fahre herum, stoße mir den Ellbogen am Türrahmen, befreie mich endlich und will zu meinem Sitz zurück. Doch genau in diesem Augenblick macht
das Flugzeug einen Satz, so dass ich wie eine Kanonenkugel in den Gang geschleudert werde. Zwei Arme bewahren
mich davor, mir den Kopf am Türrahmen einzuschlagen. Ich
schaue hoch und sehe, dass Jason Lippincott mich festhält.
»Streberleiche!«, begrüßt er mich mit meinem verhassten
Spitznamen aus der Junior Highschool. Er grinst und einige der Sommersprossen auf seiner Stirn rücken zusammen.
»Genießt du den Flug?«
Ich mache mich von ihm los. »Ich heiße Julia«, antworte
ich so ruhig wie möglich und ziehe am Saum meiner Hosenbeine, die sich über die Sohlen meiner Turnschuhe geschoben haben.
»Selbstredend«, sagt er und zeigt auf den Gang hinaus.
»Nach Ihnen.«
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
»Ähm, danke«, bringe ich hervor. Vielleicht sieht er mir
an, wie dringend ich zu meinem Anschnallgurt zurückwill.
Wir gehen durch den Gang und ich fühle die Blicke meiner Mitschüler auf mir. Die Blicke verwandeln sich bald in
Gekicher und dann in lautes Gelächter. Ryan Lynch, der
Kapitän der Lacrosse-Mannschaft, grinst mich dämlich an.
Sarah flüstert Evie aufgeregt etwas zu, die Augen auf mich
gerichtet. Ich habe absolut keine Ahnung, was los ist, und
frage mich sofort, ob ich vielleicht noch mehr Kaugummi
in den Haaren habe oder ob irgendwas davon in meinem
Gesicht gelandet ist. Während ich an meinem Kopf herumtaste, sehe ich im Augenwinkel, dass neben mir jemand wild
gestikuliert. Ich wende mich um und kriege gerade noch mit,
wie Jason eine stoßende Hüftbewegung in meine Richtung
macht und Ryan zuzwinkert. Der streckt die Hand aus und
klatscht Jason ab.
Lauren Morrill
Besser als der beste Plan
Aus dem Englischen von Birgit Schmitz
Umschlaggestaltung: Suse Kopp
Ca. 368 Seiten
Ab 12 Jahren
15 x 22 cm, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-551-58316-1
Ca. € 17,99 (D) / € 18,50 (A) / sFr. 25,90
Erscheint im August 2015
book
Dawn O’Porter
Papierfliegerworte
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
i
Renée und Flo haben nicht viel gemeinsam. Renée ist
wild und impulsiv, während die nachdenkliche Flo sich
von ihrer angeblich »besten Freundin« Sally schikanieren
lässt. Beide kommen jedoch aus schwierigen Familienverhältnissen und sind oft einsam. Als Flos Vater stirbt,
ist es plötzlich Renée, die ihr Halt gibt. Die beiden
Mädchen treffen sich heimlich und kommunizieren in
der Schule nur über Papierflieger. Es ist eine Freundschaft, die ihr Leben verändern wird. Doch Renée hat ein
Geheimnis, das alles wieder in Frage stellen könnte.
• ein Buch über Freundschaft, Selbstvertrauen, Familie
und Verlust, erzählt mit ganz viel Herz und Humor
• zeitlos und authentisch, als Leser fühlt man sich den
Charakteren sehr nah
• basiert auf den Tagebüchern der Autorin
• Leseexemplar
• die Fortsetzung erscheint im Frühjahr 2016
Dawn O’Porter ist eine britische Journalistin und Moderatorin. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wuchs sie bei
einer Tante auf der Insel Guernsey auf. Heute lebt sie mit
ihrem Mann, dem Schauspieler Chris O’Dowd, ihrer Katze
Lilu und ihrem Hund Potato in Los Angeles.
Papierfliegerworte ist ihr erster Roman.
Dawn O’Porter
Papierfliegerworte
Papierfliegerworte ist ein Roman über Renée und Flo – zwei
Mädchen, denen mit der Zeit klar wird, dass sie einander brauchen,
um sie selbst sein zu können. Es geht um Freundschaft, im Guten
wie im Schlechten.
Obwohl es durchaus Ähnlichkeiten zwischen mir und den beiden
(insbesondere mit Renée) gibt, sind doch alle Figuren in diesem Buch
frei erfunden. Allerdings habe ich mich dabei von meinen Tagebüchern
inspirieren lassen. Das Buch spielt im Jahr 1994 und die Mädchen
sind so alt wie ich damals, nämlich fünfzehn. Schauplatz der Handlung ist Guernsey – eine kleine Insel vor der französischen Küste –,
und wer von dort stammt, wird viele Orte, die im Buch genannt werden, wiedererkennen. Manche Namen habe ich aber auch abgeändert,
um für Renée und Flo eine eigene Welt zu erschaffen.
Meine Tagebücher aus diesem Altersabschnitt noch einmal zu
lesen war faszinierend und grauenhaft zugleich. Zu einer Zeit, in der
es weder Facebook noch Twitter, keine Handys und natürlich auch
noch kein Internet in dieser Form gab, funktionierten Freundschaften
völlig anders. So sehr ich mittlerweile aufs Internet angewiesen bin
(beinahe mehr als auf die Luft zum Atmen), hat es doch Spaß gemacht, sich zu erinnern, wie einfach früher alles war.
Hoffentlich gefällt euch diese Geschichte. Sie zu schreiben war
eine befreiende Erfahrung und hat viele Erinnerungen wieder wach
werden lassen. Zum Glück hatte ich noch meine Tagebücher, aus
denen ich ablesen konnte, wie man sich als Teenager tatsächlich fühlt;
ich wünschte, ich hätte nicht mit sechzehn aufgehört, sie zu schreiben.
Allen Teenagern, die heute ein Tagebuch führen, kann ich nur raten,
dabeizubleiben. Das Selbstgeschriebene entpuppt sich viele Jahre später beim Wiederlesen als die beste Geschichte überhaupt.
Dawn
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
Guernsey
September 1994
1. Kapitel
Ein Neues Schuljahr
Flo
»Sieht doch gut aus. Jetzt komm schon.«
Ich betrachte mein Spiegelbild. Es sieht definitiv nicht
gut aus.
»Hochgebunden steht es mir besser.«
»Nein, tut es nicht. Lass es offen. Sonst hast du ein Riesenkinn.«
Autsch. Ich trage mein Haar nie offen, das weiß sie.
»Und außerdem habe ich mir heute die Haare hochgebunden, deshalb geht das nicht.« Sally wirbelt herum und
stampft Richtung Tür. Ich starre weiter in den Spiegel und
raffe aufsässig meine schlaffen dunkelbraunen Strähnen zu
einem Pferdeschwanz, quetsche mir dabei die Finger mit
dem Gummiband ein und zucke zusammen, als ich mir auch
noch ein paar Haare ausreiße. Schließlich ist es geschafft und
ich sehe nichts als Kinn.
Na super! In weniger als drei Minuten hat sie es geschafft,
mich auf völlig neue Art wieder einmal total zu verunsichern.
Mein fettes Kinn ist jetzt ganz oben auf der Liste, direkt ne-
Dawn O’Porter
Papierfliegerworte
ben der großen Nase, auf die sie mich hingewiesen hat, als
wir zehn waren. Wenn es dieses Jahr eine Jahresprüfung im
Fach »Flo paranoid machen« gäbe, würde sie ein A* kriegen.
Also mache ich die Haare wieder auf und sause ihr aus
der Toilette und durch den Flur hinterher. Sie steuert auf
das Klassenzimmer zu wie eine künftige Direktorin, die um
sich Angst und Schrecken verbreitet. Keine trägt die Schuluniform so wie Sally: die Bluse gleichmäßig und ordentlich
in den festen grünen Rock gesteckt, der exakt die vorschriftsmäßige Länge hat und genau am Knie endet. Ihre Krawatte – eine richtige, nicht so ein Fake mit Gummiband wie
meine – ist perfekt geknotet, ihr hellbraunes Haar ist hochgesteckt und erinnert ehrlich gesagt ein bisschen an einen
Hundehaufen. Sie bewegt sich vorwärts wie auf Schienen,
in ihrer üblichen Haltung – Nase hochgereckt, lauernder
Blick auf der Suche nach irgendwas, das sie kritisieren kann,
eine Kampfmaschine kurz vor dem Einsatz. Ich gehe neben ihr her, immer meiner großen Nase nach – einem Pfeil,
der zunehmend an Schwung verliert. Den ganzen Sommer
lang habe ich mir eingeredet, dass es dieses Jahr anders laufen wird, aber schon am ersten Morgen im neuen Schuljahr
bringt mich meine »beste Freundin« trotz meiner bis zum
Knie reichenden Strümpfe zum Schlottern.
»Warum müssen wir denn unbedingt ganz vorne sitzen?«,
frage ich nervös.
»Flo! Es ist jedes Jahr das Gleiche mit dir. Ich sehe zu,
dass wir so früh wie möglich in der Schule sind, damit wir die
besten Plätze im Klassenzimmer kriegen, und du jammerst
immer bloß rum UND hältst mich auf. Wegen deiner Trödelei sind wir wieder nur ganz knapp vor den anderen da.«
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
»Sorry, aber ich musste noch zusehen, dass Abi ihr Frühstück kriegt.«
»Wieso macht deine Mum das nicht? Ist doch schließlich
ihr Kind.« Womit bewiesen wäre, dass Sally kein Wort von
dem mitbekommt, was ich ihr so erzähle.
»Weil Mum und Julian sich ins Wohnzimmer verzogen
und über Dad geredet haben.« Ich lade meinen Rucksack auf
meinem neuen Pult ab. »Habe ich dir schon erzählt, dass er
ausgezogen ist?«
»Julian ist ausgezogen? Wieso das denn?« Sie testet den
Stuhl an ihrem Pult und tauscht ihn gegen einen aus der
Reihe dahinter aus, der nicht wackelt.
»Nein, Dad ist ausgezogen.« Ich versuche, mir meine
wachsende Verärgerung nicht anmerken zu lassen.
»Fängst du jetzt schon wieder damit an, dass dein Dad
Depressionen hat? Das zieht mich echt runter.«
»Er ist ausgezogen und fehlt mir.«
»Du redest von nichts anderem mehr.«
Ich lege mir meine Sachen auf dem Pult zurecht.
»Hast du dieses Jahr nicht mal ein neues Federmäppchen?«, ätzt Sally weiter.
»Das hier ist doch okay«, sage ich ruhig.
»Okay, okay, okay. Immer ist alles bloß ›okay‹. Meine
Güte, ist das langweilig. Wer will denn schon ›okay‹ sein?«
Ich denke eine Weile darüber nach und komme ziemlich
schnell zu der Erkenntnis, dass mir ganz ehrlich nichts lieber
wäre, als einfach nur okay zu sein.
Dawn O’Porter
Papierfliegerworte
Renée
Nana reißt die Vorhänge beiseite, baut sich vor uns auf und
murmelt irgendwas von »Neues Schuljahr, neuer Anfang«.
Ich halte mir die Augen zu und versuche das Morgenlicht
auszublenden, aber sie lässt keinen Zweifel daran, dass dies
ihr erster und letzter Abstecher in unser Zimmer ist, bevor
wir zur Schule müssen.
»Ich geh zuerst ins Bad«, schnauzt Nell mich an und
schiebt ihren dürren Körper am Fußende meines Betts vorbei. Sie wird wieder eine halbe Ewigkeit da drin brauchen,
aber ich kann warten. Der Hunger treibt mich aus dem Bett.
Pop sitzt in einem weißen Unterhemd am Tisch, kippt
heißen Tee wie ein Glas Wasser in sich hinein und flickt
einen Schuh von Nana an der Sohle. Er gibt Grunzgeräusche
von sich.
»Morgen, Pop. Für dich auch ein bisschen Speck?«, frage
ich.
»Ich esse tagsüber nichts«, gibt er zur Antwort, ohne aufzusehen.
Das wusste ich auch schon vorher. Er isst tagsüber nie
was. Mum hat mir erklärt, dass es etwas mit Kontrolle zu tun
hat: Er stellt sich Herausforderungen, um sich zu vergewis-
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
sern, wer der Boss ist. Wenn man mich fragt, dann braucht
er keine Mahlzeiten auszulassen, um klarzumachen, wer der
Boss ist. Jähzornig wie er ist, zweifelt niemand daran, wer in
diesem Haus die Regeln aufstellt.
»Sieh zu, dass genug für deine kleine Schwester übrig
bleibt, Renée. Denk nicht immer nur an dich.«
Ich schlappe zum Kühlschrank, schäle vier Scheiben Billigspeck von dem Riesenstapel in der Verpackung ab und lasse sie auf dem Weg zum Herd von meinen Fingern baumeln.
Für Nell Frühstück zu machen ist totale Zeitverschwendung,
so viel ist sicher.
»Ich will auch ein Ei. Nein, zwei, und Speck und drei
Scheiben Toast und Schoko-Pops«, sagt sie, als sie in die Küche kommt. Sie schaufelt das Essen in sich hinein, als hätte
sie seit Wochen nichts mehr zwischen die Zähne bekommen.
Nana und Pop loben sie dafür, aber ich kann kaum zusehen.
Ich spüle meinen Teller und die Tassen ab, die noch im
Spülbecken standen, und gebe Nana einen Kuss. Sie hält
ihren geflickten Schuh in der Hand, der nach zwei kurzen
Gängen zum fünfzigsten und endgültig letzten Mal auseinanderfallen wird.
»Hast du deinen Teller abgewaschen, Renée?«, ruft Pop
mir nach, als ich rauf ins Bad gehe.
Ich verkneife mir eine Antwort.
Im Bad eingeschlossen ziehe ich die Schminkschublade
heraus. Sie ist noch genauso, wie Mum sie vor acht Jahren
hinterlassen hat. Der Duft von Chanel No° 5 steigt daraus
auf. Die Spitzen ihres Rougepinsels sind immer noch rot –
genau die Farbe, die ihre Wangen hatten. Ich schließe die
Augen und streiche mir mit dem Pinsel übers Gesicht. Als
Dawn O’Porter
Papierfliegerworte
die feinen Borsten mir in der Nase kitzeln, stellen sich sämtliche Härchen an meinem Arm auf und eine dicke Träne fällt
auf meine Oberlippe. An manchen Morgen muss ich weinen,
an anderen nicht, keine Ahnung, warum. Vielleicht hat es
etwas mit meinen Träumen zu tun. Letzte Nacht habe ich
geträumt, dass Mum in Wirklichkeit gar nicht gestorben ist,
sie hatte nur Ärger mit der Polizei und musste untertauchen,
bis sie die Suche nach ihr aufgaben. Als ich nachts aufwachte,
war ich mir sicher, dass das stimmte – bis mir klar wurde,
dass es nicht stimmen konnte, weil ich dort lag, wo sie gestorben ist, in ihrem ehemaligen Schlafzimmer. Dem letzten
Ort, an dem ich sie lebend gesehen habe.
Ich liebe diese Schublade. Bisher hat niemand etwas daraus weggeworfen, was wohl zeigt, wie sehr wir alle uns noch
an etwas klammern. Und weil niemand von uns das je zugeben würde, ist dieser stille Beweis tröstlich. Dass die anderen
auch in die Schublade schauen, weiß ich, weil ich manchmal
ein Haar über Mums Schminksachen lege und es bis abends
immer an einer anderen Stelle ist. Die Schublade ist so was
wie ein Altar in einer Kirche. Ein Heiligtum. Mums Schublade zu entsorgen, das hieße, sich endgültig von ihr zu verabschieden. Und dazu ist keiner von uns bereit.
»MACH HIN !«, schreit Nell und hämmert an die Tür.
Ich putze mir schnell die Zähne und lasse sie rein. Sie knurrt
wie ein gereizter Tiger und schlägt, kaum bin ich halbwegs
draußen, die Tür hinter mir zu.
Fünf Minuten später bin ich angezogen. Meine Schuluniform ruft mir wenigstens ins Gedächtnis, dass es für mich
noch ein anderes Leben jenseits dieses grauen, bedrückenden
Hauses gibt. Ich laufe die Treppe hinunter, hole die Sand-
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
wiches, die ich mir gestern Abend gemacht habe, aus dem
Kühlschrank und gehe.
Die Sommerferien waren lang. Ich kann es kaum erwarten, wieder in der Schule zu sein.
Der Weg dorthin erfüllt wie immer seinen Zweck. Ich
nenne es gern meine tägliche Evolution. Ich verlasse das Haus
mit hängendem Kopf und komme mit hochgerecktem Kinn
und Lust auf ein bisschen Spaß in der Schule an. Es ist so
ähnlich wie bei dem Bild im Biosaal, auf dem mehrere Zeichnungen die Verwandlung vom Affen zum Menschen zeigen.
Als Affe trete ich aus dem Haus, als menschliches Lebewesen
komme ich in der Schule an. Okay, Affe ist vielleicht ein
bisschen zu dramatisch, aber zu Hause bin ich wirklich nicht
ich selbst.
In meinen Zeugnissen heißt es immer, es wäre wünschenswert, wenn ich so viel Energie ins Lernen investierte
wie ins Herumalbern, aber das können die sich sonstwohin
stecken. Außerdem solle ich lernen, mich zurückzunehmen,
aber auch das können sie sich sonstwohin stecken. Madonna
kriegt bestimmt nie zu hören, dass sie sich zurücknehmen
soll, und falls doch, wäre es ihr schnurzegal.
Auf dem Pfad, der mich an den Tennisplätzen vorbei
durch das hintere Schultor führt, kommt das gedrungene
Schulgebäude in Sicht. Tudor Falls ist ein hässlicher Betonklotz mit einem hübschen Namen, aber bei seinem Anblick
muss ich unwillkürlich lächeln. Auf eine komische Art und
Weise macht die Schule mich glücklich. Acht Stunden pro
Tag kann ich dort ich selbst sein – oder jedenfalls eine bessere Version von mir als die zu Hause.
Ich laufe zur Eingangshalle. Aus der Aula dringt der Ge-
Dawn O’Porter
Papierfliegerworte
ruch von gebohnertem Parkett und kitzelt mich im Hals. Als
ich über die frisch gesaugten Teppichfliesen gehe, kreischt
die Schulglocke los wie eine zeternde Lehrerin und macht
mir klar, dass ich spät dran bin. Ich renne weiter durch die
Eingangshalle, vorbei am Direktorat und am Lehrerzimmer –
aus dem es schon jetzt nach frischem Zigarettenrauch riecht
– Richtung Raum 6, unserem neuen Klassenzimmer in der
Zehnten. Rennen in den Gängen der Mädchenschule Tudor Falls ist natürlich streng verboten, aber da alle anderen
schon dort sind, wo sie sein sollen, kann ich es mir erlauben.
Ich stürme durch die Schwingtüren, die als Brandschutz den
Flur in zwei Hälften teilen, und bleibe ruckartig stehen, als
ich einen dumpfen Knall höre.
Ich schleiche zurück, spähe durch die Scheibe und sehe
Miss Le Huray, die Fachbereichsleiterin für Geschichte. Sie
ist zu Boden gegangen und reibt sich die Nase – eine der Türen ist ihr beim Zurückschwingen voll ins Gesicht geknallt.
Ich überlege einen Moment. Eigentlich sollte ich ihr helfen,
aber ein Ordnungseintrag gleich am ersten Tag wäre ziemlich
blöd – bei vier muss man nachsitzen. Ich beobachte sie weiter
und suche nach Anzeichen einer Gehirnerschütterung. Sie
wälzt sich auf die Seite und kommt langsam hoch, fährt sich
über den Hinterkopf. Da kein Blut zu sehen ist, laufe ich
weiter, damit ich rechtzeitig zur Morgenmeldung komme.
Natürlich sind in Raum 6 alle anderen schon da und haben sich ausgesucht, neben wem sie in diesem Schuljahr sitzen. Carla und Gem, meine »besten Freundinnen«, hocken
wie immer nebeneinander, ganz hinten am Fenster. Sie winken mir hektisch zu, halten es aber nicht für nötig, aufzustehen. Wie üblich tue ich so, als mache es mir nichts aus – und
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
fühle mich schon jetzt wieder wie das dritte Rad am Wagen
dieses unzertrennlichen Zweiergespanns. Der einzige freie
Platz ist in der zweiten Reihe vorne rechts, meilenweit weg
von Carla und Gem und neben Margaret Cooper, mit der
ich seit fünf Jahren zusammensitze.
Es ist jedes Jahr das Gleiche: Ich komme zu spät und
Margaret hält mir einen Platz frei. Ich mag sie, sie ist witzig, aber wir sind nicht wirklich befreundet. Wir albern im
Unterricht herum und tun uns zusammen, wenn Partnerarbeit angesagt ist. Aber wir telefonieren nie nach der Schule
und treffen uns auch nicht am Wochenende. Sie ist einfach
außer mir die Einzige in unserem Jahrgang, die keine beste Freundin hat, und damit bleibt sie mir, wenn Carla und
Gem mal wieder total aufeinander fixiert sind und vergessen,
dass es mich überhaupt gibt. Es ist gut, so eine Margaret in
der Schule zu haben.
In der Achten haben wir uns manchmal gegenseitig besucht. Einmal hat ihre Mum mich nach dem Korbballtraining mitgenommen. Wir stanken beide wie die Pest und
haben zusammen geduscht, und ich konnte es echt nicht
fassen, wie viel Schamhaar sie da schon hatte. Bei mir waren
es nur so ein paar Härchen in einer Linie und bei ihr ein
Wahnsinnsbusch. Manchmal frage ich mich, ob Margaret es
komisch fand, dass ich es so direkt gesehen habe, aber sie war
von allen in unserer Klasse am frühesten dran und scheint
kein Problem damit zu haben. Sie hatte schon mit zwölf einen Busen und hat seit Ewigkeiten ihre Tage; das weiß ich,
weil sie jede Menge Binden in ihrem Pult hortet und gar
nicht erst versucht es zu verheimlichen. Ich finde das ganz
schön seltsam. Ich habe meine Tage erst seit gut einem Jahr
Dawn O’Porter
Papierfliegerworte
und habe bisher noch niemandem davon erzählt. Die Binden
klaue ich mir immer während der Pause aus dem Krankenzimmer. Bei der Vorstellung, sie irgendwo zu kaufen, wird
mir kotzübel.
Die neue Sitzordnung hat noch einen anderen, entscheidenden Nachteil: Die einzigen freien Plätze, die Margaret für
uns ergattern konnte, sind direkt hinter Flo Parrot und Sally
de Putron. Mit Margaret Cooper komme ich klar, aber so
nahe an Sally zu sitzen, davon kriege ich Ausschlag.
Sally und ich können einander nicht ausstehen – spätestens seit dem Tag, an dem ich nach Mums Tod schließlich
wieder in die Schule musste. Die Direktorin hatte in der Aula
alle informiert und sie ermahnt, mich mit Samthandschuhen
anzufassen, sobald ich wieder da wäre, doch das war an Sally
wohl vollkommen vorbeigegangen. Kaum war ich zurück in
der Schule, stampfte sie zu mir hin und behauptete, ich hätte
das Ganze erfunden, um Aufmerksamkeit zu schinden. Als
ich daraufhin in Tränen ausbrach und ihr klarmachte, dass
Mum tatsächlich an einer scheußlichen Krankheit gestorben
war, die sie auf die Hälfte zusammenschrumpfen und wie
ein Tattergreis hatte husten lassen, probierte sie es mit einer
anderen Taktik und erklärte mir, Mum sei gestorben, weil
sie mich hasste. Dann wollte sie unbedingt wissen, wie eine
Leiche aussähe. Da konnte ich ihr nicht weiterhelfen, weil
ich aus dem Zimmer rausmusste, bevor Mum starb. Ich durfte nicht mal zu ihrer Beerdigung gehen, aber das kümmerte
Sally nicht weiter.
Man muss schon sehr speziell veranlagt sein, um sich mit
sieben schon so ekelhaft aufzuführen. Ganz ehrlich, ich glaube, Sally de Putron ist durch und durch böse. Sie ist zu nie-
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
mandem nett, erst recht nicht zu ihrer besten Freundin Flo
Parrot. Die allerdings auch echt dämlich sein muss, um sich
das gefallen zu lassen.
Wie es weitergeht? Fordern Sie mit dem Bestellschein doch das
Leseexemplar dazu an. (Auch als E-Book möglich)
Dawn O’Porter
Papierfliegerworte
Aus dem Englischen von Martina Tichy
Umschlaggestaltung: formlabor
Ca. 288 Seiten
Ab 14 Jahren
15 x 22 cm, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-551-58321-5
Ca. € 16,99 (D) / € 17,50 (A) / sFr. 24,50
Erscheint im Mai 2015
book
Jordan Sonnenblick
Die total irre Geschichte mit der Gitarre …
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
i
Als Rich nackt und mit schmerzender Hüfte im Straßengraben erwacht, denkt er, er ist im Himmel. Er hat zwar
einen großen blauen Fleck, genau da, wo der Cadillac ihn
erwischt hat – aber das wunderschöne Mädchen, das sich
gerade über ihn beugt, macht das mit Leichtigkeit wieder
wett. Doch Rich ist nicht im Himmel gelandet, sondern
im Jahr 1969; bald ist er mit dem schönen Mädchen und
ihren beiden Begleitern David und Michael auf dem Weg
zum Woodstock-Festival. Und ganz langsam wird ihm etwas gleichzeitig Gruseliges und Urkomisches klar: David
und Michael sind sein Vater und sein Onkel, natürlich als
Jugendliche!
Doch wie ist Rich eigentlich hierher geraten? Hat das
vielleicht mit der alten Gitarre seines Vaters zu tun, die
er eigentlich nicht anfassen darf und auf der er trotzdem
diesen magischen Akkord gespielt hat?
Zwischen Musik, Marihuana und Mädchen kommt Rich
einem Familiengeheimnis auf die Spur.
Jordan Sonnenblick trifft mit unvergleichlichem Humor
mal wieder perfekt den Ton der Zielgruppe! Ein Revival
des berühmtesten Musikfestivals aller Zeiten, zum Kringeln und Nachdenken.
»Einzigartig, zum Teil hintergründig und
angemessen durchgeknallt. Turn it up, man!«
Booklist
Jordan Sonnenblick
E
Die total irre Geschichte mit der Gitarre …
s heißt, wir kommen alle nackt und schreiend auf
die Welt, aber die meisten von uns brauchen es nur
einmal zu tun. Bei meinem zweiten Mal war ich
fünfzehn, beziehungsweise negative fünfundvierzig Jahre alt,
je nachdem, wie man die Dinge betrachtet. Wie bei einem
neugeborenen Baby traf mich beim Öffnen der Augen sofort
blendendes Licht. Aber im Gegensatz zu einem Neugeborenen wurde ich kurz darauf von einem Cadillac gerammt.
Zum Glück war es ein ziemlich langsam fahrender Cadillac, so dass ich höchstens fünf Meter weit durch die Luft flog,
bevor ich in einem dicht mit Gras bewachsenen Graben an
irgendeinem Straßenrand landete. Es tat trotzdem weh. Man
kann nicht sanft von einem Cadillac angefahren werden, das
könnt ihr mir glauben. Die vordere Stoßstange hatte mich an
der rechten Hüfte erwischt, die jetzt vor Schmerzen pochte.
Ich blieb eine Weile auf dem Rücken liegen, verschnaufte,
roch die sonnenwarme Erde, spürte die Vegetation auf meiner nackten Haut und fragte mich, wo zum Kuckuck ich
eigentlich war.
Ich hatte Angst, die Augen zu öffnen, weil es beim ersten
Mal nicht so gut geklappt hatte. Aber dann fiel ein kühler
Schatten auf mich, und eine sanfte Stimme fragte: »Hey, bist
du okay?« Ich konnte nicht anders – ich schaute hin und
vergaß sekundenlang meine Hüfte. Das schönste Mädchen,
das ich je gesehen hatte, kniete neben mir. Sie hatte lange,
dunkle Haare und einen Mittelscheitel, riesengroße braune
Augen, tolle sonnengebräunte Haut und einen besorgten
Ausdruck im Gesicht. Sie schien ein paar Jahre älter als ich
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
zu sein und trug ziemlich ausgefallene Sachen: Shorts, ein
gebatiktes T-Shirt, tonnenweise Perlenketten, die mir fast ins
Gesicht hingen, und eine Lederweste mit Fransen, die über
die Haut meines Oberkörpers streiften.
DENN ICH WAR NACKT. Hilfe!
Mein erster rationaler Gedanke war der, dass es sich hier
um einen Traum handeln musste. Ich zwinkerte schnell
mehrmals hintereinander, um zu sehen, ob ich aufwachen
würde. Als ich es wieder sein ließ, war das schöne Mädchen
im Retro-Outfit immer noch da und streckte eine Hand aus,
um mir die Haare aus den Augen zu streichen. Sie sah so
freundlich und besorgt aus, dass mir der zweite rationale Gedanke kam: Du lieber Himmel, ich bin tot! Genau. Das blendende
Licht, das Auto, die Sache mit dem Durch-die-Luft-Fliegen und jetzt
dieses fantastisch aussehende Hippie-Supermodel, das mich weckt ….
Gleich wird sie mir eine Harfe und ein Paar Flügel überreichen.
»Bist du ein Engel?«, fragte ich.
Ihre Augen wurden noch größer. »Nein, ich dachte du
wärst einer.«
Moment mal. Warum sollte mich jemand für einen Engel
halten? Mit äußerster Anstrengung setzte ich mich auf. Dadurch konnte ich mich vornüberbeugen und war nicht mehr
ganz so entblößt, was gut war, denn als ich mich umsah,
wurde mir klar, dass mein Unfall eine Menge Schaulustige
angezogen hatte. Unheimlich viele junge Leute standen im
Kreis um mich herum, zeigten mit dem Finger auf mich und
sagten »Wahnsinn!« und solche Sachen. Der Graben war nur
ungefähr einen halben Meter tief, also konnte ich zur Straße
hochsehen. Soweit ich erkennen konnte, befanden wir uns
mitten in der Pampa, aber aus irgendeinem Grund hatte sich
Jordan Sonnenblick
Die total irre Geschichte mit der Gitarre …
ringsum ein gewaltiger Stau gebildet. Deshalb hatte mich der
Cadillac wohl auch nicht gleich zermalmt. Apropos Cadillac
– er war neben mir geparkt, und zwei Typen, die ähnlich
wie das Mädchen gekleidet waren, lehnten an den Autotüren
und tuschelten aufgeregt miteinander. Einer war ungefähr
in ihrem Alter, und der andere schien ein Zehntklässler wie
ich zu sein. Wenn einer von ihnen am Steuer gesessen hatte,
als das Auto in mich reinfuhr, wieso holte dann keiner sein
Handy raus, um Hilfe zu rufen?
Plötzlich fiel mir noch eine andere merkwürdige Tatsache
auf: Alle Autos waren unglaublich alt, sahen aber neu aus.
Das heißt, die Modelle waren schon antiquarisch. Da standen VW -Käfer wie Herbie, riesige rechteckige amerikanische
Limousinen wie die, die mich fast getötet hatte, Kleinbusse,
die wie Scooby-Doo-Vans aussahen, und eine große Auswahl
an sonstigen Oldtimern, die eigentlich alle total verrostet
sein müssten, aber wie frisch lackiert wirkten.
Mich überkam ein komisches Gefühl … ein komisches
Gefühl, das schlimmer war, als von einem Auto in die Hüfte
gerammt und in einen Graben geschleudert zu werden. Auf
meiner Stirn brach kalter Schweiß aus, und ich fing trotz des
Sonnenscheins an zu zittern. Mein Herz hämmerte und ich
fragte: »Wo bin ich? Was ist passiert? Wer bist du?«
Sie lachte. Es klang wie Glöckchenläuten, und ich musste
an Xylophon spielende Vögel denken. Vielleicht war ich ja
bei meinem Sturz mit dem Kopf aufgeschlagen, aber mitten
in dem ganzen Schlamassel gefiel mir ihr Lachen sehr. »Du
musst wirklich ein Engel sein! Du bist plötzlich auf der Straße aufgetaucht. Michael hat mit mir geredet, und ich wollte
gerade den Sender wechseln, also hab ich nicht hochgeschaut.
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
Und dann hat es geblitzt, und David hat ›Pass auf!‹ geschrien.
Ich hab den Aufprall gespürt, und dann warst du da, ganz in
Weiß wie ein Engel, und bist durch die Luft geflogen.«
David und Michael schienen die Typen zu sein, die sich
neben dem Cadillac unterhielten. »Wo sind wir eigentlich?«
Sie warf den Kopf zurück und ließ ihr Glöckchenlachen
ertönen. »Das ist ja irre! Wenn du kein Engel bist, dann
stammst du von einem anderen Stern. Du bist der einzige
Typ im Umkreis von hundert Meilen, der nichts vom Festival weiß!«
Wieder Gelächter. »Hast du die Poster nicht gesehen, die
überall rumhängen?«
Oh. Mein. Gott. Doch, ich hatte eines dieser Poster gesehen. Ein verblichenes, Jahrzehnte altes gerahmtes Poster an
der Wand im Arbeitszimmer meines Vaters.
»Fünfzehnter bis siebzehnter August?«
Ich schluckte. Meine Lippen und mein Hals fühlten sich
unheimlich trocken an. »Welches … Welches Jahr?«
»Mann«, sagte sie. »Wenn du ein Engel bist, dann aber
ein ziemlich doofer. 1969 natürlich. Was sonst?«
Jordan Sonnenblick
Die total irre Geschichte mit der Gitarre meines Vaters
und allem was danach kam – obwohl sie mir keiner
auch nur ansatzweise glauben wird
Aus dem Englischen von Gerda Bean
Umschlaggestaltung: formlabor
Ca. 304 Seiten
Ab 14 Jahren
15 x 22 cm, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-551-58324-6
Ca. € 15,99 (D) / € 16,50 (A) / sFr. 23,50
Erscheint im Mai 2015
book
Clémentine Beauvais
Dreckstück
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
i
David, ein Junge aus gutem Hause, und seine Clique
schwänzen wieder einmal die Schule, als ihnen ein
kleines schwarzes Mädchen über den Weg läuft, das
offenbar Läuse hat. Einfach so, aus einer Laune heraus,
nehmen sie sie mit, um sie in der Wohnung eines der verwöhnten Jugendlichen zu entlausen. Doch die Situation
läuft immer mehr aus dem Ruder und niemand hat den
Mut, das grausame Spiel zu beenden …
Ein beklemmendes, atemloses Buch – inszeniert wie ein
psychologisches Kammerspiel.
Clémentine Beauvais
Dreckstück
Und dann plötzlich dieses Sirenengeheul, das einem ins
Trommelfell schneidet, und alle verstummten, und das Radio sagte mit einer Männerstimme:
Ein Kind ist entführt worden. Dies ist eine Entführungsmeldung des
Justizministeriums. Die sechsjährige Elikya Goma, afrikanischer
Herkunft, Haare geflochten, bekleidet mit einem schwarzen Anorak und einem roten Schal, ist heute Vormittag in Paris vor dem
Stadtbad im siebten Arrondissement verschwunden. Handeln Sie
nicht eigenmächtig. Wenn Sie über Informationen verfügen, die zum
Auffinden des Mädchens beitragen können, wählen Sie bitte folgende
Rufnummer.
Die zehn Ziffern der Telefonnummer prallten inmitten der
Stille von den Wänden ab. Die Kleine starrte das Radio an,
als wäre es ein Engel. Für einen Moment war alles in der
Schwebe, eine kleine Blase, die man zwischen zwei Fingern
hält.
Und dann sagte Florian:
»Was machst du da, Gonzague?«
»Wieso, was soll ich machen?«
»Mit deinem Handy.«
»Was? Nichts! Ich spiel Angry Birds.«
Florian machte einen Satz wie ein Löwe und warf sich
mit seinem ganzen Gewicht auf Gonzague. Das Bett ächzte
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laut. Gonzague hingegen gab keinen Laut von sich. Florian
hatte ihn in den Solarplexus getroffen, und es dauerte ein
paar Sekunden, bis er wieder Luft bekam, vornübergebeugt,
als wollte er sich übergeben.
Florian hatte die Finger um das iPhone gelegt, seine Knöchel traten weiß hervor, so weiß wie seine Nasenflügel.
»Wer hat sonst noch ein Handy?«
»Spinnst du jetzt völlig?«, fragte Anne-Laure. »Jeder von
uns hat ein Handy.«
»Wir packen sie alle in die Schublade«, sagte Florian.
»Und da bleiben sie auch.«
Irgendwas in seiner Stimme, die plötzlich ganz hoch und
zittrig klang, erinnerte mich an jenen Abend im Krankenhaus, und ich hatte, machtvoll und doch undeutlich, das
Gefühl, das alles schon mal erlebt zu haben. Ich wusste genau, was Anne-Laure jetzt sagen würde, mit einer überraschend klaren, geschmeidigen Stimme – sie, die sonst immer wie ein knarrender Ast spricht; ich war sicher, was sie
sagen würde:
»Florian, du weißt genau, dass wir alle im selben Boot
sitzen.«
Ich weiß nicht, ob diese Erinnerung uns alle im selben
Moment einholte, aber selbst die Kleine machte ein Gesicht,
als spürte sie, dass Dinge aus der Vergangenheit unser Blut
in Aufruhr brachten, und ganz ruhig holte jeder sein Handy
raus und legte es einer nach dem anderen in die Küchenschublade, zwischen das lose Besteck, und Florian schob die
Lade wieder zu.
»So. Machen wir jetzt mit der Entlausung weiter, oder
was?«, sagte Gonzague, als wäre nichts gewesen.
Clémentine Beauvais
Dreckstück
»Wir? Soweit ich sehe, hast du hier noch niemanden entlaust«, gab Élise zurück.
»Ihr stellt euch aber auch echt dämlich an.«
Gonzague stand gemächlich auf und ging ins Bad. Mit
einer Nagelschere, die genauso verdreckt war wie der Kamm,
kam er wieder raus. Er ließ die Schere auf und zuschnappen,
auf und zu, und sie knirschte vor Schmutz.
Die Kleine starrte ihm angstvoll entgegen, und ein Tränenfilm überzog ihre Augen.
»Madame«, murmelte sie, zu Anne-Laure gewandt.
Und dann irgendwas, das sich anhörte wie ›Ich will nach
Hause‹, und da hätte ich fast gesagt, kommt, wir hören auf,
wir rufen das Ministerium an, aber dann stieß sie irgendwelche unverständlichen Laute aus, und das ging Florian und
Gonzague auf die Nerven.
»In Frankreich redest du Französisch«, sagte Florian. »Ist
das klar?«
Sie nickte hektisch, der Schal um ihren Hals zog sich zu,
und sie schluckte mühsam.
»Okay«, sagte Gonzague. »Guck mich an, wenn ich mit
dir rede. Deine Haare sind zu dick, um die Läuse rauszukämmen. Klar?«
Die Kleine nickte wieder.
»Also schneide ich sie dir jetzt ab, und die Läuse fallen
zusammen mit den Haaren runter. Klar?«
Die Kleine sah ein weiteres Mal zu Anne-Laure hinüber
und formte mit den Lippen ›Madame‹, und alle wandten
sich ab, mit entnervter Miene und einigermaßen befremdet,
dass Anne-Laure in den Augen dieses Görs offenbar eine fast
schon mystische Stellung einnahm, und jeder fragte sich, wie
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und warum ausgerechnet sie, mit ihrem polarblonden Haar,
die Hoffnungen dieses kleinen schwarzen Mädchens weckte,
wo doch Élise, mit ihrer Wolke aus schokobraunem Haar
und den sanften Augen, im selben Zimmer war.
Anne-Laure holte in aller Ruhe eine Zigarette raus und
ließ ihr Feuerzeug klicken. Sie nahm sich Zeit, um den Rauch
zu inhalieren, dann nickte sie Gonzague auffordernd zu.
Gonzague setzte sich neben die Kleine. Er ist riesig, sogar im
Sitzen, und überragte sie um mehrere Köpfe. Er nahm eine
Strähne der vom Kämmen zerzausten Haare in die Hand, so
dass sie wie ein Stalagmit senkrecht nach oben stand, und
zückte die Schere.
Eine kleine Schere und eine kleine Strähne. Schnipp,
schnipp, schnipp war zu hören, das Lied eines jeden Haars, das
die Klinge berührte, dann sammelte er die schwarzen Fäden
in seiner Handfläche und legte sie in den Aschenbecher.
»Mit den Haaren fallen auch die Läuse, klar?«, wiederholte er an das Mädchen gewandt, dessen Unterlippe zitterte.
Anne-Laure näherte sich mit ihrer Zigarette und hielt sie
an die Haare im Aschenbecher. Alle rückten näher, um zuzusehen. Tänzelnd verbrannte ein Haar nach dem anderen,
krümmte sich wie ein Wurm, rollte und entrollte sich spiralenförmig in der aus Ton gefertigten Schale. Der Geruch der
verkohlten Haare war seltsam berauschend, und Gonzague
erhob sich schwungvoll, als hätte ihm dieses Ballett neue
Kraft verliehen.
»Liebes Fräulein«, sagte er zu der Kleinen, »wie hätten
Sie’s denn gern? Eher klassisch oder ein bisschen eckiger?
Hinter den Ohren leicht angestuft?«
Clémentine Beauvais
Dreckstück
Florian lachte wie ein Irrer, und ich schaute zu Élise hinüber, die mechanisch an ihren eigenen Locken zog.
»Ich hab mir neulich die Haare schneiden lassen«, sagte
sie, als sie mich dabei ertappte, dass ich sie ansah. »Ich sag
dir, diese Gespräche mit der Frisörin, die müssen echt aufhören. Ich weiß nicht, wieso die glaubt, dass mich so was interessiert, diese Geschichten von ihrem Hund, den sie vorm
Urlaub bei irgendwem unterbringen muss, und so.«
»Kannst du nicht so tun, als ob du liest?«
»Mach ich doch! Ich hab extra Das Sein und das Nichts
mitgenommen, damit sie auch wirklich mitkriegt, dass ich
nicht da bin, um mit ihr ein Schwätzchen zu halten. Aber
die hat mich trotzdem zugequatscht, echt, mitten in einem
superkomplizierten Satz hat sie mich unterbrochen, um mir
zu erklären, was ich für eine Haarstruktur habe, und als ich
dann nicke, hält sie das für ein Zeichen, dass ich nicht mehr
lese, und spult eine dämliche Geschichte nach der nächsten
ab, irgendwelchen Spießerkram, der mich nicht die Bohne
interessiert. Sie hat mir von Anfang bis Ende erzählt, wie sich
ihr Typ einen gebrauchten Clio gekauft hat, der jetzt ständig
kaputtgeht!«
Ich kam fast um vor Lachen:
»Ich seh’s förmlich vor mir, wie du dich mit der Frisörin
über Gebrauchtwagen unterhältst!«
Aber sie wurde plötzlich ernst:
»Schon ein komischer Zufall.«
»Was für ein Zufall?«
»Diesen gebrauchten Clio, den hat er bei ... na, du weißt
schon gekauft. In demselben Laden wie Mathieu.«
Ich konnte es kaum fassen, dass sie tatsächlich wieder von
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Mathieu anfing. Kann man sich denn überhaupt nicht mehr
in Ruhe unterhalten?
»Na und? Das ist doch kein Zufall! Tausende von Leuten
gehen jedes Jahr in diesen blöden Laden! Ist ja nicht so, als
gäbe ...«
»Der Typ ist da immer noch«, unterbrach sie mich. »Ich
hab sie gefragt, die Frisörin, ich hab gesagt: ›Arbeitet da immer noch dieser große Schwarze?‹, und sie hat gesagt: ›Ja, das
ist der Geschäftsführer, der ist immer noch da.‹«
»Na und? Na und? Natürlich ist er noch da, wo soll er
denn sonst sein? Soweit ich weiß, ist er schließlich nicht zum
Tode verurteilt worden!«
»Jetzt reg dich nicht auf, David, was ist los mit dir?«
»Ich reg mich nicht auf. Ich hab bloß die Schnauze voll
von dieser Geschichte. Wir können nicht ewig irgendwen
dafür verantwortlich machen. Kann doch jedem mal passieren, dass er vergisst, eine Schraube anzuziehen. Manche
Chirurgen vergessen ihr Skalpell in der Bauchhöhle, da kann
ein Mechaniker doch auch mal vergessen, ein Rad richtig zu
befestigen.«
»Ach ja?«, erwiderte Élise, ganz weiß im Gesicht. »Komisch, damals hast du noch ganz anders geredet.«
»Wir können nicht ewig diesen Typen dafür verantwortlich machen«, wiederholte ich.
»Tun wir doch gar nicht. Dem Kerl geht’s gut, der macht
weiter seine Geschäfte.«
»Umso besser für ihn.«
Élise zog eine Fernsehzeitung aus einem Stapel Zeitschriften und vergrub sich darin. Anne-Laure war damit beschäftigt, die Fusseln von ihrem Kaschmirpulli abzusammeln.
Clémentine Beauvais
Dreckstück
Ihre langen Finger schlossen sich um die Wollknötchen,
zupften sie ab und legten sie in den Aschenbecher, wo sie ein
kleines flauschiges Nest bildeten.
Die Haare des Mädchens lagen dort auch schon in großen
Büscheln. Einige hellgraue Nissen waren zu sehen, und hin
und wieder eine verunsicherte Laus, die sich an den Strähnen
festklammerte.
Als ich den Blick hob, sah ich erstaunt, dass Florian den
Kopf der Kleinen festhielt, ganz vorsichtig, wie man etwas
Kostbares, eine zerbrechliche Kristallkugel halten würde.
Gonzague ließ weiter die Schere klappern. Das Mädchen sah
ziemlich lustig aus, wie gerupft, mit den kurzen, zusammengedrehten Haarbüscheln, die wie kleine schwarze Flammen
vom Kopf abstanden. Gonzague sagte:
»David, hol mal den kleinen Spiegel aus dem Bad.«
Der Spiegel war mit rötlichen Flecken gesprenkelt, und
zwei Schlieren getrockneter Zahnpasta liefen quer darüber.
Ich spülte ihn sorgfältig mit lauwarmem Wasser ab. Er warf
mir mein Spiegelbild zurück, verzerrt, verwässert. Ich trocknete ihn mit dem Roland-Garros-Handtuch ab und brachte
ihn Gonzague.
»Bitte sehr, mein Fräulein, Ihre neue Frisur, zu Diensten«, sagte Gonzague zu der Kleinen. »Gefällt sie Ihnen?«
Die Kleine nickte, aber von dort, wo ich stand, konnte
ich sehen, dass sie die Augen geschlossen hatte, sie wollte sich
nicht im Spiegel sehen.
»Ist aber noch was übrig«, bemerkte Florian.
»Dann müssen wir jetzt zu einem anderen Werkzeug greifen«, antwortete Gonzague.
Er leerte die Haare in den Mülleimer in der Küche, als
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plötzlich eine lang gezogene Polizeisirene auf der Straße kurzzeitig unsere Gesichter erstarren und unseren Atem stocken
ließ. Ich ging zum Fenster. Tief unten auf der Straße fuhr
der blaue Wagen vorbei, und das Heulen der Sirene wurde
schwächer, der Ton durch die Entfernung immer tiefer.
»Sind deine Nachbarn zu Hause?«, fragte ich Gonzague.
Er zuckte die Achseln.
»Keine Ahnung. Ich kenne meine Nachbarn nicht. Die
Wohnung gegenüber steht leer, so viel ist sicher, die ist zu
vermieten, aber die von unten kenn ich nicht. Warum?«
»Weil ... Ich weiß nicht, ich fänd’s besser, wenn sie uns
nicht hören.«
»Wir feiern hier doch keinen Rave.«
»Im Moment nicht, aber wenn ich richtig verstanden
hab, ist jetzt die Haarschneidemaschine dran.«
Ich hatte richtig verstanden. Florian war schon im Bad,
und ich hörte das Klicken, mit dem die Klinge einrastete.
Gonzague, Élise und Anne-Laure wechselten erstaunte
Blicke.
Clémentine Beauvais
Dreckstück
Aus dem Französischen von Annette von der Weppen
Umschlaggestaltung: formlabor
Ca. 96 Seiten
Ab 14 Jahren
14 x 22 cm, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-551-58337-6
Ca. € 11,99 (D) / € 12,40 (A) / sFr. 17,90
Erscheint im August 2015
book
Victoria Aveyard
Die rote Königin
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
i
Rot oder Silber – Mares Welt wird von der Farbe des Blutes bestimmt. Sie selbst gehört zu den niederen Roten,
deren Aufgabe es ist, der Silber-Elite zu dienen. Denn
die – und nur die – besitzt übernatürliche Kräfte. Doch als
Mare bei ihrer Arbeit in der Sommerresidenz des Königs
in Gefahr gerät, geschieht das Unfassbare: Sie, eine Rote,
rettet sich mit Hilfe besonderer Fähigkeiten!
Um Aufruhr zu vermeiden, wird sie als verschollen geglaubte Silber-Adlige ausgegeben und mit dem jüngsten
Prinzen verlobt. Dabei ist es dessen Bruder, der Thronfolger, der Mares Gefühle durcheinanderbringt. Doch von
jetzt an gelten die Regeln des Hofes, Mare darf sich keine
Fehler erlauben. Trotzdem nutzt sie ihre Position, um die
aufkeimende Rebellion der Roten zu unterstützen. Sie
riskiert dabei ihr Leben – und ihr Herz …
Viktoria Aveyard entwirft mit ihrem Debüt (dem Auftakt
einer Trilogie) eine faszinierende Welt, in deren Mittelpunkt eine Heldin steht, die trotz bester Absichten folgenschwere Entscheidungen trifft. Es geht um Freundschaft,
Liebe und Verrat, um Politik, Intrigen und Rebellion, um
Gut und Böse – und jede Schattierung dazwischen.
Fesselnd, rasant, vielschichtig und zum Mitfiebern –
DIE ROTE KÖNIGIN ist ein absoluter Pageturner!
Victoria Aveyard
Die rote Königin
2
Unser Haus ist klein, sogar für einen Pfahlbau, aber wenigstens haben wir einen guten Blick. Bevor er verletzt wurde,
hat Vater während eines seiner Urlaube von der Armee dieses
Haus auf Stelzen errichtet, damit wir über den Fluss schauen können. Selbst durch den sommerlichen Dunstschleier
hindurch kann man die gerodeten Landstriche erkennen,
auf denen einst Wald stand, welcher nun verschwunden ist.
Diese kahlen Stellen sehen aus wie eine Krankheit, aber die
unberührten Hügel im Norden und Westen sind ein stilles
Versprechen. Es gibt noch so viel mehr dort in der Ferne. Jenseits
von uns, jenseits von den Silbernen, jenseits von allem, was
ich kenne.
Über abgegriffene, vom täglichen Gebrauch verformte
Holzsprossen erklimme ich die Leiter zum Haus. Aus dieser
Höhe kann ich ein paar Boote sehen, die mit stolz geblähten, leuchtenden Segeln den Fluss hochfahren. Silberne. Nur
sie sind so reich, dass sie sich private Transportmittel leisten
können. Während sie über fahrbare Untersätze, Ausflugsboote und sogar über hoch fliegende Airjets verfügen, haben
wir nichts als unsere Füße oder mit etwas Glück vielleicht
ein Fahrrad.
Die Boote müssen unterwegs nach Summerton sein, der
kleinen Stadt, die rund um die Sommerresidenz des Königs
zum Leben erwacht. Gisa war heute dort, um der Näherin
zu helfen, bei der sie in die Lehre geht. Wenn der König zu
Besuch ist, gehen sie oft dort auf den Markt, um ihre Waren den Händlern und Silber-Adeligen zu verkaufen, die der
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
Königsfamilie hinterherziehen wie Entenküken. Der Palast
selbst wird das Sonnenschloss genannt und soll ein echtes
Wunderwerk sein; ich habe es aber noch nie gesehen. Ich
weiß ohnehin nicht, wozu die Angehörigen der Königsfamilie ein zweites Haus brauchen, vor allem wo der Palast in
der Hauptstadt schon so edel und prachtvoll ist. Aber wie
alle Silbernen handeln sie nicht aus Notwendigkeit, sondern
allein nach Lust und Laune. Und was immer sie wollen, bekommen sie auch.
Bevor ich die Tür aufstoße und in das übliche Chaos eintauche, berühre ich die Flagge, die auf dem Vordach flattert.
Drei rote Sterne auf vergilbtem Stoff, für jeden Bruder einer,
und es gibt darauf noch Platz für mehr. Für meinen Stern.
Fast alle Häuser haben diese Flaggen und auf einigen sind
schwarze Streifen an Stelle von Sternen, zur Erinnerung an
tote Kinder.
Drinnen schwitzt Mutter am Herd; sie rührt in einem
Eintopfgericht, während Vater sie von seinem Rollstuhl
aus missmutig beäugt. Gisa sitzt am Tisch und stickt. Sie
erschafft mal wieder etwas Wunderschönes und Erlesenes,
wovon ich nicht das Geringste verstehe.
»Ich bin zurück«, sage ich in den Raum hinein. Vater
winkt mir kurz zu, Mutter nickt und Gisa schaut gar nicht
erst von ihrem seidenen Tuch hoch.
Ich lasse meinen Beutel mit Diebesgut neben ihr auf den
Tisch fallen und klimpere möglichst laut mit den Münzen.
»Ich hab bestimmt genug zusammen, um Vater zum Geburtstag einen richtigen Kuchen zu kaufen. Und noch mehr
Batterien. Genug für den ganzen restlichen Monat.«
Gisa beäugt den Beutel und verzieht widerwillig das Ge-
Victoria Aveyard
Die rote Königin
sicht. Sie ist erst vierzehn, aber sehr pfiffig. »Eines Tages
kommen Leute und nehmen alles mit, was du hast.«
»Eifersucht steht dir nicht, Gisa«, sage ich und tätschle ihr
den Kopf. Sofort fliegen ihre Hände hoch zu ihren glänzenden roten Haaren und streichen sie zurück in den akkuraten
Knoten.
Ich habe sie schon immer um diese Haare beneidet, aber
ich würde es ihr nie sagen. Während ihre feuerrot leuchten,
sind meine das, was wir flussbraun nennen: an den Haarwurzeln dunkel und zu den Enden hin immer ausgebleichter, da
das anstrengende Leben im Dorf uns die Farbe aus den Haaren saugt. Die meisten Frauen hier tragen ihre Haare kurz,
damit man die grauen Spitzen nicht sieht, aber ich mache
das nicht. Mir gefällt es, dass sogar meine Haare wissen, dass
man so eigentlich nicht leben sollte.
»Ich bin nicht eifersüchtig«, protestiert Gisa und wendet
sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie stickt Blumen, die aus Feuer zu bestehen scheinen; jede einzelne ist eine hübsche, aus
Fäden gewirkte Flamme auf glattseidenem schwarzen Untergrund.
»Das ist wunderschön, Gi.« Ich streiche über eine der
Blumen und staune, wie schön seidig sie sich anfühlt. Gisa
blickt auf und schenkt mir ein sanftes Lächeln, das ihre ebenmäßigen Zähne entblößt. Auch wenn wir uns häufig streiten,
weiß sie, wie gern ich sie habe.
Und jeder hier weiß, dass ich die Eifersüchtige von uns beiden
bin, Gisa. Ich kann nichts – außer die zu beklauen, die etwas können.
Wenn Gisa fertig ist mit ihrer Lehre, kann sie ihren eigenen Laden aufmachen. Von überall her werden dann Sil-
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
berne kommen, um ihre Tücher und Flaggen und Kleider
zu kaufen. Gisa wird erreichen, was nur wenige Rote schaffen – sie wird ein gutes Leben führen. Sie wird für unsere
Eltern sorgen und meine Brüder und mich einfache Arbeiten
verrichten lassen, damit wir nicht in den Krieg müssen. Gisa
wird uns eines Tages retten, mit nichts als Nadel und Faden.
»Wie Tag und Nacht, meine Mädchen«, murmelt Mutter.
Das ist nicht als Beleidigung gemeint, sondern die schmerzhafte Wahrheit. Gisa ist geschickt, hübsch und herzensgut.
Ich bin ein bisschen gröber gestrickt, wie Mutter es höflich
ausdrückt. Das Dunkel zu Gisas Licht. Das Einzige, was wir
gemeinsam haben, sind die Ohrringe, die wir uns teilen, und
die Erinnerung an unsere Brüder.
Vater keucht in seiner Ecke und schlägt sich mit der Faust
vor die Brust. Das ist nichts Ungewöhnliches, weil er nur
noch einen echten Lungenflügel hat. Ein geschickter roter
Arzt hat ihn glücklicherweise retten können, indem er den
kollabierten Flügel durch ein Gerät ersetzt hat, das für ihn atmet. Das Gerät war keine Erfindung der Silbernen; die brauchen so etwas gar nicht. Sie haben die Heiler. Aber Heiler
vergeuden ihre Zeit nicht damit, Rote zu behandeln oder gar
an der Front zu arbeiten, um das Leben von roten Soldaten
zu retten. Die meisten von ihnen bleiben in den Städten,
wo sie das Leben betagter Silberner verlängern und Körper
heilen, die von Alkohol und dergleichen ruiniert sind. Aus
diesem Grund sind wir Roten dazu gezwungen, einen illegalen Handel mit Technologien und Erfindungen zu treiben, um uns selbst zu helfen. Einige von diesen Dingen sind
wertlos und die meisten funktionieren nicht einmal, aber ein
klickendes kleines Stück Metall hat meinem Vater das Leben
Victoria Aveyard
Die rote Königin
gerettet. Ich höre es ständig in ihm ticken wie einen leisen
Puls, der seine Atmung in Gang hält.
»Ich will keinen Kuchen.«
»Dann sag mir, was du stattdessen haben möchtest. Vielleicht eine neue Uhr oder …?
»Sachen, die du anderen Leuten vom Handgelenk gestohlen hast, betrachte ich nicht als neu, Mare.«
Mutter zieht den Eintopf vom Herd, bevor ein weiterer
Krieg im Hause Barrow losbrechen kann. »Essen ist fertig!«
Sie trägt den Topf zum Tisch, und der Geruch umhüllt mich.
»Riecht sehr gut, Mama«, lügt Gisa. Vater ist nicht so
taktvoll und verzieht das Gesicht.
Um nicht dumm dazustehen, zwinge ich mich, von dem
Eintopf zu essen. Zu meinem Erstaunen und meiner Freude
ist er nicht so schlecht wie sonst. »Hast du den Pfeffer verwendet, den ich dir mitgebracht habe?«
Statt zu nicken, zu lächeln und mir zu danken, weil ich es
gemerkt habe, wird sie rot und antwortet nicht. Ihr ist bewusst,
dass ich den Pfeffer gestohlen habe, wie alle meine Gaben.
Gisa verdreht die Augen über ihrem Teller, weil sie weiß,
was los ist.
Man sollte meinen, ich wäre an so etwas gewöhnt, aber
dass meine Eltern nicht gutheißen, was ich tue, macht mir
zu schaffen.
Mutter seufzt und legt die Hände vors Gesicht. »Du
weißt, dass ich das zu schätzen weiß, Mare. Ich wünschte
nur …«
»Dass ich mehr wie Gisa wäre?«, beende ich ihren Satz.
Mutter schüttelt den Kopf. Noch eine Lüge. »Nein, natürlich nicht. Das habe ich nicht gemeint.«
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
»Aha.« Mein bitterer Unterton ist bestimmt noch auf der
anderen Seite des Dorfes zu hören. Nur mit Mühe unterdrücke ich das Zittern in meiner Stimme. »Das ist das Einzige,
womit ich euch aushelfen kann, bevor ich gehe.«
Wenn man auf den Krieg anspielt, kehrt in unserem
Haus sofort Ruhe ein. Sogar Vaters Keuchen hört auf. Mutter wendet sich mit vor Zorn hochrotem Kopf ab. Gisa legt
unter dem Tisch ihre Hand auf meine.
»Ich weiß, dass du tust, was du kannst, und dass du die
besten Absichten hast«, flüstert Mutter. Es kostet sie viel
Überwindung, das zu sagen, aber es tröstet mich dennoch.
Also halte ich den Mund und zwinge mich zu nicken.
Plötzlich zuckt Gisa zusammen, als hätte sie einen Schreck
bekommen. »Oh, das habe ich ja völlig vergessen! Ich bin auf
dem Heimweg von Summerton auf der Post gewesen, und da
lag ein Brief von Shade!«
Das schlägt ein wie eine Bombe. Mutter und Vater reißen sich förmlich um den schmutzigen Umschlag, den Gisa
aus der Tasche zieht. Ich sehe zu, wie sie das Papier prüfen.
Meine Eltern können nicht lesen und befragen deshalb das
Papier selbst auf neue Informationen.
Vater schnüffelt an dem Brief und versucht seinen Geruch einzuordnen. »Riecht eher nach Kiefer, nicht nach
Rauch. Gut! Das heißt, er ist nicht mehr am Todesstreifen.«
Wir atmen erleichtert auf. Der Todesstreifen ist ein zerbombter Landstrich, der Norta mit den Lakelands verbindet.
Dort findet ein Großteil der Gefechte statt. Die Soldaten
verbringen ihre meiste Zeit damit, sich in Schützengräben
zu ducken, die jederzeit in die Luft gehen können, oder Vorstöße zu wagen, die in Massakern enden. Der Rest der Lan-
Victoria Aveyard
Die rote Königin
desgrenze besteht hauptsächlich aus Wasser, nur hoch oben
im Norden gibt es eine Tundralandschaft, die zu kahl und
zu kalt ist, als dass es sich lohnen würde, darum zu kämpfen.
Vater wurde vor einigen Jahren am Todesstreifen verwundet,
als seine Einheit von einer Bombe getroffen wurde. Inzwischen ist dieses Gebiet von jahrzehntelangen Kämpfen so zerstört, dass der Rauch der Explosionen wie ein permanenter
Nebel darüber liegt und nichts mehr dort wächst. Der ganze
Landstrich ist tot und grau wie die Zukunft des Krieges.
Schließlich reicht Vater mir den Brief und ich öffne ihn
erwartungsvoll. Meine Neugier auf das, was Shade zu sagen
hat, ist ebenso groß wie meine Angst davor.
»Liebe Familie, wie ihr seht, lebe ich noch.«
Vater und ich müssen kichern und Gisa lächelt immerhin. Mutter hingegen findet es überhaupt nicht komisch,
obwohl Shade jeden Brief so anfängt. (…)
Wie immer gehen uns Shades Worte durch Mark und
Bein. Noch habe ich seine Stimme im Ohr, aber die Erinnerung verblasst allmählich. Plötzlich flackert das Licht über
unseren Köpfen.
»Hat denn keiner die Bezugsscheine eingereicht, die ich
gestern bekommen habe?«, frage ich, bevor das Licht ganz
ausgeht und wir mit einem Mal in der Dunkelheit sitzen.
Als meine Augen sich daran gewöhnt haben, sehe ich, wie
Mutter den Kopf schüttelt.
Gisa stöhnt. »Nicht schon wieder!« Sie schiebt geräuschvoll den Stuhl zurück und steht auf. »Ich gehe ins Bett. Versucht, euch nicht anzuschreien.«
Aber wir schreien gar nicht. Das scheint bei mir neuerdings zur Gewohnheit zu werden – dass ich zu müde bin, um
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mich zu streiten. Mutter und Vater ziehen sich in ihr Schlafzimmer zurück und ich bleibe allein am Tisch sitzen. Normalerweise würde ich noch mal hinausschlüpfen, aber ich
kann mich zu nichts anderem mehr aufraffen, als ebenfalls
schlafen zu gehen.
Ich steige eine weitere Leiter hoch und gelange auf den
Dachboden, wo Gisa bereits schnarcht. Sie hat einen gesegneten Schlaf und ist immer sofort weg, sobald sie sich hinlegt, während ich manchmal noch stundenlang wach bleibe.
Ich sinke auf mein Bett und bin zufrieden, einfach nur daliegen zu können und Shades Brief in der Hand zu halten. Wie
Vater schon richtig sagte, er riecht stark nach Kiefernholz.
Der Fluss macht heute Abend angenehme Geräusche,
sein Plätschern und Rauschen lullt mich ein. Selbst der alte
Kühlschrank, ein rostiges batteriebetriebenes Ding, das normalerweise so laut brummt, dass ich Kopfschmerzen davon
bekomme, stört mich heute Abend nicht. Aber dann ertönt
ein Vogelruf und reißt mich aus dem Halbschlaf. Kilorn.
Nein. Geh weg.
Noch ein Vogelruf, diesmal lauter. Gisa wälzt sich im
Schlaf hin und her.
Leise grummelnd und Kilorn verfluchend rolle ich aus
dem Bett und husche die Leiter hinunter. Jedes andere Mädchen wäre wahrscheinlich über das Gerümpel gestolpert, das
im Hauptraum herumliegt, aber das jahrelange Davonrennen vor den Wachen hat mir eine große Geschicklichkeit
verliehen. Innerhalb weniger Sekunden bin ich auch die äußere Leiter hinabgerutscht und stehe knöcheltief im Matsch.
Kilorn wartet unten und tritt aus dem Schatten unterhalb
des Hauses.
Victoria Aveyard
Die rote Königin
»Ich hoffe, du magst blaue Augen, denn ich verpasse dir
gleich eins dafür, dass du –«
Sein Anblick lässt mich verstummen.
Er hat geweint. Aber Kilorn weint doch nicht. Außerdem
sind seine Fingerknöchel blutig und ich wette, irgendwo hier
in der Nähe steht eine Mauer, die mindestens ebenso viel
abbekommen hat wie er. Trotz meiner schlechten Laune und
der vorgerückten Stunde mache ich mir sofort Sorgen um
ihn. Ja, ich bekomme sogar richtig Angst.
»Was ist los? Was ist passiert?« Ohne nachzudenken, nehme ich seine Hand und spüre sein Blut unter meinen Fingern. »Sag schon, was ist?«
Er braucht einen Moment, bis er antworten kann. Allmählich bekomme ich Panik.
»Mein Meister. Er ist gestürzt. Und jetzt ist er tot. Das
heißt, ich bin kein Lehrling mehr.«
Ich schnappe nach Luft vor Schreck; ich kann nicht anders. Er fährt fort, obwohl das gar nicht mehr nötig ist. Ich
weiß schon, was jetzt kommt.
»Ich war noch nicht fertig mit der Ausbildung, und
jetzt –«, seine Stimme überschlägt sich förmlich, »Ich bin
achtzehn. Die anderen Fischer haben alle ihre Lehrlinge.
Also gehe ich leer aus. Ich bekomme keine Arbeit.«
Die nächsten Worte stechen mir wie ein Messer mitten
ins Herz. Kilorn atmet zitternd ein, und irgendwie wünschte
ich, ich müsste nicht hören, was er sagt.
»Sie werden mich in den Krieg schicken.«
e r z ä hl e n d e s P ro g r a m m Jugendbuch
Victoria Aveyard
Die rote Königin
Aus dem Englischen von Birgit Schmitz
Umschlag: formlabor
Ca. 352 Seiten
Ab 14 Jahren
15 x 22 cm, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-551-58326-0
Ca. € 17,99 (D) / € 18,50 (A) / sFr 25,90
Erscheint im Juni 2015
book
T a s ch e n b u ch
Ta s ch e n b u ch
Daniel Höra
Auf dich abgesehen
Ta s ch e n b u ch
i
Robert weiß nicht weiter. Nachdem irgendjemand ihm
das Ausplaudern eines Geheimnisses in die Schuhe geschoben hat, scheint ihn die ganze Klasse zu verachten.
Doch was zunächst wie ein harmloser Scherz beginnt,
eskaliert schließlich in einer Spirale aus Gewalt und Hass,
aus der es für Robert bald kein Entkommen mehr gibt.
Dieses Buch erscheint in der Reihe Carlsen Clips.
Carlsen Clips sind Romane in Kurzform, locker gesetzt
und in einfacher, klarer Sprache. Sie setzen sich mit
Themen auseinander, die Jugendliche interessieren und
ansprechen, und bieten eine Fülle von Identifikationsmöglichkeiten, da die Geschichten direkt aus der Lebenswelt der Leserinnen und Leser entstammen.
Carlsen Clips sind wie Clips aus dem Leben: relevant,
authentisch und absolut fesselnd.
• ein ganzer Roman auf 96 bzw. 112 Seiten
• Originalausgaben
• nur € 4,99
• brisante Themen für Jugendliche
• einfache, direkte Sprache
• Konzept wurde mit Pädagogen entwickelt
• Unterrichtsmodelle erscheinen zeitgleich
Daniel Höra
Auf dich abgesehen
1
Vor drei Monaten, an einem Sonntagnachmittag
im Mai kurz nach 17 Uhr, bin ich gestorben. Ich war
mausetot.
Das muss man sich mal vorstellen, schneller als ein
Blinzeln bist du weg vom Fenster.
Allerdings war ich nicht wirklich tot – es gab
keine Leiche oder so. Ich starb einen anderen Tod,
der nicht weniger endgültig ist: Ich war plötzlich
abgemeldet bei meinen sogenannten Mitmenschen.
Erledigt, fertig und aus. Keiner wollte mehr etwas mit
mir zu tun haben oder mit mir gesehen werden. Ich
wurde zum Schattenwesen, und das kommt dem Tod
ziemlich nahe.
Dabei fing die Geschichte ganz harmlos an.
Mit einer Party kurz vor den Sommerferien. Unsere
Klasse hatte eine Kneipe gemietet, das „Irre“ in der
Oranienstraße, in der Nähe unserer Schule.
Die Straßen Kreuzbergs waren voller Leute um
diese Zeit. Touristen und Einheimische schoben
sich hordenweise über die Bürgersteige. Checker
machten am Straßenrand ihre Geschäfte. Das war
Ta s ch e n b u ch
mein Kiez, hier war ich aufgewachsen. Hier kannte
ich jede Straße und jedes Haus und jede Menge
Leute. Kreuzberg war ein Dorf und gleichzeitig der
Mittelpunkt der Welt. Niemals würde ich von hier
wegziehen.
„Ey, du Schwuchtel, bleib mal stehen“, rief eine
Stimme hinter mir und ich drehte mich langsam
um. Ein BMX -Fahrer kam auf mich zugerast und
machte dabei eine drohende Handbewegung in meine
Richtung. Ich hob die geballten Fäuste. Die Touris
sahen uns erschrocken aus den Augenwinkeln zu,
vermutlich erwarteten sie jeden Moment ein Blutbad.
Der BMX -Typ bremste dicht vor mir. Wir
standen wie zwei Pistoleros in einem Westernfilm da
und starrten uns an. Dann musste ich grinsen, der
Typ ebenfalls. Wir fielen uns in die Arme und taten,
als hätten wir uns ewig nicht gesehen. So eine Show
lieferten mein bester Freund Bix und ich öfter ab.
Eigentlich hieß Bix Titus, aber Peppy hatte ihm in
einem bekifften Moment diesen Spitznamen verpasst
wegen seines Rades. Außerdem hasste Bix seinen
richtigen Namen. „Ich bin ein römischer Kaiser und
ihr müsst mir dienen“, sagte er immer, wenn ihn
jemand Titus nannte.
Ich kletterte auf die Hinterstützen von Bix’ Rad,
hielt mich an seinen Schultern fest und dann rasten
wir los. Vor dem „Irre“ standen schon ein paar aus
unserer Klasse. Wir begrüßten Peppy, Noel, Gaspard
Daniel Höra
Auf dich abgesehen
und die beiden Oktay-Geschwister, Nurai und
Mehmed.
„Na endlich, ihr Säcke“, rief Peppy laut und grinste
breit. „Haltet euch ran, ist nicht mehr viel da.“ Er war
schon ziemlich hinüber und schwenkte sein Glas mit
einer grünen Flüssigkeit drin. „Rotz“, so nannten wir
das Zeug: Wodka und grünes Brausepulver. Das „Irre“
hatte extra für uns ein paar Liter davon gemischt.
Aber man musste aufpassen, denn der Wodka machte
einen reichlich besoffen, während das Zuckerzeug
einen ziemlich aufputschte. Fiese Mischung. Ich durfte
nicht zu viel davon trinken, ich hatte schließlich am
nächsten Tag ein wichtiges Basketballspiel. Ich spielte
bei Lok Kreuzberg – dem Kreuzberger Verein.
Wir spielten in der Oberliga, da durfte man sich
keine Schwächen erlauben, sonst war man draußen.
Hin und wieder tauchten die Talentscouts vom
Profiklub ALBA BERLIN auf. Die meisten von uns
wollten später mal ins Profilager wechseln. Deshalb
nahm ich den Sport auch ziemlich ernst, achtete auf
meine Ernährung und schlug selten über die Stränge.
Ich trank sowieso kaum Alkohol, weswegen mich
die anderen auch immer hochnahmen. Aber bei
einer Party konnte ich mich schlecht rausreden, und
als Peppy mir ein Glas Rotz in die Hand drückte,
stieß ich mit den anderen an und nippte zweimal.
Später würde ich den Inhalt irgendwo unbeobachtet
entsorgen.
Ta s ch e n b u ch
Wir tanzten, wir tranken, ich mittlerweile Wasser,
dann ging ich mit Bix und Peppy raus, um ihnen
beim Kiffen zuzusehen. „Annika sieht heute echt
scharf aus“, sagte Peppy. Bix und ich grinsten uns an.
Wir wussten, dass Peppy auf sie stand.
Als wir wieder drin waren, legte ich mein Handy
auf einen Tisch neben dem Tresen, weil es in meiner
Hosentasche drückte. Hier würde es niemand klauen.
„Coole Party“, schrie mir Bix ins Ohr und legte
mir seinen Arm um die Schulter. Von der anderen
Seite umarmte mich Peppy und dann versuchten
sie, eine Polonaise mit mir zu tanzen. Ich schüttelte
sie lachend ab und tanzte näher an Mieke heran, die
ich ziemlich aufregend fand. Sie kam aus Holland
und war als Gastschülerin für ein Jahr bei uns an der
Schule.
„Hey“, rief sie und tanzte etwas näher. „Bix und
Peppy sind schon ganz schön trunken“, sagte sie mit
ihrem niedlichen Akzent.
Sie war dicht an meinem Ohr, wobei ich rot
wurde, weil wir uns noch nie so nah gewesen waren.
Wir sahen den beiden zu, die sich aneinander
festhielten, dabei versuchten das Gleichgewicht zu
halten, und grinsten uns an. Ich wollte was Witziges
sagen, aber mir fiel nichts ein.
„Schon ganz schön spät“, sagte Mieke plötzlich.
„Ich muss gleich gehen.“
„Ich auch“, sagte ich und nahm all meinen Mut
Daniel Höra
Auf dich abgesehen
zusammen, um Mieke zu fragen, ob ich sie nach
Hause bringen dürfe. Sie lächelte.
„Das wäre nett, aber meine Gastmutter kommt
mich gleich abholen“, sagte sie. Ich winkte ab. „Hey,
du könntest doch mitfahren“, schlug Mieke vor. „Wir
setzen dich zu Hause ab.“
Ich ging mit Mieke vor die Tür, um auf ihre
Gastmutter zu warten. Nachdem wir uns noch ein
bisschen über die Party unterhalten hatten, schwiegen
wir und sahen jeder in eine andere Richtung. Ich
beobachtete Mieke verstohlen aus den Augenwinkeln.
Ihr kupferfarbenes Haar leuchtete im Schein der
Laternen. Direkt auf der Nasenspitze hatte sie vier
Sommersprossen sitzen, die wie ein Halbmond
angeordnet waren. Ich lachte, weil ich an eine Bande
von Maikäfern denken musste, die im Kreis hockte,
um Unsinn auszuhecken.
„Was ist?“, fragte Mieke und lachte ebenfalls.
„Nichts“, sagte ich und musste noch mehr lachen.
Mieke richtete ihre grünen Augen auf mich.
„Du lachst mich doch nicht etwa aus?“, fragte sie.
„Das würde ich nie“, sagte ich ernst.
Mieke drohte mir scherzhaft mit dem Zeigefinger.
Gerade wollte ich etwas sagen, da lenkte uns der
Lärm von der Oranienstraße ab: Ein schwarzer,
fetter BMW hatte in der zweiten Spur gehalten
und der Fahrer telefonierte in aller Seelenruhe. Das
wütende Hupen der Wartenden ignorierte er einfach.
Ta s ch e n b u ch
Unwillkürlich tastete ich nach meinem iPhone, fand
aber nur eine leere Hosentasche vor. „Muss noch mal
rein“, sagte ich zu Mieke und zwängte mich noch
einmal in den schlauchartigen Raum vom „Irre“. Das
Handy lag genau da, wo ich es hingetan hatte, und
schien auf mich zu warten. Ich steckte es ein und
winkte Bix und Peppy zu, die Arm in Arm über die
Tanzfläche wankten.
Inzwischen war Miekes Gastmutter Ute
angekommen. „Ah, da ist er ja“, sagte sie und beugte
sich über die Rückbank, um mir die hintere Tür zu
öffnen.
„War es schön?“, wollte Ute wissen, als sie
angefahren war.
„Ja“, sagten Mieke und ich wie aus einem Mund
und mussten lachen. Ich überlegte krampfhaft, wie
ich Mieke zum morgigen Spiel einladen könnte,
traute mich aber nicht wegen Ute. Wie würde das
denn aussehen?
Ich blickte auf mein Handy, das ich noch
immer in der Hand hielt, und noch ehe ich darüber
nachdachte, ging ich aufs Textfeld, tippte ein paar
Worte ein und schickte sie ab. Kurz darauf piepte
Miekes Handy, worauf sie in ihrer Handtasche
kramte.
„Na, wer schreibt dir denn so spät“, fragte Ute
lächelnd. „Ein Verehrer etwa?“
Mieke lachte und sah auf ihr Handy. Sie las,
Daniel Höra
Auf dich abgesehen
stockte, las noch einmal und fing an eine Antwort zu
tippen. „Das ist von Nurai wegen Mathe“, sagte sie
währenddessen.
„Meine Güte, seid ihr langweilig“, sagte Ute. „Ihr
kommt gerade von einer Party und tauscht euch
wegen Schulkram aus?“
„Liebe Ute, deswegen ist auch nichts aus dir
geworden“, sagte Mieke. Ute hatte eine Galerie in
Kreuzberg und war sehr erfolgreich. Sie gab Mieke
einen freundschaftlichen Klaps aufs Bein.
Mieke sah wieder auf ihr Handy, tippte einen
letzten Buchstaben und drückte auf Senden.
Schnell versuchte ich noch auf lautlos zu schalten,
doch zu spät, mein Telefon piepte und Ute, die mich
im Rückspiegel ansah, fragte gespielt gelangweilt:
„Sag es nicht. Es geht um Physik.“
„Fast“, antwortete ich. „Chemie.“
Ute verdrehte die Augen. Ich sah erneut auf mein
Display. Da stand es, schwarz auf weiß: ‚Sehr gern‘
hatte Mieke geschrieben.
„Was seid ihr bloß für kleine Spießer“, sagte Ute
und fuhr über eine rote Ampel.
Ta s ch e n b u ch
Daniel Höra
Auf dich abgesehen
Umschlaggestaltung: formlabor
Ca. 112 Seiten
Ab 13 Jahren
12 x 18,7 cm, Taschenbuch
ISBN 978-3-551-31353-9
Ca. € 4,99 (D) / € 5,20 (A) / sFr. 7,90
Erscheint im Februar 2015
book
Rebecca Serle
Famous in Love
Ta s ch e n b u ch
i
Paige Townsen ist ein ganz gewöhnliches 17-jähriges
Mädchen. Dann ergattert sie die Hauptrolle in einer
romantischen Filmtrilogie, und plötzlich kennt jeder
ihren Namen. Als der Dreh auf Hawaii beginnt, muss
Paige jedoch einsehen, dass zwischen einer HighschoolBühne und einem millionenschweren Filmprojekt ein
himmelweiter Unterschied liegt. Die Presse dichtet Paige
sofort eine Beziehung mit ihrem Co-Star Rayner Devon
an. Und als Hollywood-Badboy Jordan Wilder auftaucht,
ist die Dreiecksbeziehung perfekt, sowohl vor als auch
hinter der Kamera. Paige muss herausfinden, wer sie ist
und was sie will – während der Rest der Welt ihr dabei
zuschaut.
• ein herrlicher Schmöker zum Verschlingen und
Mitschwärmen
• von der Laienschauspielerin zum Weltsuperstar:
eine Protagonistin zum Mietfiebern
• Junge Stars stehen mehr denn je im Rampenlicht: Jeder
ihrer Schritte wird festgehalten und analysiert – aber
wie sieht es auf der anderen Seite aus?
• Filmfans wird ein Blick hinter die Kulissen gewährt
• Band 1 einer Trilogie, Band 2 erscheint im
Dezember 2015
Rebecca Serle schreibt Kolumnen für die Huffington Post
und für die Vulture-Website des New York Magazine.
Sie hat in Los Angeles und New York studiert, wo sie
inzwischen lebt. Sie liebt Kaffee, Yoga und so zu tun, als
sei sie Britin.
Rebecca Serle
Famous in Love
PROLOG
Hör mir zu.
Ich werde dir erzählen, wie es ist, mit ihm zusammen zu
sein. Wie er mich küsst. Wie er meine Wange berührt. Ich
werde dir erzählen, was er mir zuflüstert, bevor wir uns der
kreischenden Menge stellen. Wie er meinen kleinen Finger
hält, ganz sachte, damit die Kameras es nicht mitbekommen.
Ich werde dir unsere geheime Zeichensprache erklären. Dass
einmal Blinzeln Alles okay, ich bin hier bedeutet, zweimal
Blinzeln Ignorier die Frage. Ich werde dir alles erzählen, aber
du musst mir versprechen, es niemals aufzuschreiben oder
weiterzuerzählen. Du musst versprechen, dass es unser Geheimnis bleibt.
Manchmal spüre ich während eines Interviews diesen
unwiderstehlichen Drang, die Wahrheit zu sagen. Wir sind
gerade mitten in einem Gespräch über meine Lieblingsjeans
oder so was und ich möchte am liebsten aus dem Sessel rutschen, mich im Schneidersitz auf den Boden setzen und
einfach alles rauslassen. So bin ich nun mal. Ich war immer
jemand, der anderen schnell vertraut. In unserem ersten Jahr
an der Highschool habe ich Holly Anderson erzählt, dass
meine Schwester schwanger sei, und bis zum Mittagessen
wusste es die ganze Klasse. Ich weiß nicht, wie ich darauf
kam, dass sie es nicht ausplaudern würde, weil wir nicht mal
Freundinnen waren, doch irgendwas trieb mich an, mich ihr
Ta s ch e n b u ch
zu öffnen. Ich öffne mich gern anderen Menschen. Umso absurder ist es, dass ich genau das unter gar keinen Umständen
mehr tun darf. Es sind immer die gleichen Fragen. Die PRManagerin steht mit dem Klemmbrett daneben, scharrt mit
dem Fuß auf dem Teppich und blickt ständig auf die Uhr,
als wäre der Minutenzeiger ein trödelndes Kleinkind, das sie
antreiben will.
»Seven«, sage ich mit einem Kopfnicken, mit dieser Firma
verhandeln wir nämlich gerade über Sponsoring. Im letzten
halben Jahr durfte ich deshalb keine andere Jeansmarke tragen.
»Die mag ich auch«, sagt die Interviewerin. Sie zwinkert
mir vertraulich zu und plötzlich wird mir bewusst, dass ich
ihren Namen vergessen habe. Ich bin nicht mal sicher, ob er
mir je gesagt wurde. Der einzig wichtige Name ist meiner.
Wir verlassen den Raum, und als ich um die Ecke biege,
kommt er mir entgegen. Er ist nicht allein – links und rechts
von ihm laufen Wyatt und Sandy und zwei Mädchen, die
ich nicht kenne – und als er mich entdeckt, schauen wir uns
einen Moment in die Augen. Ich darf ihn nicht berühren.
Ich wünsche mir nichts sehnlicher, als auf ihn zuzurennen
und von ihm in den Arm genommen und an irgendeinen
Ort gebracht zu werden, der nicht hier ist. An einen Ort, wo
wir allein sind und nichts von dem hier zählt. Aber das darf
ich nicht, weil niemand Bescheid weiß. Weder Wyatt noch
Sandy, nicht einmal Cassandra. Sie denken, wir seien nur
Freunde – und gehen davon aus, dass ich mit jemand anders
zusammen bin. Sie wissen nicht, dass ich einen Riesenfehler
begangen habe. Sie wissen nicht, dass ich, wie Augustine, den
Falschen gewählt habe.
Rebecca Serle
Famous in Love
Kapitel 1
»Du bist ein Star, Patrick.« Jake zwinkert mir zu und ich
verdrehe die Augen. Seit ich in der Fünften in einer Inszenierung von The Three Stooges an unserer Schule mitgewirkt
habe, ist das unser Standardwitz. Ich habe den kleinen Jungen gespielt und den Rest des Schuljahrs redeten mich alle
nur mit Patrick an, was ja eigentlich nicht mal annähernd
wie Paige klingt, aber das hat keinen gejuckt. Die meisten in
meiner Klasse sind nicht gerade kreativ.
Ich kontere mit meiner Standardantwort. »Hey, immerhin bin ich für irgendwas bekannt.«
Die Wahrheit ist, dass ich schon immer ein bisschen anders war. Wie der Knopf eines Mantels, der nicht durchs
Knopfloch passt. Als Jüngste von vier Geschwistern und
gebürtige Portlanderin mit schweren jahreszeitlich bedingten Gefühlsschwankungen gehöre ich ... einfach nirgendwo
richtig dazu. Weder in meiner Familie noch in meiner Heimatstadt. Manchmal passt es nicht mal mit Jake, der mir
seit zwanzig Minuten einen Vortrag über die schweren gesundheitlichen Folgen von Milchprodukten hält. Er hat seine Tirade nur unterbrochen, weil im Eingang von Powell’s
Ta s ch e n b u ch
ein Plakat meines letzten Theaterstücks hängt. Wir haben es
letzten Monat dort festgeklebt und überraschenderweise hat
es noch niemand runtergerissen.
Obwohl wir nicht unterschiedlicher sein könnten, sind
Jake und ich supereng befreundet, seit wir Kleinkinder waren. Er ist still und intellektuell und ein echtes Genie – irgendwann wird er die Welt verändern. Ich dagegen rede
ziemlich viel und komme in der Schule gut klar, aber dafür
muss ich ziemlich ranklotzen. Ich hatte nie diese angeborene
Begabung für Biologie oder Chemie, die Jake hat. Oder für
irgendein anderes Fach, wenn ich ehrlich sein soll.
Theater ist die Ausnahme.
»Warum hast du eigentlich immer noch kein vernünftiges
Foto?«, fragt Cassandra. Sie zieht an einem ihrer Zöpfe und
mustert mich mit hochgezogener Augenbraue. Sie ist winzig,
aber ihre Persönlichkeit ist ebenso beeindruckend wie ihre
Haare – ein gigantisches Durcheinander blonder Locken, die
einfach nie nur auf ihrem Kopf liegen. Es ist echt absurd,
dass in unserem umtriebigen Trio nicht sie die Schauspielerin ist. Sie verhält sich immer, als stünde sie gerade auf der
Bühne. Das hat sie schon getan, als wir fünf waren, so lange kenne ich sie nämlich schon. Aber sie möchte unbedingt
Meeresbiologin werden.
»Jake hat versprochen, welche zu machen«, sage ich und
starre auf das Plakat. Neben meinem Namen ist kein Foto,
sondern bloß eine leere Fläche. Paige Wie-noch-mal? Ich
habe Jake bestimmt schon vor einem Monat gebeten, welche
zu machen, aber er war fast jedes Wochenende bei irgendeinem Sit-in.
Jake demonstriert ständig gegen irgendwas: Plastik, Ge-
Rebecca Serle
Famous in Love
bäude, das Fällen von Bäumen, Popcorn. Das Zeug im Kino
ist angeblich genmanipuliert. Die Maiskörner werden uns
eine Woche unserer Lebenszeit kosten.
Cassandra wirft Jake einen mitleidigen Blick zu und sagt
dann zu mir: »Wenn du, deine Karriere ihm überlässt, endest
du irgendwann bei der Müllabfuhr.« Jake will ihr ins Wort
fallen, aber Cassandra redet weiter. »Weißt du was, ich mache einfach die Fotos.« Sie schwingt ihre Handtasche und
holt etwas heraus. »Ich habe nämlich eine neue Kamera.«
»Wow!« Jake reißt sie ihr aus der Hand und Cassandra
quiekt. »Wie bist du denn zu der gekommen?«
»Babysitten«, erklärt sie stolz.
»Wie cool. Wir sollten nächste Woche bei der Kundgebung ein paar Bilder schießen. Wenn sie gut sind, bekommen wir sie bestimmt bei der Zeitung unter.«
»Schon wieder eine Kundgebung?«, frage ich. Ich strenge
mich an, nicht enttäuscht zu klingen, allerdings nicht übermäßig.
Jake mustert mich mit dieser ernsten Miene, die ich nur
allzu gut kenne. »Die Kundgebungen werden erst aufhören,
wenn die Umweltverschmutzung gestoppt wird und Tiere
rücksichtsvoll behandelt werden. Wenn die Menschen Verantwortungsbewusstsein für sich und diesen Planeten zeigen.«
»Entschuldigung«, murmle ich.
Ich fühle mich immer mies, wenn ich Jake nicht bei seinem neuesten Kreuzzug unterstütze. Ich will ja schließlich
genauso, dass die Erde ein schönerer Ort wird. Aber manchmal will ich eben auch ins Kino.
Cassandra legt mir den Arm um die Schultern und wir
Ta s ch e n b u ch
betrachten das Schwarze Brett. »Vielleicht läuft dieses Wochenende ein guter Film im Aladdin.«
Wir überfliegen die Flyer, aber ich schaue nur halbherzig
hin. Ich beobachte Jake, der mit Cassandras Kamera rumhantiert. So aufgeregt habe ich ihn das letzte Mal gesehen,
als Starbucks biologisch abbaubare Verpackungen eingeführt
hat.
»O mein Gott!«, quietscht Cassandra und ich halte mir
schnell die Ohren zu. Jake lässt fast die Kamera fallen.
»Was hast du denn?«, fragt er sie.
»Da, da, da!« Sie deutet auf das Schwarze Brett. »Seht ihr
das?«
Ich folge ihrem Finger. Es ist ein Aushang für Locked,
auf das Buch fährt Cassandra total ab. Na ja, genau genommen sind es drei Bücher, aber von der Trilogie sind bisher
erst zwei Bände erschienen. Alle reden darüber. Es sind total
verrückte internationale Bestseller. Eine Frau namens Parker
Witter hat sie geschrieben und sie handeln von einem Mädchen, das nach einem Flugzeugabsturz auf einer verzauberten einsamen Insel strandet. Der einzige andere Überlebende
(und zufälligerweise der beste Freund ihres Freundes) hat
eine Art übernatürliche Verbindung zur Insel und sie verlieben sich. Auf der anderen Seite liebt sie immer noch ihren
Freund, den sie allerdings für tot hält, weil sie alle drei im
Flugzeug saßen. Ich habe die Bücher noch nicht gelesen, aber
ich habe ein bisschen rumgegoogelt, nachdem mir Cassandra
pausenlos vorgeschwärmt hat. Es gibt massenhaft Internetbeiträge. Tausende von Videos auf YouTube, ganze Onlineforen und endlose Fanfiction. Noah und Augustine scheinen
die Neuauflage von Romeo und Julia zu sein. Als der zweite
Rebecca Serle
Famous in Love
Band erschien, stand Cassandra um Mitternacht vor Barnes
& Noble Schlange. Der dritte und letzte Band soll im November erscheinen.
»Es wird Auditions hier in der Stadt geben!«, kreischt
Cassandra. Sie tanzt auf Zehenspitzen im Halbkreis herum.
Ich sehe mir den Aushang genauer an.
»Auditions wofür?«, fragt Jake und gibt ihr die Kamera
zurück.
»Den Film!«
Mein Magen macht im Gleichtakt mit Cassandras Füßen
einen kleinen Salto, und als ich aufblicke, grinst sie mich
verschmitzt an. »Aha, hörst du mir jetzt also zu?«
Obwohl wir in Portland leben, einer Stadt mit vielen
Künstlern, werden hier selten Filme gedreht und Casting
Directors suchen hier nie nach neuen Talenten. Vorsprechtermine für Filme richten sich an Leute, die in Los Angeles
wohnen – wo ich noch nicht mal gewesen bin.
Ich habe meine Eltern angebettelt, mich nach Kalifornien
gehen zu lassen, aber sie behaupten immer, es würde mich
bloß vom Lernen abhalten. In Wirklichkeit sind sie jedoch
der Meinung, dass mir als Jüngster von vier Geschwistern –
außer in Verbindung mit einer Hochzeit oder einer Beerdigung – kein Flugticket zusteht.
Es ist nicht so, dass ich hier in Portland nicht zu Auditions gehe; das mach ich schon, aber meistens geht es dabei
um irgendwelche kleinen Aufführungen wie bei dem porträtlosen Plakat, vor dem wir gerade stehen. Aber ein richtiger
Film? Diese Chance hatte ich noch nie.
Wenn ich genommen werde – bei einem Theaterstück
oder für eine örtliche Werbekampagne oder so –, dann meis-
Ta s ch e n b u ch
tens für eine Kinderrolle. Dabei bin ich schon siebzehn. Ich
hab das Gefühl, dass ich schon seit zehn Jahren dieselbe Rolle
spiele. Aber ich bin gerade mal einen Meter fünfzig groß,
das ist selbst für eine Zwölfjährige ziemlich klein. Ich habe
lange, von Natur aus rote Haare mit leichten Wellen – nicht
richtig lockig, aber auch nicht ganz glatt – und mein Gesicht
ist voller Sommersprossen, was mich nicht gerade als weibliche Hauptdarstellerin prädestiniert. Aber die kleine, freche
Schwester? Die habe ich voll drauf. Ob es bei Locked wohl
eine jüngere Schwester gibt?
»Wo findet das Vorsprechen statt?«, frage ich. Um zu zeigen, dass es mich nicht übermäßig interessiert, starre ich zu
Boden, aber da es Jake und Cassandra sind, nimmt mir die
demonstrative Nonchalance keiner ab.
»Samstag im Aladdin.« Jake reißt den Flyer ab und gibt
ihn mir.
»Hey, vielleicht interessiert es noch jemand anders«, wende ich ein.
»Dann betrachte es als Ausschalten der Konkurrenz.«
Cassandra schiebt ihren Arm durch meinen. »Versprich mir,
dass du darüber nachdenkst.«
Sie lächelt mich an und ich weiß, dass sie weiß, dass ich
dabei sein werde. Aber sie kennt auch meine goldene Regel
bei Auditions: Ich sage nie jemandem, dass ich hingehe.
Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich die Jüngste in
einer großen Familie bin, aber ich gehe immer davon aus,
dass es nicht klappt. Das stillschweigende Motto bei uns zu
Hause: Wer auf dem Teppich bleibt, kann nicht tief fallen.
Für meine Eltern scheint es funktioniert zu haben. Sie sind
beide Grundschullehrer, was ja an und für sich super ist, ich
Rebecca Serle
Famous in Love
glaube allerdings, dass es für keinen von beiden das ist, was
sie sich gewünscht haben. Meine Mutter wäre gern Schauspielerin geworden. Als sie jünger war, hat sie bei ein paar
regionalen Filmproduktionen mitgespielt, doch mit der Geburt meines ältesten Bruders war damit Schluss. Sie spricht
nie darüber, aber ich weiß, dass sie es bedauert. Einmal hab
ich in ihrem Schmuckkasten nach einer Kette gesucht und
dabei einen Umschlag mit Theatereintrittskarten gefunden.
Stücke und Shows, die sich meine Mutter angesehen hatte.
Es waren sogar welche aus den Siebzigern dabei, als meine
Eltern noch nicht zusammen waren. Vielleicht waren es sogar Stücke, in denen sie mitgespielt hat. Ich glaube, solchen
Kram hebt man nur auf, wenn man sich wünscht, das Leben
wäre ein bisschen anders gelaufen. Und ich? Ich will keinen
Stapel Theatertickets, der in einem Umschlag unten in meinem Schmuckkasten liegt. Ich will gerahmte Plakate, auf denen mein Name steht. Solche Erinnerungen will ich haben.
Welche, die auch andere sehen können.
Jake legt mir den Arm um die Schultern. »Du wärst genial
als Augustine«, erklärt er mir.
»Augustine?« Ich mustere ihn mit hochgezogener Augenbraue.
»Was denn?«, fragt er und sein schiefes Lächeln wird breiter. »Ich muss schließlich im Hinblick auf Massentrends auf
dem Laufenden bleiben.«
»Du hast ja keine Ahnung, wie toll das Buch ist«, sagt
Cassandra und schiebt die Finger durch eine ihrer Kringellocken. »Ich weiß gar nicht, wie ich es aushalten soll, bis ich im
November endlich erfahre, wie alles ausgeht.«
Jake nickt.
Ta s ch e n b u ch
»Ernsthaft?«, frage ich. »Ihr zwei braucht echt eine Selbsthilfegruppe.«
»Ich habe schon eine«, sagt Cassandra. »Wir treffen uns
sonntags. Und dienstags, wenn wir richtig auf Entzug sind.«
Jake lacht und ich verdrehe die Augen. »Du bist echt verrückt.«
»Aber du hast mich lieb«, flötet sie und reibt ihre Nase an
meiner Wange.
»Trotz allem«, sage ich.
»Hey«, sagt sie und lässt von mir ab. »Das ist große Literatur.«
»Das hast du auch schon von From Heaven behauptet.
Und da ging es nur um notgeile Engel.«
»Schutzengel«, verbessert mich Cassandra und wirft einen
Zopf über die Schulter. »Und was kann ich dafür, wenn du
mit bedeutenden Romanen nichts anfangen kannst?«
»Ich kann sehr wohl was mit ihnen anfangen«, sage ich.
»Nur weil du Die Glasmenagerie zweiundsiebzigmal gelesen hast, ist es deshalb noch kein Buch. Sorry.« Cassandra
betrachtet mich mit gerümpfter Nase.
»Ja, aber es ist trotzdem immer noch große Literatur«,
gifte ich zurück.
Es ist nicht so, dass ich keine Romane lese. Ich lese sie,
aber nicht so, wie ich Drehbücher lese. Ich liebe Jane Austen,
und den Fänger im Roggen habe ich seit der Achten bestimmt
schon sieben Mal gelesen, trotzdem entscheide ich mich meistens für Skripts. Ich habe so ziemlich alles gelesen, was es bei
Powell’s gibt, und das ist eine Menge. Die Auswahl reicht von
Rosemaries Baby bis zu Pitch Perfect und es gibt nichts Schöneres für mich, als an verregneten Sonntagen in dem Buchladen
Rebecca Serle
Famous in Love
zu sitzen und mir die Drehbücher anzuschauen, die gerade
reingekommen sind. Manche davon kann ich sogar auswendig, und wenn ich sie aufschlage, ist es ein bisschen so, als
würde man die ersten Takte seines Lieblingsliedes im Radio
hören. Das Lied, das man Wort für Wort kennt. Als ich jünger war, habe ich vor dem Spiegel in meinem Zimmer Dialoge nachgesprochen. Scarlett O’Hara, Holly Golightly, ich
habe getan, als wäre ich Audrey Hepburn oder Meryl Streep
und drehte einen Film, den die ganze Welt sehen würde.
Manchmal tue ich das noch immer.
»Was habt ihr heute Nachmittag vor?«, fragt Cassandra.
Ich schaue auf die Uhr, die mir Jake zu meinem fünfzehnten Geburtstag geschenkt hat. Auf dem Ziffernblatt ist
Mickey Mouse abgebildet, seine behandschuhten Hände
sind der Stunden- und Minutenzeiger. Jake hat sie gravieren
lassen: Von der Katze für die Maus. So haben wir uns früher
immer an Halloween verkleidet. Er ging als Katze und ich
als Maus, und wenn wir von Haus zu Haus zogen und »Süßes oder Saures« verlangten, jagte er mich die Straße runter.
Manchmal stelle ich mir vor, dass wir irgendwann ein Paar
werden, dann bekäme alles eine neue Bedeutung. Er würde
etwas sagen wie: »Ich bin dir jahrelang hinterhergejagt und
nun gehören wir endlich zusammen.« Albern, ich weiß, aber
es wäre eine tolle Geschichte.
Nur um das mal festzuhalten, wir haben uns zweimal geküsst, aber das war vor der Neunten. Jake war mein erster
Kuss und bis auf den Typen im Sommercamp der einzige
Junge, dessen Lippen ich je berührt habe. Aber wir sind nicht
zusammen. Waren wir auch nie. Ich glaube, keiner von uns
beiden ist bereit, unsere Freundschaft dafür aufs Spiel zu set-
Ta s ch e n b u ch
zen – außerdem fühlt sich der Gedanke, eine Beziehung mit
ihm zu beginnen, wie eine Gleichung an, die nicht aufgeht.
»Ich muss zur Arbeit«, sage ich. Seit der Siebten arbeite
ich jeden Sommer bei Trinkets ’n’ Things, einer Boutique, die
allen möglichen Schnickschnack verkauft und wie alles in
Portland nach Patschuli riecht. Obwohl ich, wenn ich nach
Hause komme, wie ein Räucherstäbchen stinke, ist es ein guter Job. Die Bezahlung ist okay und es ist nie zu voll.
»Hast du Lust, dir einen Film anzuschauen?« Cassandra
stupst Jake an, der daraufhin den Arm von meiner Schulter
nimmt.
»Aber bitte nicht wieder diese Buddhismus-Doku, ja? Die
haben wir schon drei Mal gesehen.«
»Jaa, jaa. Du bist doch derjenige, der sie das dritte Mal
sehen wollte.« Sie blinzelt mich an und ich weiß, dass es ein
Zwinkern sein soll. Sie kriegt es einfach nicht hin, nur ein
Auge zu schließen. Es gehört zu den Dingen, die ich an ihr
am allerliebsten mag.
Und es gibt viele Dinge, die ich an ihr mag. Zum Beispiel,
dass sie nicht Himmel und Hölle spielen kann und für ihre
Lieblingsfarben Namen erfindet: Honigbraun, Grillengrün,
Clownsnasenrot. Ich mag sie dafür, dass sie mir früher immer gesagt hat, wenn Essensreste in meiner Spange klebten.
Sie ist ehrlich. Wir haben keine Geheimnisse voreinander.
Hatten wir nie.
»Viel Spaß, ihr zwei«, sage ich.
Jake deutet einen Salut an, Cassandra drückt mir einen
feuchten Kuss auf die Wange und die beiden rennen zum
Ausgang. Nachdem ich den zerknitterten Flyer in meiner
Hand angestarrt und ihn in die Hosentasche gestopft habe,
Rebecca Serle
Famous in Love
folge ich ihnen nach draußen und mache mich auf den Weg
zu Trinkets ’n’ Things. Die Einzelheiten zum Vorsprechen
brauche ich mir gar nicht anzusehen; ich kann sie schon auswendig. Ich weiß auch, dass ich am Samstag meiner Chefin,
Laurie, eine Ausrede auftischen und hingehen werde. Auf
dem Flyer steht, dass die Audition um drei losgeht, aber garantiert stellen sich die Leute schon stundenlang vorher an.
Ich weiß, dass ich keine Chance habe. Ich weiß, dass die
Wahrscheinlichkeit, eine Rolle zu ergattern, eins zu was weiß
ich steht (so weit kann ich nicht mal zählen), trotzdem passiert das, was jedes Mal passiert, wenn ich für eine Rolle vorspreche. Ich verspüre einen Funken ... Hoffnung. Vielleicht
ist dieses Mal der Zeitpunkt, an dem sich alles verändert.
Vielleicht ist nach diesem Wochenende alles anders.
Ta s ch e n b u ch
Kapitel 2
(…)
Ich hänge mir die Schultasche um und stapfe die Treppe
hoch. In meinem Zimmer ziehe ich den Flyer aus der Hosentasche, streiche die Ecken auf dem Teppich glatt und sehe
ihn mir genauer an.
Auf der Vorderseite ist das Schwarz-Weiß-Bild eines
Mädchens zu sehen, allerdings nur als Silhouette, man kann
nicht sagen, wer sie ist oder wie sie aussieht. Darüber sind
die Wörter CASTING FÜR LOCKED gedruckt, die Gänsehaut bei mir auslösen. Es ist dasselbe Gefühl, das ich kurz
vor dem Erlöschen der Lichter in einem Saal oder einem
Kino bekomme. Das dort oben könnte ich sein. Vielleicht
werden die Leute irgendwann meinen Namen wissen oder
mich sogar erkennen. Vielleicht werde ich nicht mehr die
kleine Paige sein, die Mickrigste des Townsen-Wurfs. Sondern einfach nur Paige Townsen: die Paige Townsen. Es ist
dieses Gefühl, dass es möglich ist. Dass sich alles in genau
diesem Moment ändern könnte.
Die Chance, dass ich eine Rolle bei Locked bekomme,
ist praktisch gleich null, das ist mir schon klar, andererseits
muss sie ja irgendjemand kriegen. Warum also nicht ich?
Rebecca Serle
Famous in Love
Mein Handy blinkt. Es ist Cassandra. Sie quasselt schon
los, bevor ich nur Hallo sage.
»... ich glaube, nach der Hälfte bin ich eingeschlafen.«
»Beim Film?«
Sie schnauft – das wobei sonst erspart sie sich. »Was machst
du heute Abend?«
Ich falte den Flyer zusammen, es ist mir peinlich, dass ich
ihn überhaupt in der Hand halte. Heute Abend werde ich
mich auf das Casting vorbereiten. Und dieses Buch von vorn
bis hinten lesen.
»Ich bin ganz schön platt«, sage ich.
»Hat Laurie dich wieder Regale einräumen lassen?«
»Ja«, lüge ich. In Wahrheit habe ich bloß hinter der Kasse
gegen mich selbst Daumenkrieg gespielt. Wir hatten heute
nur zwei Kunden und keiner von beiden hat etwas gekauft.
»Jake ist hier«, sagt Cassandra. Ich höre Rascheln und
Flüstern, dann ist sie wieder am Telefon. »Sollen wir später
bei dir vorbeikommen?«
Ich stelle mir vor, wie Jake das Handy ablehnt. Er hat panische Angst vor Strahlung, und da er sich weigert, eins mit
sich herumzutragen, ist es ziemlich schwierig, sich mit ihm
zu verabreden. Zum Glück ist er normalerweise schon mit
einer von uns beiden unterwegs.
»Klingt gut«, sage ich.
Jake ruft Tschüs – Cassandra scheint das Handy in den
Raum gehalten zu haben – und das Gespräch ist beendet.
Ich höre das Auto meines Vaters in der Auffahrt. Ich
brauche nicht aus dem Fenster zu schauen, um zu wissen,
dass er die Autotür öffnet, zum Kofferraum geht, um seine
Aktentasche herauszuholen, beide Außenspiegel überprüft,
Ta s ch e n b u ch
dann die Reifen, danach drückt er zweimal auf die Verriegelung und geht zur Haustür. Diese Prozedur wiederholt er
Tag für Tag, vermutlich seitdem er fahren kann. Ich male
mir aus, wie Dad das Ganze auch in den Nächten durchzog,
als sie beim Krankenhaus vorfuhren und meine Geschwister und ich geboren wurden. Hat Mom ihn angeschrien? In
all den Jahren, in denen ich diesen immer gleichen Ablauf
beobachtet habe, hat meine Mutter nicht einmal versucht,
meinen Vater anzutreiben.
Ich gehe zum Treppenabsatz und sehe ihn hereinkommen. Dad trägt jeden Tag Fliege. Er besitzt sogar solche
Tweed-Sakkos mit Lederflecken auf den Ellbogen.
»Du siehst aus wie ein Lehrer«, sage ich zu ihm.
Er sieht zu mir hoch und lächelt. »Was du nicht sagst. Ich
komme gerade aus der Schule.«
»Es sind Sommerferien«, sage ich und gehe die Treppe
runter, »falls dir das entgangen sein sollte.«
»Die Stundenpläne machen keine Ferien.«
Mein Vater ist der Einzige in der Familie, der mich versteht. Er ist auch der ruhigste Mensch, den ich kenne. Dass
er ein Morgenmensch ist, habe ich erst mitbekommen, als
ich in der Zehnten der Schwimmmannschaft beigetreten bin
und fürs Training früh aufstehen musste. Eines Morgens
kam ich um fünf die Treppe runter und da saß er und trank
Kaffee. Und zwar so still, dass, wenn die Luft um ihn herum
Wasser gewesen wäre, nicht mal ein Kräuseln sichtbar gewesen wäre.
Als ich die letzte Stufe erreiche, lächelt er mich an. »Wo
ist deine Schwester?«
Ich versuche mich zu erinnern, wo sie hingehen wollte,
Rebecca Serle
Famous in Love
zucke mit den Achseln und folge ihm in die Küche. »Keine
Ahnung.«
Im Gegensatz zum Rest der Familie ermutigt mich mein
Vater, Schauspielerin zu werden. Meine Schwester ist der
Meinung, dass ich zu selbstbezogen bin; meine Brüder verstehen es nicht, weil es kein Mannschaftssport ist. Meine
Mutter denkt, die Schauspielerei ist eher etwas für Tagträume und gelegentliche Schulaufführungen als das »wirkliche
Leben«.
Nicht so mein Vater. Er hat mir nie offen gesagt, was er
denkt, aber ich spüre, dass er auf meiner Seite steht. Ich habe
ihn oft sagen hören, dass Erziehung einem Gebäude gleicht.
Ein Elternteil ist für die Höhe zuständig, der andere ist das
Fundament. Dad ist nicht besonders groß, aber massiv. Mit
vier Kindern ist man als Fundament ziemlich fest verankert.
Er nickt mir zu und geht in sein Zimmer. Den Nachmittag wird er damit verbringen, sämtliche Schäden im Haus
zu reparieren. Er hält alles selbst in Schuss, das hat er immer
getan.
Nachdem ich aus dem Fenster gespäht habe, um mich
zu vergewissern, dass meine Schwester nicht gerade vorfährt,
gehe ich zu ihrem Bücherregal, streiche über die Buchrücken
und ziehe ihr Exemplar von Locked heraus. Ich weiß selbst
nicht, warum ich das so heimlich tue. Es ist ja nicht so, dass
sie es mir nicht ausleihen würde. Es ist bloß das Gefühl, dass
sie irgendwie Bescheid wüsste, wenn sie mich sähe. Sie würde sich alles zusammenreimen, und wenn ich die Rolle dann
nicht bekäme, wäre es eine weitere Bestätigung, dass meine
Träume bescheuert und oberflächlich und total unrealistisch
wären. Das muss ich mir nicht mehr antun. Und trotzdem –
Ta s ch e n b u ch
Was würdest du für die Liebe opfern?
Diese eine Zeile auf der Rückseite lässt mein Herz rasen.
Ich nehme das Buch mit in mein Zimmer und schließe die
Tür. Ich hole den Flyer unter dem Bett hervor und halte beides in den Händen. Das Mädchen auf dem Umschlag dreht
dem Betrachter den Rücken zu, aber anders als auf dem Flyer
erkennt man hier, dass es rote Haare hat. Es fällt ihm über
den Rücken und sieht aus, als ginge es nahtlos in die Wellen
des Ozeans über, die das Mädchen umgeben und es jeden
Moment zu verschlucken scheinen.
Ich schlage die erste Seite auf und beginne zu lesen.
Rebecca Serle
Famous in Love
Aus dem Englischen von Claudia Max
Umschlaggestaltung: Suse Kopp
Ca. 320 Seiten
Ab 13 Jahren
13,3 x 19,8 cm, Klappenbroschur
ISBN 978-3-551-31391-1
Ca. € 11,99 (D) / € 12,40 (A) / sFr. 17,90
Erscheint im April 2015
book
James Dawson
Sag nie ihren Namen
Ta s ch e n b u ch
i
• spannende Lektüre, die man nicht mehr aus der Hand
legen kann und will
• Nach diesem Buch ist jeder Blick in den Spiegel ein
Wagnis auf eigene Gefahr!
• gut gemachte, wirklich gruselige Horrorgeschichte
• hat alles, was eine Gänsehautgeschichte braucht:
düsteres Setting, unheimliche Begegnungen, ein sich
langsam steigerndes Grauen, überraschende
Schockmomente – und Figuren, mit denen man
mitfiebert und um deren Überleben man voller Sorge
bangt
»Dawsons Geschichte ist eine angsterregende
Tour-de-Force, die Leser packt und nicht wieder
loslässt, bis sie Mary in all ihrer blutigen Pracht
begegnet sind.«
(Vada magazine)
James Dawson
Sag nie ihren Namen
Das Glas war nicht länger fest, es glich einer silbern schimmernden
Wasserfläche an der Wand. Eine schlanke Hand, weiß wie Marmor,
aber voller Blut, fasste hindurch und griff nach dem Waschbecken,
zog sich aus dem Spiegel hinein ins Bad. Glänzend rote Rinnsale
troffen von den toten Fingerspitzen, liefen zwischen den Gliedern herab. Als die Hand nach Taylor griff, fielen dicke rote Tropfen auf
den Fließenboden.
Tropf, tropf, tropf.
Roberta »Bobbie« Rowe gehört nicht zu den Menschen, die
an Geister glauben. Darum ist die Halloween-Mutprobe, zu
der sie und ihre beste Freundin Naya von einer Mitschülerin
herausgefordert werden, auch keine große Sache. Gemeinsam mit Caine, einem Jungen aus dem Ort, sollen die beiden
den legendären Geist »Bloody Mary« beschwören, der angeblich in ihrem Mädcheninternat umgeht: Sagt man Marys
Namen fünf Mal vor einem von Kerzen erleuchteten Spiegel,
dann wird sie kommen …
Natürlich passiert absolut nichts. – Oder vielleicht doch?
Am nächsten Morgen findet Bobbie jedenfalls eine Botschaft auf ihrem Badezimmerspiegel: fünf Tage … Immer
mehr merkwürdige, furchterregende Dinge geschehen und
bald wird Bobbie klar, dass sie Bloody Mary tatsächlich aus
dem Jenseits gerufen haben. Und dass sie kein freundlicher
Geist ist. In fünf Tagen wird sie sich Bobbie, Naya und Caine
holen, wie so viele andere vor ihnen – wenn sie nicht einen
Weg finden, um sie zu stoppen.
Ta s ch e n b u ch
James Dawson
Sag nie ihren Namen
Aus dem Englischen von Frank Böhmert
Umschlag: formlabor
Ca. 352 Seiten
Ab 14 Jahren
13,3 x 19,8 cm, Klappenbroschur
ISBN 978-3-551-31419-2
Ca. € 12,99 (D) / € 13,40 (A) / sFr 19,50
Erscheint im Juni 2015
book
Sandra Regnier
Das Flüstern der Zeit
Ta s ch e n b u ch
i
All-Age-Fantasy im unnachahmlichen Regnier-Stil:
humorvoll, zeitgemäß, romantisch und süchtig
machend.
Platzregen und Sturmwinde gehören für die englische
Kleinstadt Lansbury und damit für die siebzehnjährige
Meredith zum Alltag. Doch diese Gewitternacht ist anders. Unheimliche Kornkreise tauchen am Ortsrand auf,
unerwartete Gestalten suchen Lansburys Steinkreis heim
und dann ist da noch Merediths bester Freund Colin, der
sie genau in dieser Nacht küsst, und mit dem nun nichts
mehr so ist, wie es war. Irgendetwas ist in jener Nacht
passiert, irgendetwas, das Zeit und Raum kurzfristig
aufgehoben hat. Und ausgerechnet Meredith ist der
Schlüssel zum Ganzen …
Der Auftakt einer Fantasyreihe, auf die Tausende von
Leser bereits warten. Sandra Regnier ist die Autorin der
enorm beliebten Pan-Trilogie, deren Erfolg einfach kein
Ende zu nehmen scheint. Mit der Zeitlos-Reihe stellt
sie ihr Talent, elektrisierende Geschichten zu erzählen,
wieder einmal unter Beweis. Ein absolutes Muss für jeden
Fantasyliebhaber.
Sandra Regnier
Das Flüstern der Zeit
Prolog
Auch nach all den Jahren, die er bereits in diesem Zeitalter
lebte, erstaunte es ihn immer wieder, wie sorglos die Menschen hier doch waren.
Alles war anders, und obwohl er sich schon an vieles gewöhnt hatte, gab es immer noch mehr, das ihn aufs Neue
beeindruckte. Die Gerüche zum Beispiel. Hier roch fast alles
gut und blumig. Die Frauen, die Seifen, die Wäsche, sogar
die Toiletten.
Die Musik war seltsam rhythmisch, hart und exotisch.
Sein Gehör hatte sich daran gewöhnt, aber mit dem modernen Tanzstil konnte er sich immer noch nicht anfreunden.
Ganz im Gegensatz zu dem angenehmen Licht und den
Mädchen, die in dieser Zeit wesentlich schöner waren als in
der, in die er hineingeboren worden war. Heute Abend war
die Musik lauter als normal und das Licht blinkte irritierend
bunt über die Wände, verstärkt durch eine Spiegelkugel an
der Decke.
Ein Mädchen mit langen blonden Haaren lächelte ihn an.
Ihre Lippen waren blutrot geschminkt und glänzten vielversprechend. Ihre Augen musterten ihn interessiert.
Das war nicht ungewöhnlich. Sowohl in dieser Zeit als
auch in seiner. Er hatte immer die Blicke der Frauen auf sich
gezogen. Nur war in seiner Zeit ziemlich schnell eine Anstandsdame zwischen diese Blicke getreten. Zumindest bei
Ta s ch e n b u ch
Mädchen in diesem Alter. Bei den Mädchen, die ihn wirklich
interessierten. Die verheirateten Frauen hatte er haben können. Diejenigen, die er nicht ehelichen konnte. Das war hier
anders. Besser. Mädchen ergriffen die Initiative und Aufpasserinnen oder Mütter waren selten dabei.
Er lächelte zurück und sie begann sich im Takt der Musik
aufreizend zu bewegen.
In seinem Innern zog sich etwas zusammen.
Das Mädchen tanzte langsam auf ihn zu. Ihr Blick war
auf ihn fixiert. Sie bewegte ihre Hüfte, ließ sie kreisen, hob
die Arme über den Kopf. Das Shirt spannte über ihrer Brust.
Er spürte Flüssigkeit auf seine Hände tropfen.
Das Glas auf der Theke neben ihm war zersprungen. Das
Bier lief durch die Scherben hindurch direkt auf seine Hände
hinunter.
Er atmete tief durch und versuchte sich zu sammeln, damit nicht noch mehr Gläser zu zerspringen begannen.
»Hallo!« Die Blondine hatte ihn erreicht. Im schummrigen Licht konnte er sehen, dass ihre Wimpern unnatürlich
dunkel und dicht waren. Aufregend. Sie roch nach einem
schweren Parfüm, und obwohl sie schwitzte, roch sie sauber.
Blumig. Angenehm.
»Wartest du auf jemanden?«
Er lächelte. »Nur auf dich.«
Sie krallte eine Hand in sein Shirt und zog ihn mit sich
zur Tanzfläche. Dort schmiegte sie sich eng an ihn, die Arme
auf seine Schultern gelegt. Er versuchte wie immer den direkten Hautkontakt zu vermeiden und umfasste deshalb die von
einem engen Top umhüllte Mitte. Er hatte schon festgestellt,
dass die meisten diese Berührung noch mehr mochten als
Sandra Regnier
Das Flüstern der Zeit
Händchenhalten. Davon abgesehen vermied er das Händchenhalten immer.
Er versuchte ihren Schritten zu folgen, hob sie hoch wie
bei einer … Er stockte. Beinahe ließ er das Mädchen fallen.
Das konnte nicht sein. Das war unmöglich. Hinter ihr, direkt
ihm gegenüber, schwebte eine Flasche über einer Musikbox.
»Wow, du bist ganz schön stark.«
Die Blondine umfasste seine von langen Ärmeln bedeckten Oberarme und drückte sie. Wenn sie wüsste, woher seine
Muskeln stammten.
Er ließ das Mädchen in seinen Armen langsam zu Boden gleiten und zog sie dicht an seinen Körper. Im Schutz
ihres langen blonden Haares konnte er unter halb geschlossenen Lidern alles genau beobachten. Eine Hand griff nach
der schwebenden Flasche. Eine zarte Hand. Sie gehörte dem
Mädchen mit dunklem Pagenschnitt und einer dicken Brille.
Er kannte sie. Er kannte sie seit seinem Eintreffen vor fünf
Jahren, so wie er die meisten Menschen hier kannte. Sie war
um einiges jünger als er und immer in Begleitung. Sie hatte
nie besonders gewirkt. Bis jetzt. Er konnte sehen, wie sie sich
besorgt umblickte und dann den Jungen an ihrer Seite in die
Rippen knuffte.
Der Junge hatte ebenso dunkles, jedoch strubbeliges Haar
und war einen Kopf größer als sie. Auch er war ihm bekannt.
Das Mädchen, weit von der Schönheit entfernt, die sich eng
an ihn schmiegte, aber doch irgendwie interessant, ließ die
Flasche fallen. Doch anstatt dass sie am Boden zerbrach,
blieb sie kurz vorher schon wieder in der Schwebe hängen.
Abermals sah er das Mädchen den Jungen knuffen und jetzt
schlug die Flasche auf den Boden auf. Wo sie vollkommen
Ta s ch e n b u ch
aufrecht stehen blieb. Das Mädchen bückte sich, wurde von
jemandem angerempelt und verlor das Gleichgewicht. Die
Flasche kippte um.
Er hätte gelacht, wenn die Situation nicht so brisant gewesen wäre.
Ihr Begleiter half ihr auf die Beine und er konnte genau
erkennen, dass er dem Mädchen dabei nicht die Hand reichte, sondern sie über ihrem langärmligen Pulli am Ellbogen
fasste und hochhob. Für jeden anderen musste es sehr behutsam wirken, aber für ihn, der etwas ahnte, schien es, als würde der Junge eine direkte Hautberührung vermeiden wollen.
So wie er es auch gern vermied. Er sah, wie der Junge sich zu
dem Mädchen hinunterbeugte, als wolle er sie küssen.
Genau in diesem Moment ging das Licht aus, die Musik
verstummte abrupt und in das Aufstöhnen der Anwesenden
mischte sich ein Donnergrollen von außen. Auch das noch.
Ein Stromausfall.
»Hast du Angst?«, fragte das Mädchen in seinen Armen,
das er in der plötzlich eingetretenen Dunkelheit nicht mehr
sehen konnte. Er spürte ihre Hand in seinem Haar und ihre
Lippen an seinem Kinn. Bis jetzt waren es zum Glück nur
die Lippen.
»Nein«, antwortete er nicht ganz ehrlich. Feuerzeuge
flammten auf, verbreiteten aber nur ein spärliches Licht.
Dennoch war es genug, um ihn erkennen zu lassen, dass das
Mädchen mit der Brille und der dunkelhaarige Junge verschwunden waren.
Er schob die Blondine in seinen Armen zurück.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Das ist nur ein Gewitter«, sagte sie und versuchte, ihn wieder an sich zu ziehen.
Sandra Regnier
Das Flüstern der Zeit
Dabei rutschte ihre Hand in seinen Nacken und sie berührte
seine Haut. Er schüttelte sie ab, als habe ihre Berührung ihn
verbrannt. Er musste weg. Er musste hier raus. Er musste das
dunkelhaarige Pärchen finden.
Ein Donnerschlag krachte und er fühlte seine Kontrolle
verlieren.
Raus. Nur raus. Panisch drängte er sich durch die Menge.
Dabei konnte er den einen oder anderen Hautkontakt nicht
verhindern. Bilder blitzten vor seinen Augen auf. Bilder, die
er gern vermieden hätte.
Und dann ertasteten seine den Weg suchenden Finger
eine Hand. Im selben Moment donnerte es wieder mit voller
Kraft. Die Wände schienen unter dem Knall zu beben. Die
Feuerzeuge gingen aus. Es wurde stockfinster. Und dennoch
hatte ihn die Angst verlassen. Er blieb stehen, verharrte in
der Berührung, aber das Bild, das sie erzeugte, ließ ihn nicht
fürchten. Dieses Bild hätte er gerne länger bewahrt.
Das Licht ging wieder an.
Gespannt blickte er zur Seite, doch neben ihm befand
sich niemand mehr. Nur die Tür nach außen war angelehnt.
Und die leere Bierflasche rollte auf dem Boden daneben umher.
Mit einem mulmigen Gefühl sah er zur Tür hinaus.
Mulmig war noch zu nett ausgedrückt. Er fühlte eher einen
Magenhieb. Es gab noch jemanden wie ihn. Jemanden, der
sich als gefährlich entpuppen konnte. Und leider ließ es sich
nicht ganz deutlich sagen, ob es sich um das Mädchen oder
den Jungen handelte. Und welche Konsequenzen es für sein
Dasein in dieser Zeit hatte.
Ta s ch e n b u ch
1. Kapitel
Neuanfang
Ich starrte in den Spiegel.
Sah ich anders aus? Nervös strich ich über die paar verwirrten Strähnen in meinen schulterlangen dunklen Haaren,
bis sie alle glatt und gleichmäßig lagen. Um es genau überprüfen zu können, setzte ich meine Brille auf und kontrollierte mein Spiegelbild, indem ich den Kopf einmal nach
links und dann nach rechts drehte. Fast gleichmäßig. Die
Strähne links drehte sich stets nach außen, nie nach innen.
Ich sah also aus wie immer. Allerdings fühlte ich mich
nicht so.
Mein Magen hatte einen Knoten.
Hätte nicht irgendwas anders sein müssen? Ein Leuchten? Ein Strahlen? Hinter den Gläsern meiner Hornbrille sah
ich die gleichen grünen Augen wie immer. Kein besonderes
Strahlen. Kein Funkeln. Nein, nichts leuchtete.
Warum auch? Ein Kuss löste ja keine wirkliche biologische oder chemische Veränderung im Körper aus.
Oder ich hatte einfach den Falschen geküsst.
»Meredith! Ich muss zur Arbeit! Bis heute Mittag!«
Mums Stimme tönte von unten und riss mich aus meinen Gedanken. Ein Blick auf die Uhr besagte, dass ich jetzt
ebenfalls lossollte.
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel. Wenigstens
Sandra Regnier
Das Flüstern der Zeit
die Lippen hätten doch anders sein können. Ein wenig
voller, Angelina-Jolie-mäßiger statt meines Kirsten-DunstSchmalmunds.
Enttäuscht wandte ich mich ab, schnappte mir meinen
Rucksack, den ich wegen der vielen Hefte und Bücher nie
zubekam, und lief die Treppe hinunter. Unten musste ich
gleich wieder eine Vollbremsung hinlegen, denn sonst wäre
ich mit Mum zusammengestoßen, die bereits an der Haustür
stand. Und natürlich flogen durch den abrupten Halt sämtliche Bücher aus meinem Rucksack.
»Verdammt.«
»Man flucht nicht. Das bringt Unglück«, tadelte mich
Mum sanft, bückte sich, sammelte die Bücher ein und schob
sie so ordentlich in meinen Rucksack, dass er sich zum ersten
Mal seit Wochen wieder schließen ließ.
»Ich gehe nur den halben Tag arbeiten«, erklärte sie dann
und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Mach’s gut.«
Kaum war sie aus der Tür, eilte ich in die Küche, schnappte mir das von Mum bereitgelegte Sandwich und die Trinkflasche und verließ ebenfalls das Haus. Ich war knapp dran.
Mist.
Unterwegs ließ ich den Samstag noch einmal Revue passieren und stolperte prompt über eine Unebenheit im Bürgersteig. Meine Trinkflasche fiel zu Boden.
»Man hört schon, wer da geht«, sagte eine wohlbekannte
Stimme hinter mir. Ein helles Lachen folgte.
Dann holte Shakti mich ein. Ihre tiefschwarzen Haare
fielen ihr glatt und glänzend bis auf den Po hinunter und ihre
indische Herkunft wurde wie immer durch die farbenfrohen
Klamotten und großen Ohrringe unterstrichen. Shakti und
Ta s ch e n b u ch
ich kannten uns schon seit der Einschulung und waren seitdem Freundinnen. In der Secondary School waren wir noch
enger zusammengerückt.
»Meredith, wann lernst du endlich, beim Gehen auf den
Boden zu schauen, statt mit dem Kopf in der nächsten Physikformel zu hängen?«
»Hab ich nicht«, antwortete ich und schob meine verrutschte Brille wieder zurück aufs Nasenbein.
»Bei jedem anderen Mädchen würde ich ja behaupten, sie
denke an einen Jungen. Aber da du es bist, bleibt höchstens
noch die Mathematik. Ehrlich, du entsprichst dem Prototyp
des zerstreuten Professors. Ich möchte einmal einen Tag erleben, an dem du nichts umschmeißt oder stolperst.«
»Na, vielen Dank auch«, sagte ich und hoffte, damit meine Verlegenheit überspielen zu können. Sie hatte ja keine
Ahnung, wie sehr sie gerade mitten ins Schwarze getroffen
hatte. Wenngleich der Junge, an den ich dachte, sie mit Sicherheit überrascht hätte.
»Nicht böse sein, Meredith.« Sie tätschelte mir jovial den
Rücken. »Irgendwann kommt bestimmt auch für dich der
Richtige. Der, der mit dir gemeinsam Einsteins Relativitätstheorie überarbeitet und mit dem du dann im Schweizer
CERN atomare Teilchen beschleunigen kannst.«
»Eigentlich hatte ich vor, einen Engländer zu heiraten
und drei Kinder in die Welt zu setzen, um denen dann bei
Hausaufgaben helfen zu können, die alle anderen nie hinbekommen.«
Ich hörte Shakti seufzen. »Das war ein Scherz, Meredith.«
Ich grinste. »Das weiß ich doch. Ich habe auch einen
Witz gemacht.«
Sandra Regnier
Das Flüstern der Zeit
Sie sah mich an und grinste dann unsicher zurück. Obwohl sie nicht humorlos war, war jeglicher Sarkasmus in ihrer Gegenwart eine vollkommene Verschwendung.
»Trägt Michael dich noch auf Händen?«, wechselte ich
das Thema. Auch wenn es sehr unbeholfen war, es wirkte jedes Mal, Shakti auf ihren aktuellen Freund anzusprechen, in
den sie immer schrecklich verliebt war und der sie dann nach
ein paar Monaten schrecklich unglücklich machen würde,
nur damit sie sich von neuem in einen absolut wunderbaren
Jungen verlieben konnte. Michael war zwei Jahre älter als wir
und ihr Traumboy Nr. 5 – wenn ich richtig gezählt hatte.
Wie vorhergesehen begann Shakti sofort jedes Wort und jede
Geste von ihm zu wiederholen. Ich schaltete ab, bis wir das
College erreichten.
Hier war mehr Betrieb. Auch wenn manche Kurse erst
später anfingen, meine A-Level-Kurse begannen – leider –
alle pünktlich um halb neun. Genau wie an der Secondary School früher. Shakti konnte dreimal die Woche länger
schlafen, weil sie andere Kurse besuchte. Ich hätte mich vielleicht auch lieber in Richtung Rechtswissenschaften orientieren sollen. Aber andererseits ... Mathe und Physik lagen mir.
Dabei musste ich nicht denken, es funktionierte einfach.
»Sag mal, Meredith, wir haben Frühjahr. Möchtest du
nicht mal was Helles auf deine dunkle Jeans anziehen? Ich
glaube, Orange würde dir gut stehen.« Shakti war, obwohl
extrem bunt, immer chic. Leider wäre ich mir in diesen Farben wie eine Banane unter lauter Äpfeln vorgekommen.
Auf unserer vorherigen Schule hatten wir alle hellblaue
Blusen mit Krawatte auf dunkelblauen Faltenröcken tragen
müssen. Und bei unseren Ausflügen nach London sogar
Ta s ch e n b u ch
quietschgelbe Sweatshirts auf lilanen Jeans. Das waren die
einzigen Ausflüge in meine Welt der bunten Klamotten gewesen. Zum Glück war die Zeit der Schuluniformen jetzt seit
einem Dreivierteljahr vorbei und damit auch meine bunte
Zeit, egal was Shakti mir riet.
Wir hatten die Secondary School gemeinsam hinter uns
gelassen, ja, sogar die Primary School. Wir, das bedeutete
Shakti, Rebecca, Chris, Colin und ich.
Colin. Fast elf Jahre verbrachten wir beinahe jeden Tag
zusammen. Niemand kannte mich besser als er. Von meinen
vier Freunden stand er mir am nächsten.
Und jetzt war nichts mehr wie vorher.
»Alles klar, Meredith? Colin und du seid am Samstag so
schnell von der Party verschwunden, dass wir uns kurzzeitig
richtig Sorgen gemacht haben.« Rebecca holte zu mir auf. Sie
hatte mir gerade noch gefehlt. Im Gegensatz zur verträumtverliebten Shakti war Rebecca immer hellwach. Ihr entging
nie etwas. Nie.
»Ich hatte Kopfschmerzen«, log ich. Prüfend blickte sie
mir ins Gesicht, nickte dann aber verständnisvoll. Leider hatte ich oft Kopfschmerzen. Gut, dass sie mir zumindest mal
als Ausrede dienen konnten.
Ich sah mich nervös um.
Wo war er?
Sonst stand er jeden Morgen vor dem Collegegebäude,
um auf mich zu warten. Na bitte. Nichts war mehr wie sonst.
Nicht mal auf seinen besten Freund konnte man sich verlassen.
»Ich glaube, ein Superhirn zu haben ist nicht immer einfach. Meine These ist ja immer noch, dass die grauen Zellen,
Sandra Regnier
Das Flüstern der Zeit
von denen du mehr hast als andere, dir zu viel Druck bereiten, daher die Kopfschmerzen. Apropos graue Zellen: Hast
du die Mathehausaufgaben fertig? Darf ich mal sehen?«
Ich sah mich wieder um. Nichts. »Machst du je deine
Hausaufgaben?« Ich war zu angespannt, um diplomatisch zu
sein.
»Ich habe sie ja gemacht. Ich wollte nur vergleichen. Aber
okay, dann frage ich halt jemand anders.«
Eingeschnappt rauschte sie davon. Rebecca war schnell
eingeschnappt. Zum Glück war es auch genauso schnell
wieder gut. Das lag wahrscheinlich an ihrem Vater, Vikar
Hensley, der uns jeden Sonntag alles zum Thema Vergebung
predigte.
Doch wo war Colin? Wieder schaute ich mich um.
Er sah mich zuerst.
Ich spürte seinen Blick im Rücken.
Das war nicht ungewöhnlich. Er war mein bester Freund,
ich hatte ihn immer als den Bruder gesehen, den ich mir stets
gewünscht hatte. Und ich hatte gedacht, ich sei für ihn die
Schwester, die er gern gehabt hätte an Stelle seines dämlichen
Bruders Theodor.
Hatte. Das war das entscheidende Wort.
Anscheinend hatte ich falsch gedacht.
Ta s ch e n b u ch
Sandra Regnier
Die Zeitlos-Trilogie, Band 1:
Das Flüstern der Zeit
Umschlag: formlabor
Ca. 400 Seiten
Ab 14 Jahren
13,3 x 19,8 cm, Taschenbuch
ISBN 978-3-551-31422-2
Ca. € 12,99 (D) / € 13,40 (A) / sFr 19,50
Erscheint im April 2015
book
C hick e n ho u s e
C hick e n ho us e
Colette Victor Kopfgefühl und Bauchzerbrechen
C hick e n ho us e
i
Zwischen den Stühlen
Wenn Zeyneb nachdenken muss, versteckt sie sich unter
dem großen Busch im Garten. Dort ist Platz für all die
Fragen, die ihr Leben plötzlich schrecklich kompliziert
machen: Soll sie Alex treffen, obwohl ihre Eltern niemals
damit einverstanden wären? Und dann ist da noch die Sache mit dem Kopftuch. Zeyneb hat keinen Schimmer, ob
sie wie viele andere muslimische Mädchen eines tragen
möchte. Kopf oder Bauch – worauf soll sie hören?
Ein großartiges und äußerst wichtiges Debüt.
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Colette Victor wuchs in Südafrika auf, bevor sie mit ihrer
Familie nach Belgien zog. Dort lebt sie noch immer. Wenn
sie nicht als Sozialarbeiterin unterwegs ist, verbringt sie
jede freie Minute mit Schreiben. Schon als Neunjährige
träumte sie davon, ein Buch zu veröffentlichen. Mit
»Kopfgefühl und Bauchzerbrechen« ist ihr Traum wahr
geworden.
Colette Victor Kopfgefühl und Bauchzerbrechen
Kapitel 1
(…)
Mein Geheimplatz ist für die großen Probleme reserviert.
Für die ganz, ganz ernsten.
Ich rupfe einen Grashalm aus. Der innere Teil, der in eine
zweite Schicht gehüllt ist, schimmert gelblich. Ich knabbere
daran, weil ich weiß, dass er weich und süß ist. Und während
ich kaue, denke ich nach. Ich frage mich, warum andere Leute so ein friedliches Leben haben, das wie ein großer, breiter Fluss dahinströmt. Mein Leben ist voller Stromschnellen
und Wasserfälle, und Krokodile und Haie. Okay, ich weiß,
dass Haie nicht wirklich in Flüssen herumschwimmen. Aber
es fühlt sich so an – als wäre ich von schwimmenden Hindernissen umgeben und müsste ihnen mein Leben lang versuchen auszuweichen.
Mein Haiproblem Nummer 1:
Heute ist Kellys Geburtstagsparty. Kelly ist zu Beginn
des Schuljahrs hierhergezogen und sie ist die erste richtige
Freundin, die ich je hatte. Sie ist anders als die anderen Mädchen. Sie ist klug, sagt, was sie denkt, und sie steht nicht
auf Schminken und Klamotten und diesen ganzen Kram. Sie
interessiert sich mehr für die Dinge, die wirklich zählen, zum
Beispiel, dass man kein Heuchler sein darf und sich wehren
muss, wenn man gemobbt wird. Sie ist dünn, so wie ich, aber
sie hat blonde Haare und trägt einen Pferdeschwanz. Wie
auch immer, Kelly hat die ganze Klasse zu einer Grillparty
im Park eingeladen. Und natürlich will sie mich auch dabei-
C hick e n ho us e
haben, und ich würde wahnsinnig gerne hingehen. Aber ich
kann nicht.
Denn gleichzeitig – also wirklich genau zur gleichen Zeit
(nicht gestern, nicht letzte Woche, nicht morgen, sondern
ausgerechnet heute) – soll ich mit meiner Mum und der ganzen weiblichen Verwandtschaft shoppen gehen und ein Kleid
für die Hochzeit meiner Cousine kaufen.
Und damit sind wir bei meinem Haiproblem Nummer 2:
Meine Mum will mir ein Kopftuch kaufen.
Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, ob ich eins tragen
will oder nicht. Ich habe noch nie darüber nachgedacht. Aber
gestern habe ich zum ersten Mal meine Periode bekommen,
was mich offiziell zur Frau macht – jedenfalls in Mums Augen. Als ich es ihr gesagt habe, hat sie losgekreischt und mich
umarmt, und dann ist sie zum Telefon gestürzt und hat alle
angerufen, die in ihrem Adressbuch stehen. Es war so peinlich, dass ich fast in Ohnmacht gefallen wäre. So was Bescheuertes – als hätte ich an einem einzigen Tag den Nobelpreis bekommen und den ganzen Ärmelkanal schwimmend
durchquert. Mum bringt es fertig, aus einem rein biologischen Ereignis eine persönliche Errungenschaft zu machen.
Dabei ist doch nur mein Körper in eine neue Lebensphase
eingetreten.
Als sie es endlich geschafft hatte sich vom Telefon loszureißen, fiel ihr wieder ein, dass ich noch immer auf der
Veranda saß. Sie kam zu mir heraus und bot mir ein Glas
Tee an.
»Wenn wir morgen einkaufen gehen«, sagte sie, »dann
möchte ich, dass du … also du darfst dir dein erstes Kopftuch aussuchen.«
Colette Victor Kopfgefühl und Bauchzerbrechen
Ist es da ein Wunder, wenn ich von Wasserfällen und
Stromschnellen und Haien und Krokodilen in meinem Leben rede?
Ich lasse meinen zerkauten Grashalm fallen und reiße einen neuen heraus. Seufzend stecke ich ihn in den Mund. Ich
habe echt keinen blassen Schimmer, was ich tun soll.
Hochzeiten sind ein Riesen-Event bei uns. Und wenn ich
riesig sage, meine ich riesig. Okay, ich weiß, Hochzeiten sind
in allen Kulturen was Großes, aber bei uns sind sie so gigantisch, dass alles andere davon überschattet wird und in totaler Bedeutungslosigkeit versinkt. Ich war schon bei Hochzeiten mit über tausend Gästen – obwohl doch kein Mensch
auf dieser Welt tausend Leute kennt. Im Prinzip läuft es so:
Wenn du irgendwem auf der Straße begegnest – und es muss
nicht unbedingt auf derselben Seite sein –, hast du das Recht,
auf seiner Hochzeit zu erscheinen.
Die Familie spart jahrelang dafür. Sie machen keinen Urlaub, fahren in verbeulten alten Klapperkisten herum und
nehmen Kredite bei der Bank auf. Und wofür geben sie das
ganze Geld aus? Gemietete Limousinen, riesige Berge an aufwendigen Speisen, Kleider, die vor Glitzer und Glimmer nur
so strotzen. Und nicht nur die Braut muss glitzern und glimmern, sondern die ganze Familie. Dummerweise stehe ich
nicht auf Glitzerkram, und schon gar nicht auf Shoppingtouren mit Scharen von Tanten und Cousinen im Schlepptau. Aber selbst mir ist klar, dass ich bei einer Familienhochzeit nicht in meiner Lieblingsjeans aufkreuzen kann. Schon
deshalb nicht, weil Mum auf der Stelle einen Herzinfarkt
bekommen würde.
Ich weiß seit einer Ewigkeit, dass Kelly eine Grillparty
C hick e n ho us e
macht, aber ich habe meinen Eltern erst gar nichts davon
erzählt. Die Shoppingtour war bereits geplant. Das wäre so,
als würde ich meiner Mum sagen, dass ich lieber zu Hause
bleiben und Fliegen totschlagen will, als mit ihr einkaufen
zu gehen – in ihrer Welt zählt so was einfach nicht. Die Geburtstagsparty einer Freundin, lächerlich.
Aber ich kann doch nicht als Einzige nicht bei Kelly auftauchen? Vor allem, weil sie meine beste Freundin ist. Was
soll ich ihr bloß am Montag sagen? Tut mir leid, ich musste
shoppen gehen? Das würde sie nie verstehen.
»Zeyneb? Wo bist du?«
Ich spähe hinter den Hortensienblättern hervor. Meine
Mum steht auf der Veranda und wringt das Geschirrtuch
aus, das sie immer mit sich herumschleppt. Sie trägt ihre
alte grüne Schürze mit den kleinen weißen Blüten über einem knöchellangen dunkelblauen Kleid. Außerdem hat sie
schwarze Strümpfe an und ihre grässlichen festen Schuhe
(praktisch, nennt sie die), dazu ein braunes Kopftuch mit
braunen Blümchen.
»Zey-nee-e-heb!« Es ist unglaublich, wie viele Silben sie
aus meinem Namen herausholt.
»Ich komme ja schon, Anne«, seufze ich und krieche unter
meinem Strauch hervor (Anne ist unser Wort für »Mum«).
»Was machst du eigentlich den lieben langen Tag in
diesem Busch?«, sagt sie, während ich langsam zur Veranda
komme.
Ich senke den Kopf und verdrehe die Augen – sie darf es
nicht sehen, sonst krieg ich ein paar hinter die Ohren.
»Ich hab dir doch gesagt, dass wir in dreißig Minuten losmüssen, oder? Ach, du liebe Güte, wie siehst du denn wieder
Colette Victor Kopfgefühl und Bauchzerbrechen
aus?« Sie zupft mir ein paar Grashalme von meinem T-Shirt.
Ich stoße ihre Hand weg. »Lass das, Anne.«
»Du bist genau wie dein Vater«, sagt sie kopfschüttelnd.
»Jedes Mal wenn du hier reinkommst, bringst du den halben
Garten mit. So, und jetzt geh rauf und zieh dir was Anständiges an. Wir müssen in zehn Minuten bei deiner Tante sein.«
»Aber Anne, ich will doch gar nicht …« Ich verstumme.
Ich weiß einfach nicht, wie ich es ihr sagen soll. Ich will doch
gar nicht mitkommen.
Plötzlich streckt sie eine Hand aus und streichelt meine
Wange. Ihre strengen braunen Augen werden weich.
»Heute ist ein großer Tag, Kizim«, sagt sie. Kizim – mein
Mädchen. »Wir kaufen dir dein erstes Kopftuch, oder hast
du das schon vergessen?«
»Aber Anne …«, fange ich wieder an und nage an meiner
Unterlippe.
»Irgendwann musst du erwachsen werden, mein Mädchen, sogar dein Körper sagt es dir.« Mit einer schwungvollen Geste zeichnet sie meine Körperformen nach. »Du bist
kein kleines Mädchen mehr. Du bist jetzt eine junge Frau.«
»Anne, bitte …«
»Und ich finde, die Hochzeit deiner Cousine ist eine gute
Gelegenheit, dich zum ersten Mal mit Kopftuch zu zeigen.«
Ihre Augen leuchten. Ich weiß nicht, ob ich sie jemals so
glücklich gesehen habe.
»Aber ich weiß doch gar nicht, ob ich …« Wieder verstumme ich. Mums Mundwinkel gehen nach unten und ihr
Blick begegnet meinem – beinahe flehend schaut sie mich
an. »Ich … ich hab mich doch noch gar nicht entschieden
…«, sage ich lahm.
C hick e n ho us e
»Aber du wirst doch hoffentlich wissen, was sich für ein
gutes muslimisches Mädchen gehört?« Mum nimmt ihre
Hand von meiner Wange und wringt wieder ihr Geschirrtuch aus.
Ich nicke, obwohl ich überhaupt nicht damit einverstanden bin. Ich kenne massenhaft »gute muslimische Mädchen«, die keine Kopftücher tragen, und jede Menge Heuchlerinnen, die es tun. Das würde ich ihr gerne sagen – aber ich
halte natürlich den Mund.
Mum seufzt, als ich beharrlich schweige. »Zeyneb, du bist
ein kluges Mädchen, und ich sehe, dass du dir darüber Gedanken gemacht hast. Ich dachte nur … es wäre so schön,
wenn du dir heute ein hübsches Kopftuch aussuchen würdest.«
Genau in diesem Moment schießt mir ein Bild durch den
Kopf. Kellys Geburtstagsgeschenk, das eingewickelt in einer
Ecke in meinem Kleiderschrank liegt – das neue Buch von
dem Autor, den sie so toll findet. Ich habe es mit dem Geld
gekauft, das ich an Bayram bekommen habe, dem Zuckerfest,
mit dem wir das Ende des Fastenmonats feiern.
Was soll ich nur tun? Eine von beiden muss ich anlügen,
so viel ist klar.
Mein Telefon rettet mich. Der neue Klingelton, den ich
mir gestern Abend heruntergeladen habe, ertönt aus meiner
Jeanstasche. Ich nehme das Handy heraus und werfe einen
Blick darauf.
Es ist eine SMS von Kelly, und obwohl sie nur zwei
Wörter geschrieben hat, schlägt mir das Herz bis zum Hals.
ALEX KOMMT!
Alex – o mein Gott!
Colette Victor Kopfgefühl und Bauchzerbrechen
Und das ist mein Haiproblem Nummer 3 …
»Zeyneb«, sagt Mum ärgerlich. »Leg bitte das Ding weg,
wenn ich mit dir rede.«
Ich schaue zu ihr auf. Kellys SMS erleichtert mir die Entscheidung. Aber ich kann doch Anne nicht anlügen.
Mein Vater kniet auf einem halb leeren Kompostsack im
Gartenschuppen und hantiert mit zwei Tabletts voller Setzlingen herum. Ein kleines braunes Blatt klebt in seinem Haar,
seine Schuhe sind voller Erde, zwei Zweige hängen an seinem
Pulli und ein Marienkäfer krabbelt auf seiner Schulter. Anne
hat Recht, er kommt nie ins Haus, ohne ein bisschen was
von draußen mit reinzubringen. Er arbeitet jeden Tag in der
Autofabrik, aber im tiefsten Herzen ist er Gärtner. Wenn er
nach Hause kommt, schlingt er ein Stück von Mums Pide
hinunter – ein türkisches Fladenbrot –, trinkt ein Glas Tee
und marschiert schnurstracks wieder zur Tür hinaus zu seiner Gartenparzelle.
Wenn ich nicht allzu viele Hausaufgaben habe, begleite ich ihn. Ich springe auf mein Fahrrad und fahre langsam
neben ihm her, während er mit langen, geduldigen Schritten die Straße entlanggeht. Ich rede die ganze Zeit auf ihn
ein, erzähle ihm, was alles in der Schule passiert ist. Dad sagt
nichts dazu, sondern geht einfach weiter – aber später, wenn
wir neben den Auberginen knien und unsere Fingernägel
schwarz von Gartenerde sind, wird er auf seine ruhige Art
fragen: »Hast du schon mit Mrs Berger gesprochen? Hast du
ihr gesagt, wie dieser Junge mit dir geredet hat? Du weißt
doch, so was beruht auf Gegenseitigkeit. Ein Junge muss
auch Respekt vor einem Mädchen zeigen.«
C hick e n ho us e
Ich nicke und beiße mir auf die Lippen. Es tut mir schon
fast leid, dass ich ihm von der dummen Bemerkung erzählt
habe, die David neulich in der Klasse gemacht hat. Die Dinge sind nicht immer so einfach, wie er glaubt – auch wenn
ich mir oft wünsche, dass es so wäre.
Dad fährt fort: »In der Schule lernst du auch fürs Leben,
Kizim …«
»Ja, ja, Baba, du hast ja Recht.« Ich lächle, weil ich genau
weiß, was jetzt kommt.
»So ist es nun mal auf der Welt. Und so sind die Leute
hier in diesem Land.« Mein Baba gibt immer solche Weisheiten von sich. Jetzt geht er in die Hocke zurück und schaut
zu mir auf. »Die hab ich aus Alis Garten«, sagt er und hält
einen Setzling in einem Topf hoch. »Eine neue Sorte gelber
Chilis.«
Ich zwinge mich, einen Blick auf die Pflanze zu werfen,
aber ich kann die ganze Zeit nur an Kellys Geschenk und
ihre SMS denken. Ich werde sie nicht enttäuschen, so viel
steht fest.
»Baba, ich muss mit dir sprechen«, sage ich.
»Was ist denn?«
»Ich kann heute nicht mit Anne Kleider kaufen gehen.«
So, jetzt ist es raus.
Baba runzelt die Stirn und sein Knie rutscht von dem
Kompostsack herunter. Er stützt sich mit einer Hand am Boden ab und sagt: »Na, hör mal, Zeyneb. Das war doch schon
so lange geplant.«
»Nein, im Ernst – ich kann nicht. Aus einem wirklich
wichtigen Grund.«
Mein Dad kommt auf die Füße und nimmt meine rech-
Colette Victor Kopfgefühl und Bauchzerbrechen
te Hand in seine beiden Hände. Die dunkle, feuchte Erde
färbt auf meine Finger ab. »Kizim, wir müssen alle manchmal
Dinge tun, die uns nicht gefallen. Das nennt man erwachsen
werden. Außerdem bedeutet dieser Nachmittag deiner Mutter unendlich viel.«
»Aber Baba, ich habe morgen einen Französischtest.«
(…)
Kapitel 2
(…)
Zwanzig Minuten später wird die Holzkohle von schwachen
Flammen umzüngelt und ich versuche, das Feuer mit dem
Deckel der Kühlbox ein bisschen anzufachen. Inzwischen
sind auch ein paar andere eingetrudelt: David, Julie, Christine und …
»Zeyneb!«, zischt Kelly hinter mir. »Er ist da.«
Ich weiß genau, wen sie meint. In heller Panik wirble ich
zu ihr herum. Kelly sieht mich an und ihre Augen weiten sich.
»Oh, nein …«, stößt sie hervor. Ihre Hand mit dem Plastikbecher voller Fanta erstarrt mitten in der Luft.
»Was ist denn?«, frage ich und blicke wild um mich. Wo
ist er? Was soll ich jetzt tun?
»Zeyneb!«, sprudelt Kelly hervor, »dein Gesicht!«
»Was ist mit meinem Gesicht?«
»Du hast dich total mit Holzkohle vollgeschmiert. Wasch
es ab, schnell.«
C hick e n ho us e
»Wie soll ich das denn jetzt abwaschen?«Ich bin kurz
vorm Durchdrehen. »Hier ist doch nirgends Wasser.«
Kelly stürzt zu dem Korb mit den Getränken, und ich
reibe an meinem Gesicht herum, bis ich merke, dass meine
Hände jetzt auch schwarz sind. Verzweifelt bücke ich mich
und wische meine Finger am Gras ab. Kelly kommt mit einer
Papierserviette und einer Flasche Wasser zurück.
»Hier, versuch’s mal damit.« Sie grinst und ich kann es
ihr nicht verübeln.
»Danke«, sage ich, aber ich sehe, dass ihre Aufmerksamkeit bereits etwas anderem gilt. Etwas hinter meiner rechten
Schulter.
»Hi, Kelly«, ertönt eine Stimme von dort. »Hi, Zeyneb …«
Ich wage nicht mich umzudrehen. »Hi, Alex«, sage ich.
Es soll beiläufig klingen, aber das geht voll daneben. Kelly
hat das Grinsen eingestellt, aber ihre Augen funkeln mich an.
»Alles Gute zum Geburtstag«, sagt er.
»Danke«, antworte ich und mit Kellys Beherrschung ist es
endgültig vorbei.
»Ich glaube, er meint mich, Dummi.«
Sie platzt fast vor Lachen, und er auch.
Ich würde am liebsten im Erdboden versinken.
Das ist ja noch schlimmer als Anne gestern, die unbedingt
der ganzen Welt verkünden musste, dass ich meine Periode
bekommen habe. Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht
steigt und kneife die Augen zu. Wenn ich sie geschlossen
halte, geht Alex vielleicht weg und kommt erst später wieder
zurück, damit wir noch mal von vorne anfangen können.
Aber keine Chance. Da muss ich jetzt durch.
Ich drehe mich zu ihm um und will etwas zu meiner Ver-
Colette Victor Kopfgefühl und Bauchzerbrechen
teidigung sagen. Aber erst mal bleibt mir die Spucke weg,
als mein Blick auf DIESES GESICHT fällt: pechschwarzes
Haar, mit einem schrägen Pony, der ihm über sein linkes
Auge fällt … ein Grübchen in seiner rechten Wange … glatte olivfarbene Haut … ein breites Grinsen … Augen mit
Lachfältchen an der Seite … Er sieht so selbstbewusst aus.
Ich hasse das an ihm, aber gleichzeitig liebe ich es auch. Er
lacht über mich. Zum zweiten Mal in kaum einer Minute.
Mein Mund steht offen, weil ich etwas sagen will, aber
ich bringe keinen Ton heraus. Ich bin total überwältigt, so
wie jedes Mal in den letzten paar Wochen, wenn ich in DIESES GESICHT geschaut habe. Weiß auch nicht, warum
das passiert ist. Weiß nicht mal genau, wann. Schließlich ist
er schon zwei Jahre in meiner Klasse, und vorher ist er mir
nie aufgefallen. Jedenfalls nicht auf diese Weise. Also warum
dann jetzt? Kelly sagt, das nennt man »sich verlieben«. Ich
traue mich nicht, es überhaupt irgendwie zu benennen. Ich
bin die Tochter von Anne und Baba, ein gutes muslimisches
Mädchen. Ich weiß genau, wie gefährlich ein Wort wie Liebe
sein kann.
»Hey, Zeyneb«, sagt er und beugt sich zu mir vor. »Hat
dir noch nie jemand gesagt, dass Wimperntusche auf die Augen gehört, und nicht ins ganze Gesicht?«
Mir fällt keine Retourkutsche ein. Ich kann ihn nur anstarren und nach Luft schnappen wie ein Goldfisch.
Aber Kelly springt für mich ein. Ihr Arm schießt vor und
sie boxt ihn spielerisch gegen die Schulter. »Statt blöde Kommentare abzugeben, kannst du dich mal ein bisschen nützlich machen«, sagt sie und blinzelt mir zu.
»Autsch«, jammert er. »Das hat wehgetan.«
C hick e n ho us e
Der Bann ist gebrochen und ich gehe mit langen, energischen Schritten weg, die Serviette und die Wasserflasche in
den Händen. Kelly scheucht Alex herum, sagt ihm, dass er
sich um das Feuer kümmern soll, und gibt mir so die Chance,
mich zu verkrümeln. Hinter dem Kastanienbaum befeuchte
ich die Serviette und reibe damit an meinen Wangen herum.
Ich rubble und rubble, bis die Serviette total schwarz ist und
auseinanderbröselt.
Celeste, eines der nettesten Mädchen in meiner Klasse,
steht plötzlich neben mir. »Hier, nimm das«, sagt sie. Wie
ein Engel, den der Himmel geschickt hat, hält sie mir einen
kleinen Taschenspiegel und eine Packung Erfrischungstücher hin. »Kelly hat gesagt, ich soll mal nach dir sehen.«
»Danke«, sage ich erleichtert und widme mich wieder
meiner Gesichtsreinigung. Dann überprüfe ich das Ergebnis
im Spiegel, und nachdem Celeste mir mindestens zehnmal
versichert hat, dass von der Holzkohle absolut nichts mehr zu
sehen ist, wage ich mich endlich zu der Party zurück.
Beide Grills brennen jetzt wie Hölle und die Gäste sind
alle da. Kelly tut so, als wäre sie hochentzückt über eine Flasche Designer-Badeschaum, die sie gerade auswickelt. Ich
lächle, weil ich weiß, wie sehr sie diesen ganzen Mädchenkram hasst. Unauffällig mische ich mich unter die Menge,
die sich um meine beste Freundin versammelt hat, und lege
schnell mein kleines rechteckiges Päckchen auf den Tisch.
Kellys Blick begegnet meinem. »Ist das …?«
Ich nicke.
»Danke, Zey. Ich freu mich wahnsinnig drauf.«
Plötzlich holt Jamal einen Fußball hervor und fordert die
Mädchen zu einem Spiel gegen die Jungs heraus. Ganz schön
Colette Victor Kopfgefühl und Bauchzerbrechen
unfair, denke ich, weil die Jungs die ganze Zeit in der Pause
herumbolzen und folglich viel mehr im Training sind als wir.
Aber ich sage nichts. Kelly, die alle Sportarten toll findet,
schnappt sich den Ball und kickt ihn auf die offene Wiese.
Die ganze Meute jagt hinterher.
Alle außer Alex. »Soll ich dir vielleicht ein paar Grilllektionen geben?«, sagt er. Er grinst mich an, mit Grübchen und
allem, und schon wieder bin ich von seinem Anblick total
überwältigt. Alle Worte sind aus meinem Kopf verschwunden. Aber nein, stopp! Ich will nicht wieder wie ein Fisch auf
dem Trockenen nach Luft schnappen. Ich will Spaß haben,
ich will die Party genießen. Wozu habe ich sonst meine Eltern angelogen? Ich will mich mit Alex unterhalten.
Ich zwinge mich, etwas zu sagen – egal was. »Ach, nicht
nötig. Ich seh gern wie ein Bergarbeiter aus.«
Geht’s noch? Hättest du dir nicht noch was Lahmeres einfallen
lassen können? Das war echt der dümmste Kommentar in der Geschichte der Menschheit.
»Ist nämlich gar nicht so einfach diesen Look zu perfektionieren«, fahre ich fort, obwohl eine Stimme in meinem
Hinterkopf mir zuflüstert: Halt die Klappe, Zeyneb!
Aber dann passiert etwas Unglaubliches: Alex lacht – und
diesmal lacht er mit mir, und nicht über mich. Glaube ich
jedenfalls. Und dann, noch besser – oder noch schlimmer,
ganz sicher bin ich mir nicht –, beugt er sich seitlich vor
und stößt mich mit der Schulter an. Unsere Körper berühren
sich, wow! Mein Inneres schmilzt wieder dahin wie Karamell
in der Sonne. Jetzt weiß ich, dass ich diesen Nachmittag gut
überstehen werde, ohne jedes Mal zu erstarren, wenn mich
jemand anspricht. Ja, ich freue mich sogar darauf.
C hick e n ho us e
»Und, was ist? Spielst du mit, oder nicht?«, frage ich und
nicke zu den anderen hinüber, die gerade die Torpfosten mit
großen Steinen markieren.
»Fußball ist nicht so mein Ding«, antwortet Alex.
»Du hast nur Angst, dass die Mädchen gewinnen«, ziehe
ich ihn auf und marschiere in Richtung Spielfeld davon.
Wir sind alle um den Tisch versammelt, auf dem Kelly
gleich ihren Schoko-Geburtstagskuchen anschneiden wird.
Sie hat ihrer Mum geschrieben, dass sie herkommen und
sich auch ein Stück nehmen soll. Deswegen halte ich nach
Annelies Ausschau.
Und was sehe ich? Meinen Vater. Steht dort zwischen den
geparkten Wagen. Dad ist groß,praktisch unübersehbar.
Was macht er hier? Er dürfte doch gar nicht da sein?
Aber da steht er, am Parkrand neben unserem Auto, mit verschränkten Armen. Und beobachtet uns.
Ich drehe in heller Panik den Kopf weg. Starre stattdessen auf Kellys Schultern mit den winzigen Spaghettiträgern. Mein ganzer Körper ist von einem dünnen, eiskalten
Schweißfilm bedeckt.
Colette Victor
Kopfgefühl und Bauchzerbrechen
Aus dem Englischen von Ilse Rothfuss
Umschlaggestaltung: Henry´s Lodge – Vivien Heinz
Ca. 224 Seiten
Ab 11 Jahren
15 x 21 cm, gebunden
ISBN 978-3-551-52075-3
Ca. € 12,99 (D) / € 13,40 (A) / sFr. 19,50
Erscheint im Juni 2015
book
Anneka Driever
6. Stunde: polterfrei!
C hick e n ho us e
i
Eine grandiose und originelle Freundschaftsgeschichte
Seit mehr als 30 Jahren spukt Nelly schon unbemerkt
im Rilke-Gymnasium herum. Und dann schaut ihr Klara
eines Tages geradewegs in die Augen! Logisch, dass Nelly
sich erst mal zu Tode erschrickt (falls das bei Geistern
überhaupt möglich ist). Doch sie merkt schnell, dass die
Freistunden viel lustiger sind, wenn man jemanden zum
Reden hat. Außerdem kann die schüchterne Klara eine
Freundin wie Nelly gut gebrauchen.
Anneka Driever, geboren 1983, hat immer eine Geschichte im Kopf – was sehr praktisch ist, wenn ihr auf langen
Bahnfahrten mal wieder die Lektüre ausgeht. Wenn sie
ihre Fantasiewelten gerade nicht aufs Papier bringt, arbeitet sie als Kunsthistorikerin, macht Yoga und sammelt
Postkarten. »Sechste Stunde: polterfrei!« ist ihr erster
Roman.
Anneka Driever
6. Stunde: polterfrei!
Kapitel 1
Mein Manic Monday Teil 1
Oder: Ein quasi ganz normaler Anfang
»Was sieht er also in ihr?«
Frau Lenz wandte sich von der Tafel ab und ließ ihren bebrillten Blick über die Klasse schweifen. Ihr schmaler Mund
spitzte sich.
Es war die zweite Woche nach den großen Ferien. Montag, erste Stunde.
Erwartete sie da wirklich eine Antwort?
Die 7b ließ geschlossen die Köpfe sinken und suchte in
stummer Übereinstimmung die Lösung in den Tiefen der
Tischplatten.
Hach ja, diese gespannte Stille.
Mit wippendem Fuß betrachtete ich die 32 müden Gesichter, denen das kalte Licht dieses schönen bewölkten Morgens nicht gerade schmeichelte.
In meinem Kopf lief die passende Hintergrundmusik an:
Manic Monday von den Bangles.
»Ich wette, keiner von euch hat auch nur die Hälfte gelesen«, murmelte ich und grinste in mich hinein.
C hick e n ho us e
(…)
Bestimmt waren die meisten hier noch mit ihren Gedanken in den Ferien, ganz einfach. Schule war in ihren Köpfen
noch nicht angekommen.
Die Realität sah nur leider etwas anders aus. Etwas sehr
anders.
Allein schon diese unbequemen Plastikstühle! Grau, genau wie die Tische. Wie die schicken PVC-Böden. Und
manche Wände. Die anderen waren kränklich blassgelb. Super motivierende Umgebung, nicht wahr? Aber vermutlich
waren alle Schulen so.
Wenigstens sah unser ehrwürdiges Rainer–Maria-RilkeGymnasium von außen noch nach was aus. Der imposante
Bau mit seinen dunklen Ziegelsteinen, hohen Fenstern und
dem breiten Eingangsportal hatte immerhin schon so einige
Jährchen auf dem Buckel.
Nachteil – großer Nachteil, da waren sich alle einig – eines
so alten Gebäudes: kaum Hitzefrei. Die dicken Mauern hielten das Wetter eben meist draußen.
Da sich momentan in unserer Deutschstunde immer noch
nichts tat, lehnte ich mich entspannt zurück, freute mich
kurz an dem Glitzern der goldenen Schnürsandalen, für die
ich mich heute richtigerweise entschieden hatte, und vertrieb
mir dann die Zeit mit Leute-Beobachten.
Miri und Jo hielten unter dem Tisch heimlich Händchen.
Süß. Anscheinend hatten die beiden sich wieder vertragen.
Bestimmt war Jo immer noch total selig, dass seine seit der
fünften Klasse angebetete Miri-mit-den-schwarzen-Locken
ihn überhaupt erhört hatte. Toller Kerl, ehrlich.
Anneka Driever
6. Stunde: polterfrei!
Neben Miri saß Elena und starrte in ihr Buch, als wollte
sie Frau Lenz was beweisen. Ihre Füße steckten in den höchsten Plateausandalen, die ich je gesehen hatte. Und das will
was heißen!
Am Fenster spielte die schicke Tina, heute ganz in Pink
und Weiß, mit ihrem Designerstift, bis er ihr aus den Fingern glitt und klappernd auf dem Boden neben ihrer Designertasche landete. Sie war trotzdem eine ganz Liebe (und mit
ihren langen kastanienbraunen Haaren und Rehaugen quasi
mein Lookalike, bloß mit mehr Sommersprossen).
Daneben saß Ben, Charmebolzen Nummer eins der Klasse. Mit blendendem Aussehen gesegnet, inklusive PerlweißLächeln und Wuschelhaaren, dazu noch supersportlich.
Schwimmer, soviel ich wusste. Außerdem war er echt nett
und nicht auf den Kopf gefallen.
Das schelmische Grinsen, mit dem er Tina gerade bedachte, brachte ihm allerdings einen finsteren Blick von ihr
ein.
Hach ja, Spaß!
»Klara?«
Wie vom Blitz getroffen zuckte ich zusammen und schaute nach vorn. Frau Lenz! Hatte fast vergessen, dass sie noch
da war. Die gute Frau versuchte wohl immer noch verzweifelt, so was Ähnliches wie Unterricht zu machen.
»Was meinst du? Warum schenkt Lotte Werther die
Schleife?«
Interessiert drehte ich mich um.
In der letzten Reihe war die arme Klara ganz rot geworden. Hatte sie nicht aufgepasst? Konnte ich mir bei ihr eigentlich nicht vorstellen.
C hick e n ho us e
Ihre Finger zitterten ein bisschen, als sie sich eine dünne
Strähne ihres blonden Haares hinters Ohr strich. Mann, das
Mädel könnte echt mehr aus sich machen. Wo sie doch so
schön groß und schlank war.
Klara räusperte sich leise. »Äh, also …«
Aller Augen klebten inzwischen auf ihr. Dadurch wurde
sie nur noch nervöser.
»Och, Leute!« rief ich. »Jetzt seid doch nicht immer so
zu ihr!«
Natürlich hörte keiner auf mich.
Die Arme musste sich ganz schön zusammenreißen.
»Also, ich denke, sie weiß schon ganz genau, was Werther für
sie empfindet, und …«
Frau Lenz nickte aufmunternd und Klara fasste Mut für
den nächsten zittrigen Satz. »Und ich denke, sie will ihn damit ganz bewusst quälen. Sie spielt mit ihm.«
»Gut, Klara«, lobte Frau Lenz.
»Ja, sehr gut!« Ich klatschte in die Hände. »Ganz meine
Meinung!«
Endlich mal jemand mit Durchblick in dem Verein hier.
Zufrieden grinste ich zu Klara rüber. Die senkte mit einem
verlegenen Lächeln den Kopf und kritzelte etwas auf ihren
Block.
Wir zerpflückten Lotte noch ein bisschen mehr, ehe es
zur großen Pause schellte.
Unter lautem Gebrummel und Stuhlgeschiebe packte die
halbe Klasse fix ihren Kram ein.
Alle wollten mehr oder weniger gleichzeitig aus der Tür
stürmen, zum Klo, nach draußen in die Wärme oder zum
Kiosk.
Anneka Driever
6. Stunde: polterfrei!
Nichts für mich, so ein Gedrängel.
Elegant schwang ich mich von meinem Stuhl und – ging
einfach durch die Wand.
Kapitel 2
Mein Manic Monday Teil 2
Oder: Warum man immer aufpassen sollte, wo man so
reinläuft
(…)
Seit zwei Jahren hatte ich meine Lieblingsklasse, bei der ich
den größten Teil des Schultags verbrachte, und das war die
7b (oder auch Quarta, wie man früher an hochherrschaftlichen Einrichtungen wie dieser hier gesagt hatte. So altmodisch war ich allerdings nicht).
Und genau dahin ging ich jetzt. Die Hände auf dem Rücken tappte ich zum Kunst-Flur, ohne groß auf meine Umgebung zu achten.
»O nein! Mist!«
Direkt vor meiner Nase knallte und raschelte es, und als
ich nach unten guckte, kniete Klara vor mir auf dem Boden.
Mit hochrotem Kopf raffte sie ein paar Bücher und viele lose
Seiten zusammen. An den Fensterbänken standen ein paar
Jungs, aber niemand machte Anstalten, zu helfen.
»Meine Güte, keine Kavaliere mehr heutzutage!« rief ich
C hick e n ho us e
erbost und fuchtelte in Richtung der Kerle. So was regte mich
auf. »Hilft ihr vielleicht mal einer von euch Waschlappen!«
»Danke, es geht schon«, murmelte Klara.
»Höh?« Perplex sah ich zu ihr hinunter.
Sie schaute auf.
Direkt in meine Augen.
»Kennen wir uns?«
Kapitel 3
Mein Manic Monday Teil 3
Oder: Warum man seinen Kopf nicht durch Klotüren
stecken sollte
Sie sah mich an.
Sie. Sah. Mich. An.
Mich.
Mich!
MICH !!!
»Was?«, fiepte ich schließlich reichlich unintelligent.
Sie blinzelte und schien sich zu fragen, ob ich irgendwie
schwer von Begriff sei.
Was im Moment definitiv zutraf.
Nach einer gefühlten Ewigkeit brachte ich ein paar Worte
raus.
»Du … Du siehst mich?!«, piepste ich.
Anneka Driever
6. Stunde: polterfrei!
Ihre Brauen zogen sich zusammen und nach einem finsteren Blick stopfte sie die Sachen zurück in ihre Tasche. »Sehr
lustig.«
Und damit ließ sie mich stehen. Genauer gesagt, sie lief
um mich herum.
Sie lief tatsächlich UM MICH HERUM!
Total verdattert stand ich da. Für noch eine gefühlte
Ewigkeit.
Dann drehte ich mich um.
Und rannte ihr nach.
»Klara! Klara, warte!«
Ganz knapp erwischte ich sie an der Tür zum Mädchenklo, das gleich um die Ecke lag. Stirnrunzelnd wandte
sie sich mir zu. »Du kennst mich?«
»Ja!«, rief ich, überschäumend vor Begeisterung, Glück
und Aufregung. Klara schreckte merklich zurück. Holla,
nicht gut. Musste mich unbedingt beruhigen. »Ich meine,
nein – oder, äh … so halb?«
Mein schiefes Grinsen steckte sie nicht an.
»So einen Quatsch muss ich mir nicht geben.«
Oha, jetzt war sie sauer.
Ohne mich eines Blickes zu würdigen, rauschte sie durch
die Tür.
Ich hinterher.
»Es tut mir leid!«, versuchte ich es weiter. »Ich will dich
nicht auf den Arm nehmen, ehrlich! Gib mir nur eine Minute und ich erklär dir alles!«
Sie hatte ihre Hand schon an der Klinke einer Kabinentür. »Was, alles?«
»Na ja, wer ich bin und was ich hier mache und so …«
C hick e n ho us e
Unter ihrem kühlen Blick wurde ich immer leiser.
»Und?« fragte sie. Ich konnte ihr ansehen, dass sie keinen
Schimmer hatte, was sie von der ganzen Sache halten sollte.
Okay, meine Chance. Hier war behutsames Vorgehen
gefragt.
»Ich heiße Nelly Jansen und ich … gehe quasi auch aufs
Rilke.«
»Quasi?«, wiederholte Klara. »Wie kann man denn quasi
auf eine Schule gehen?«
»Na ja …«Wie sollte ich das am besten erklären? Auf so
eine Situation war ich überhaupt nicht vorbereitet, hätte ja
nie und nimmer gedacht, dass mich mal jemand sehen würde! Zumindest nach den ersten fünf Jahren oder so hatte ich
die Hoffnung darauf komplett aufgegeben. Und hier stand
nun ein intelligentes Mädel von dreizehn Jahren vor mir,
das … mir kein Wort glauben würde.
»Na gut, es hilft ja alles nichts«, meinte ich, mehr zu mir
selbst. Dann schaute ich Klara geradewegs in die Augen und
sagte mit allem gebotenen Ernst: »Ich bin ein Geist.«
Sie starrte mich an.
Hoffentlich brachte mein Gesicht meine ganze Ehrlichkeit zum Ausdruck, alles, was ich an Glaubwürdigkeit hatte,
jedes noch so kleine Fitzelchen. Und mein stummes Flehen.
Ich wollte so sehr, dass sie mir glaubte. So sehr.
Sie öffnete den Mund.
»Klar.«
Und schloss die Tür hinter sich ab.
Na toll.
Wie versteinert stand ich da. Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich jetzt tun sollte.
Anneka Driever
6. Stunde: polterfrei!
Einfach den Kopf durch die Tür stecken und »Kuckuck!«
rufen?
Ganz ehrlich: Was anderes fiel mir auf die Schnelle beim
besten Willen nicht ein.
Ich hörte, wie sie ihre Tasche auf den Boden stellte.
Okay, jetzt oder nie, sonst würde es echt peinlich werden.
»Entschuldige!«, rief ich noch schnell, bevor ich mich vorlehnte und den Kopf zu ihr in die Kabine schob.
Wie von der Tarantel gestochen fuhr sie herum und ließ
ihre Jacke fallen.
Die von mir erwarteten Reaktionen blieben aus. Sie schrie
nicht. Sie kreischte nicht. Sie fiel (Gott sei Dank) nicht in
Ohnmacht. Aber sie sagte auch nichts.
Stattdessen stand sie einfach nur da, mit diesen weit aufgerissenen Augen. Ihre Iris war fast komplett von Weiß umgeben. Ich war mir nicht ganz sicher, aber sie schien auch
nicht zu atmen.
Das machte mir etwas Sorgen, denn: Gesellschaft, ja gerne, nur bitte nicht von meiner Sorte.
Also fasste ich sie vorsichtig an den Schultern. »Klara?«
Das war bestimmt der Schock. Wie gesagt, ich hing immer noch halb in der Tür. Sanft schüttelte ich sie (soweit mir
das möglich war). »Klara? Sag doch was, bitte!«
»La-«, setzte sie an. Ihre Stimme war kaum zu verstehen.
»Ja?«
»Lass mich los!« Sie hauchte es nur, aber sie hätte es auch
schreien können, es hatte denselben Effekt.
Sofort zog ich meine Hände zurück und meinen Oberkörper aus der Tür. Von der anderen Seite konnte ich ihren
Atem hören. Sonst nichts.
C hick e n H o us e
Ich blieb ganz still.
Plötzlich Rascheln, Rütteln und Klappern. Die Tür flog
auf und Klara stürzte raus, schnurstracks an mir vorbei. Als
wäre der Teufel hinter ihr her.
Ich blieb, wo ich war.
Zu geschockt, um mich zu bewegen.
Zu geschockt, um zu denken.
Wie sie mich eben angesehen hatte …
Voller …
Angst.
Sie hatte Angst vor mir gehabt.
Eine Hei-den-angst.
Ich sank in die Hocke und umklammerte meine Knie.
Mir war gar nicht gut.
Anneka Driever
6. Stunde: polterfrei!
Umschlaggestaltung: Henry´s Lodge – Vivien Heinz
Ca. 256 Seiten
Ab 11 Jahren
14 x 19 cm, gebunden
ISBN 978-3-551-52072-2
Ca. € 12,99 (D) / € 13,40 (A) / sFr. 19,50
Erscheint im April 2015
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