Erste Begegnung - 6. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2015

Erste Begegnung
Marisa Estela Vivanco Sawall
Kurzgeschichte
Erste Begegnung
Er stand mir fast gegenüber. Aber ich war nicht da. Nicht
da für ihn. Ich sah alles wie durch ein beschlagenes Fenster. Die
befahrene Autobahn, die Menschenmassen zogen nur so an mir
vorbei. Ich interessierte mich nur für ihn. Alles andere war egal.
Meine Augen klebten an seinen Lippen. Er hatte dunkelbraune
Haare und breite Schultern. Wie harmlos er mit seinem Lächeln
aussah. Aber ich weiß, was er ist. Mir kann er nichts vormachen.
Ihm gegenüber stand ein kleines Mädchen, das ihn vergötterte.
Wie fast alle Mädchen. Ich nicht. Er war es gewesen. Er hat mir
den Boden unter den Füßen
weggezogen. Er ist schuld. Eine Straßenbahn riss mich aus
meinen Gedanken. Scheiße, ich kann ihn nicht mehr sehen. Erst
jetzt bemerkte ich, dass es regnete. Wahrscheinlich war es kalt.
Ich spürte nichts. Nichts war echt. Wann ist die Straßenbahn weg,
verdammt ich will Kontrolle! Die Straßenbahn war weg. Und er
auch. Er war weg und seine kleine Freundin auch. Wo war er?
Hab ich ihn verloren? Ich rannte über die Straße. Meine Beine
liefen. Mein restlicher Körper aber war taub. Die Autos hupten.
Die Scheinwerfer blendeten mich. Doch ich rannte weiter. Der
Gedanke, ihn verloren zu haben, machte mich wahnsinnig. Und
plötzlich riss mich ein lauter Knall aus den Gedanken. Ich war
wieder da.
Ganz plötzlich. Ich spürte mein Blut und Adrenalin durch meine
Adern fließen. Alle Sinne erwachten. Ich riss die Augen auf und
drehte mich um. Ein Autounfall. Wegen mir. An dem Auto
erkannte ich nicht mal mehr die Lackfarbe. Es waren mehrere
Autos beteiligt. Wie viele? Daran kann ich mich nicht mehr
erinnern. Und plötzlich schoss Adrenalin in alle meine Glieder
und ich sprintete in die Richtung, wo er gewesen war. Ich musste
ihn finden. Ich rannte immer weiter. Ich hörte noch einen
gedämpften Schmerzensschrei einer Frau. Ich war es gewesen.
Sie hat wegen mir geschrien. Der Gedanke gefiel mir. Die
Einkaufsstraße huschte nur so vorbei. Pst. Allein die kleinen
Regentropfen, die mir ins Gesicht tropften, bringen mich aus der
Konzentration. Ich bleibe stehen. Schaue mir seinen damaligen
Aufenthaltspunkt an. Wo kann er nur sein? Ich bin so ein
Versager, die Wut über mich selber kochte
schon wieder in mir auf. Ich kann ihn nicht einmal beobachten.
Und schon wieder versacke ich in Selbstmitleid. Entweder ist
er mit der Straßenbahn gefahren, nein unmöglich, ich habe die
Fahrzeiten auswendig gelernt, das kann nicht sein. Wenn er in ein
Auto eingestiegen ist, ist er komplett weg. Oder ist er doch nur
anderswo hingelaufen. Ich rannte wieder los. Aber in
einem gemäßigten Tempo. Ich musste mich beherrschen. Es
gibt drei Fluchtwege. Entweder in die Einkaufspassage, in
Richtung Bahnhof, oder ins Wohngebiet. Wo fang ich nur an?
Einkaufspassage, da finde ich ihn nie. Zu viele Menschen.
Unmöglich. Bahnhof. Okey, ich strich mir eine nasse Strähne
aus meinem Gesicht. Alles an mir war schwer. Ich wusste
nicht, ob es an den nassen, schweren Kleidern hing, die mir
wie ein Sack zur Last fielen. Ich war noch nicht lange in der
Stadt, aber ich kannte mehr Ecken als die meisten Einwohner.
Sobald ich etwas sehe, vergesse ich es nie wieder. Das ist
nicht immer ein Vorteil. Und schon wieder bin ich
unkonzentriert. Ich könnte mich ohrfeigen. Ich will sein
Schatten sein. Ihn unbemerkt besitzen. Seine Taten verstehen,
um endlich abschließen zu können. Ich bin ein schlechter
Mensch. Ich freue mich am Unglück anderer. Denn davon
wurde ich geprägt. Von weitem hörte ich das Quietschen eines
anhaltenden Zuges. Nein, nein, nein, er darf nicht weg sein. Im
Vorbeirennen schaute ich hoch auf die Gleise, in der Hoffnung
er wäre da. Ich rannte in die Bahnhofshalle, niemand bemerkte
mich. Wie immer. Es schien, ich wäre unsichtbar, ein Schatten
eben. Ich schaue hoch zur Anzeigetafel, der nächste Zug fährt
nach Schwabstraße in 2 Minuten. 1 Minute. Ich renne durch
den Bahnhofstunnel, der Gestank von Schmiere steigt in
meinen Kopf. Ich spüre ein Pochen in meiner Schläfe und
weiß, dass das bald in unausstehlicher Migräne enden wird.
Allein von dem Gedanken wird mir schlecht. Noch ein Geruch
steigt mir in die Nase. Jede Stadt hat einen Eigengeruch. Der
Geruch von Getreidekaffee. So riecht es hier überall in
Ludwigsburg. Ich muss nur noch ein Stück durch den immer
mehr verwesenden, verkachelten Bahnhofstunnel laufen. Und
da laufen mir schon von dem Gleis eine große
Menschenmasse entgegen. Er ist bestimmt irgendwo da
drinnen oder steigt er gerade in den Zug ein? Mein Blick
schweift über die Menschenmasse. Ich sehe viele
Geschäftsmänner mit Anzug am Telefonieren, Jugendliche auf
dem Weg nach Hause, aber nicht ihn. Ich versuche gegen den
Strom die Treppe hinauf zu rennen, aber immer muss ich
jemandem ausweichen. Es ist laut und eng. Ich hasse das. Bei
der Hälfte der Treppe höre ich das Tuten des Zuges und das
langsame Anrollen. Scheiße. Ich bin zu spät dran. Nicht schon
wieder! Oben angekommen renne ich das Gleis entlang, die
Anzeigentafel zeigt nichts mehr an. Das komplette Gleis ist
menschenleer, als wäre seit langem niemand mehr da
gewesen. Der Wind des wegfahrenden Zuges wirbelt meine
Haare in mein Gesicht. Genervt streiche ich mir meine langen,
lockigen braune Haare aus dem Gesicht. Ich habe mich seit
langer Zeit nicht mehr so leer, so allein gefühlt. Schon wieder
fühle ich mich seinetwegen schlecht. Jedes Körperteil von mir
ist schwer, als würde mein Körper den Regen wie einen
Schwamm aufsaugen. Ich kann nicht mehr, ich bin sogar zu
müde zum Denken. Erschöpft gebe ich auf. Ich nehme die
Umwelt ab jetzt immer weniger wahr. Ich warte auf die nächste
Bahn in Richtung Schwabstraße. Ich weiß, wo er wohnt, jeden
Winkel seiner spärlichen Wohnung. Das gibt mir wieder Kraft.
Wie immer strömt die ganze Menschenmasse aus der Bahn,
wenn ich auch aussteigen muss. Ich hasse Nähe, der Lärm
von Telefonaten, pubertäres Gekicher, der verbrauchte
Gestank von Zigaretten und ekligeren Substanzen. Ich warte
bis die Bahn sich ein wenig geleert hat und laufe
gedankenverloren aus dem Bahnhof. Ich kenne den Weg zu
meiner Wohnung wie im Schlaf. Der Regen kommt in Strömen
auf mich hinunter. Meine Haare umranden schwer und nass
mein Gesicht. Ich bin bis auf die Knochen durchnässt. Endlich
spüre ich wieder die Kälte in mir, die manchmal der Leere in
mir gewichen ist. Ich ziehe mir meine Herbstjacke enger um
meinen Körper. Die Straßenlichter blenden mich, ich spüre den
Boden unter mir als würde ich barfüßig über ihn laufen. Alles
wirkt gerade so echt, ich versuche den penetranten Gedanken,
wer ich bin, und was ich auf dieser Welt zu tun habe
wegzuschieben und doch versinke ich wieder in der nie
endenden Gedankenwolke. Es kommt bei mir alles immer
wieder in diesen Wetterlagen zusammen. Gedanken sind
tödlich und doch lebenswichtig. Sie benötigen so viel Kraft, die
man immer und immer wieder auftreiben muss. In zehn
Minuten bin ich zu Hause und ihm wieder nahe. Ich bog in die
unbeleuchtete Gasse ein, am Ende der Straße war meine
Wohnung. Von außen wirkt meine Wohnung klein und dunkel.
Ich blicke in die genau gegenüberliegende Wohnung. Dort
wohnt er. Der Gedanke, lässt meinen ganzen Körper erbeben.
Ich blicke hoch in sein Zimmer. Es scheint ein grelles, weißes
Licht daraus. Der Regen wird stärker und ich renne die letzten
Meter über den mit Steinen bepflasterten Weg und muss erst
mal eine halbe Ewigkeit meinen Hausschlüssel suchen, bis ich
ihn schlussendlich in den Tiefen meiner Hosentasche
gefunden hatte. Ich rannte die 2 Stockwerke zu meiner
Wohnung hinauf. Der ganze Flur bis zu meiner Wohnung war
besprüht. Irgendein Idiot hatte vor langer Zeit nicht richtig
abgeschlossen. Aber das macht nichts, ich muss nur bleiben,
solange er da ist. Ich öffne hektisch die Wohnungstür, gleich
im Flur hänge ich meinen Schlüssel, Jacke und den Rest auf.
Ich will wieder äußerlich wie innerlich auftauen und gehe ins
Bad. Meine Wohnung ist ziemlich einfach und kalt eingerichtet.
Es gibt die nötigsten Kleiderschränke und tapezieren musste
ich auch noch. Mein Schlafzimmer war zugleich mein
Wohnzimmer, ich hatte ein kleines Bad das komplett gefließt
mit altem Muster ist und eine recht spärliche Einrichtung, die
aber zum Leben reicht. Eine Toilette, eine Dusche und ein
kleines Waschbecken. Das Esszimmer war auch meine
Küche. Das Herzstück meiner Wohnung. Und schon wieder
kommt irgendwas in mir hoch. Das war das einzige Zimmer mit
einem Fenster. Von dort aus konnte ich in seine Küche
schauen. Meine Küche besteht aus einem kleinen Tisch mit
einem Stuhl und einem Herd und Kühlschrank und Möbeln. Ich
hatte die Wohnung fast so gelassen, wie sie mir übergeben
wurde. Ich hatte nichts Persönliche, mit dem ich das alles hier
füllen könnte. Die Dusche hatte nicht den gleichen Effekt wie
sonst, deshalb drehte ich die Hitze voll auf. Es prickelte auf
meiner Haut und ich meinte fast eine Art Zischen auf meiner
Haut zu hören. Ich schloss meine Augen, stehe einfach nur
unter der Dusche und denke nach. Ich bin jung, aber zu alt für
das wo ich gerade stehe. Ich habe keine Freunde, kein
Problem, ich habe ja ihn. Er weiß nicht mal, dass ich hier bin,
auch wenn ich seit gut zwei Jahren seine Nachbarin bin. Ich
werde aber die wichtigste Person in seinem Leben sein. Ich
sollte vielleicht erst einmal erwähnen, wer er ist. Früher
wohnten meine Mutter, mein Vater, meine große Schwester
und ich in einer großen Wohnung, an der Grenze zu
Frankreich. Meine Mutter arbeitete tagsüber als Beamtin und
mein Vater arbeitete nachts und manchmal tagsüber im
Gefängnis als Arzt. Eines Tages komme ich nach der Schule
nach Hause und niemand ist da. Ich war ungefähr in der 3.
Klasse und das komplette Papakind. Meine große Schwester
kommt nach dem Nachmittagsunterricht nach Hause, sagt mir
das Papa jetzt für immer weg ist und das Mama bald kommt.
Er war tot. Plötzlich. Ich war noch so jung. Mein Vater kam bei
einem Autounfall ums Leben, weil ihm jemand die Vorfahrt
genommen hatte. Meine Mutter und mein Vater liebten sich,
als wäre es der 1. Tag, auch wenn sie sich nicht sehr oft
sahen. Unser Leben war wie eine Bilderbuchgeschichte, was
sich von einem Tag zum anderen komplett veränderte. Meine
Mutter kam an diesem Tag mit so einem traurigen Gesicht
nach Hause, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie
sagte kalt und trocken zu mir, ich solle sofort ins Bett gehen,
sie würde morgen mit mir sprechen. Ich verstand nicht, was
los war, hatte Papa länger Schicht? Aber warum weinen dann
alle? Dann kommt er halt ein kleines bisschen später als
sonst, ist doch nicht so schlimm. Am nächsten Morgen kam es
aber nicht mehr dazu, weil sie überhaupt nicht mehr da war.
Ich weckte damals meine Schwester, die schon verheult mit
Kopfhörern im Bett lag und frage sie, ob sie wüsste, wo Mama
sei. Dann sprang sie auf und rannte wie eine Verrückte durch
unsere Wohnung. Damals konnte ich sie im Gegensatz zu
heute überhaupt nicht verstehen. Plötzlich lag sie einfach so
auf dem Boden, ohne irgendwas zu sagen. Ich hatte ein
bisschen Angst vor ihr und holte meine liebe Nachbarin, die
dann sofort das Jugendamt alarmierte. Ich verstand gar nicht,
wieso das alles passierte. Bis dahin kann ich mich noch ganz
genau erinnern. Ich weiß nur noch wie 2 Leute mit Krawatte
mich und meine Schwester auf den Arm nahmen, weil ich so
so müde war und meine Schwester Lili hatte so viel geweint,
dass sie nicht mehr konnte. Dann wohnten wir mit ganz vielen
Kindern in einem ganz großen Haus. Ich wusste nicht, was es
war, und meine Schwester fragte nur die ganze Zeit nach
meiner Mutter und wann wir wieder nach Hause gehen
würden. Ein oder zweimal ist sie sogar abgehauen, vorher hat
sie mir nie Bescheid gesagt und im Nachhinein sagte sie nur,
sie hätte Papa und Mama gesucht, ich dürfe niemandem
etwas sagen. Dann ging es ihr eine Zeit lang besser, sie
lächelte zwar nie, spielte aber mit mir fast genau so wie früher,
dass ich manchmal sogar fast vergaß, war passiert war. Und
dann passierte das, was mich komplett aus der Bahn warf- wie
aus dem Nichts kam die Polizei kurz nach dem Frühstück in
mein Zimmer, ich hatte schon so ein komisches Gefühl und
erzählte mir knallhart, dass sich meine Schwester vor einem
Tag umgebracht hätte. Für mich was seit diesem Zeitpunkt
alles zerstört. Wie konnte das nur passieren? Wieso hatte sie
nichts gesagt? Als Schwester hätte ich doch so etwas
bemerken müssen. Das alles ging durch den Kopf und ich fing
an, mir Vorwürfe zu machen. Ich rutsche mit 12 Jahren in ein
Loch aus Einsamkeit und Trauer, wie ich es nie wieder erleben
will. Ich brach mehrere Therapien ab. Ging nicht mehr zur
Schule, ließ mich gehen und kapselte mich völlig von der
Außenwelt ab. Ich lebte damals vor mich hin, ging nicht mehr
raus, mir war alles egal. Ich war sogar an dem Punkt, dass ich
mir Gedanken über den Sinn meines Lebens gemacht hatte.
Und ab da an wusste ich, dass ich etwas ändern musste. So
hätte es nicht weitergehen können. Und dann kam alles in mir
hoch, ich war so sauer auf den, der meinen Vater umgebracht
hatte. Im Polizeibericht stand, der Täter hätte Fahrerflucht
begangen und wird so bald wie möglich ausfindig gemacht.
Doch bis heute ist nichts passiert. Überhaupt nichts. Eine Zeit
lang konnte ich die egoistische Entscheidung meiner Mutter
nicht nachvollziehen, wie man zwei kleine verletzte Kinder
zurücklassen kann. Aber mir wurde klar, dass sie sonst nicht
leben könnte. Ich habe seit dem Tag nichts mehr von ihr
gehört. Ob sie noch lebt, wo sie sich gerade befand? Ich
wusste überhaupt nichts. Jeden Tag wurde der Wunsch von
mir immer größer, sie wieder zu sehen. Aber sie würde es
bestimmt nicht wollen. Sonst hätte sie ein Lebenszeichen von
sich gegeben, oder uns sogar besucht. Alles was passiert war,
war aus eigenem Egoismus geschehen. Erst dann wurde mir
klar, dass Menschen egoistisch sind. Sie leben wie ein Rudel
zusammen, aber sobald es eng wird, kümmert sich jeder nur
noch um sich selber. Ich trauere, seit Stunden, Monaten,
Jahren. Ich bin 17 und nun ist das alles 5 Jahre her. Dass die
Zeit Wunden heilen kann, kann ich bis jetzt nicht bestätigen.
Ich erinnere mich noch daran. Wie wir uns von Papa
verabschiedeten und uns gegenseitig in den Armen lagen, als
meine Mutter verschwand und ich da schon meine Trauer
alleine verarbeiten musste und dann war ich ganz alleine
gewesen, niemand war bei der Beerdigung gewesen außer ein
paar Leute vom Heim, die sagten, sie hätten sie gekannt. Aber
das hatte keiner. Sonst wäre es nicht so weit gekommen.
Keine Schulkameradin, nicht mal ihre beste Freundin. An dem
Tag der Beerdigung fühlte ich mich so wie ich mich jetzt fast
ausschließlich fühle. Alleine, leer, unbedeutend. Langsam
gewöhnt man sich aber an das Gefühl muss man sagen. Ich
weiß, wie ich damit abschießen kann um ein komplett neues
Leben zu beginnen. Und dafür brauche ich ihn. Das immer
heißer werdende Wasser schreckte mich aus den Gedanken.
Ich sprang schnell aus der Dusche, stellte den Hahn ab und
zog mir etwas Bequemes über. Ich machte mir eine heiße
Schokolade, setze mich auf den Tresen und beobachtete ihn.
Immer um 19.50 Uhr ging er in die Küche vor den
Tagesthemen und machte sich einen Tee. Soweit ich sehen
konnte, war es immer derselbe Tee, irgendein Kräutertee.
Morgens bevor er zur Arbeit, bevor er ging schnappte er sich
immer noch Obst und rannte dann zur Bushaltestelle, wo er
nicht selten den Bus verpasste. Später kam er immer um
13.00 Uhr nach Hause, wo er meistens irgendein Mädchen
bekochte, die dann aber nie bis zum Frühstück blieb. Sonst
sah ich ihn nicht so oft. Er hatte seid kurzem eine neue Frisur,
was gerade halt in ist und hat einen eigentlich ganz lässigen
Style. Und seit kurzem trug er diese neuen Nike Air Schuhe.
Ich setzte mich wie jeden Abend mit einem Tee auf die
Küchendiele und wartete, bis es endlich soweit war. Ich
schrieb mir immer alles auf, aber erst wenn er weg war. Nicht
dass ich es mir nicht merken konnte, nein im Gegentei,l ich
konnte mich noch genau an unsere erste Begegnung erinnern.
Aber wenn es mir nicht gut ging las ich einfach ein bisschen
darin und sofort ging es mir viel besser. Er kam und machte
sich noch ein Brötchen und ging dann gleich wieder. Ich
schrieb alles auf. Und ging zurück in mein Wohnzimmer. Ich
bin ein ganz normales Mädchen. Ich bin bis zur 10. häufig zur
Schule gegangen und habe dann eine Ausbildung gemacht.
Jetzt war ich ein winziger Teil von BOSCH und regelte dort
Ein- und Auszahlungen und noch so spannende Sachen. Ich
schrieb noch ein paar Sachen für die Arbeit fertig, sah mir in
Decken eingewickelt irgendeine niveaulose Sendung im
Fernseher an und hoffte so, endlich mal zur Ruhe zu kommen.
Klappte dann aber doch nicht so wie ich es mir erhofft hatte.
Die Nacht war wie immer mit den schlimmsten Träumen erfüllt.
Um 5 Uhr war dann endlich die Nacht wieder vorbei. Ich
hasste die Nacht und den Menschen dafür, dass er Schlaf
braucht. Aber gegen das kann man sich ja schlecht wehren.
Ich decke mich ab, weil ich die letzte Stromrechnung nicht
gezahlt hatte, war es eiskalt in der Wohnung. Ich zog mir einen
schwarzen over-size Pulli an, eine Jeans und ein paar dicke
Wollsocken. Ich betrachtete mich im Spiegelbild. Es war nicht
gerade ein schöner Anblick. Dunkle Augenringe umranden
meine immer kleiner wirkenden haselnussbraunen Augen. Und
durch meine blasse Haut konnte man schon fast die Adern
sehen, die darunter verliefen. Meine Haare standen mir kraus
vom Kopf ab. Ich hatte noch lange Zeit, mich fertig zu machen.
Ich frühstückte kurz und schminkte mich ein wenig, nahm
meine Tasche und meine Jacke und beschloss, früher los zu
gehen. Ich trampelte wie immer die Treppen runter, öffnete die
Tür wie immer und erschrak schon fast ein bisschen. Über
Nacht hatte es angefangen zu schneien und es schien, als
wäre die ganze Welt von einer Schneedecke bedeckt. Das
Schneeweiß blendete mich schon fast. Und da geschah es.
Plötzlich öffnete sich die Tür gegenüber. Ich wollte mich
umdrehen, doch ich konnte nicht. Wie versteinert stand ich da
und wartete gespannt, wer wohl aus der Tür herauskommen
würde. Die Tür öffnete sich langsam. Alle Muskeln und alles in
mir verkrampfte sich und ich konnte das Blut in meinen Ohren
rauschen hören. Er kam heraus. Mir blieb das Herz stehen,
wahrscheinlich musste ich ihn angeschaut haben wie eine
Verrückte. Er war wie ich erstaunt über den Schnee, sah zu
mir herüber und sagte: Ungewöhnlich für dieses Jahreszeit,
wie? Ich nickte nur und er ging weiter, ich schaute ihm
hinterher. Er hatte einen schwarzen langen Mantel an und eine
Mütze. Handschuhe schützen seine Finger vor der Kälte. Wie
aus dem Nichts erwachte ein Gefühl in mir, wie ich es noch nie
erlebt hatte. Ab da an steuerte mich der pure Hass. Alles
brodelte in mir wie ein schlummernder Vulkan. Nichts war ab
da an wie es einmal war. Andere Leute würden sagen, ich
wäre wie eine tickende Zeitbombe. Ich ging in die
entgegengesetzte Richtung und wartete auf den nächsten
Bus. Nach einer kurzen Fahrzeit war ich endlich angekommen.
Ich wusste, was zu tun war. Heute hatte ich nur ein einziges
Ziel. Ich ging durch die große Eingangstür von BOSCH- fuhr
mit dem Aufzug nach ganz oben. Ich hatte null Prozent
Zweifel. Platzte ohne zu klopfen in das Zimmer meines Chefs
hinein und dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen.
Selbstbewusst sagte ich: „Guten Tag, sie müssen ab jetzt
leider auf meine Unterstützung verzichten, ich kündige, auf
Nimmerwiedersehen. Und dann rannte ich aus dem Gebäude
und summte eine Melodie, nein, ich summte nicht, ich schrie
schon fast. Ich lachte über die Blicke der anderen. Und nahm
die Bahn in die Stadt. Ich war viel befreiter. Bald würde mein
neues Leben anfangen. In mir war schon etwas wie ein Funke
Fröhlichkeit. Ich ging in die Stadt und kaufte mir Klamotten,
Bücher und Schminke im Überfluss. Die letzten Jahre hatte ich
mir bis auf Lebensmittel nichts gegönnt. Ich kaufte mir ein
neues Handy mit neuer SIM- Karte. Ich hüpfte beschwingt die
Königsstraße hinauf. Das kannte ich nicht, das Gefühl. Ich
konnte es nicht einmal beschreiben. Aber es war noch nicht
komplett, eine Sache fehlte noch, aber erst gönnte ich mir
noch mehr. Ich ging in einen Laden und probierte ungefähr 20
Kleider. Jetzt verstand ich langsam, was alle Frauen so toll am
Shoppen fanden. Ich entschied mich für ein schwarzes kurzes
Spitzenkleid mit einem V-Rückenausschnitt und ein paar hohe
High heels, Ich ging zum Friseur und fühlte mich schon fast
wie ein neuer Mensch. Ich ging noch zum Italiener und aß eine
Pizza und trank ein Glas Weißwein. Ich genoss alles in großen
Zügen. Dann fuhr ich nach Hause mit unglaublich viele Tüten.
Ich war viel auffälliger als sonst und konnte ein Grinsen nicht
vermeiden, als mir einige Männer hinterher sahen. Ich lief
selbstbewusst die letzten Meter zu meiner Wohnung und
packte meine ganzen Sachen zusammen. Alles was in meiner
Wohnung war passte in 2 große Koffer. Ich machte mich
vollständig fertig. Ich hatte sowieso keine Lebensmittel hier
und Möbel und alles konnte ich da lassen. Ich ging ein letztes
Mal in dieser Wohnung duschen, brauchte die Shampoos etc.
auf und trocknete mich mit dem letzten Handtuch ab. Dann
zog ich mir mein Kleid an, benutze mein neues Parfum, zog
meine hohen Schuhe an. Ich hatte keinen Stress. Ich
schminkte mich relativ stark, mit dunkelroten Lippen und
Smokey Eyes. Meine Haare kämmte ich einmal durch und trug
sie lang und offen. Ich lackierte meine langen Nägel mit
dunkelrot. Anders hätte er mich bestimmt nicht rein gelassen.
Ich nahm die letzte Flasche Champagner. Ich wollte nur reden,
war mein Plan. Ich stellte alles bereit, sodass alles schnell
gehen konnte. Es geschah an einem unscheinbarem Sonntag
abend. Das, was ich mir schon so lange erwünscht hatte. Ich
zog mir nichts über das Kleid und hatte nichts außer der
Flasche dabei. Ich klingelte bei dem Hausmeister und gab vor,
das Fenster wäre kaputt gegangen. Der Hausmeister machte
auf. Ich verschwand hinter dem Aufzug und er machte nach
einer Zeit die Tür genervt wieder zu. Das war mein Abend. Ich
werde der glücklichste Mensch auf der Welt sein. Das ist ganz
sicher mein Schicksal. Ich huschte die 2 Stockwerke hinauf,
was mit den Schuhen ungewohnt und nicht gerade leicht war.
Da stand ich an seiner Tür, auf dem Türschild stand Maximilian
Steigwert und plötzlich wollte irgendwas in mir wieder
umkehren, aber ich ließ es nicht zu. Ich darf keinen
Rückzieher machen. Das ist meine Chance. Ich klopfte zaghaft
an der Tür. Mein Herz machte einen Sprung und ich hatte das
Bedürfnis wegzurennen. Mein Körper stellte sich schon darauf
ein und Adrenalin schoss durch meinen Körper. Ich hatte das
Gefühl, ich würde verfolgt werden, dann sah er aber durch das
kleine Guckloch und fragte wer da sei. Ich antwortete:" die
neue Nachbarin, ich wollte nur einmal kurz anstoßen." Ich
hörte, wie sich die Tür entriegelte und sich langsam öffnete.
Mein Atem ging schneller und dann stand er vor mir- ungefähr
2 Köpfe größer in einer Jogginghose und einem Sweatshirt. Er
sah mich erstaunt an und sagte: hallo und du wohnst jetzt bei
uns? Dann komm doch mal rein. In seinen Augen sah ich eine
Art Bewunderung, aber auch Misstrauen. Ich trat ein. Ich hatte
bis jetzt immer nur die Küche gesehen, aber was ich jetzt sah
überraschte mich. Es war schön eingerichtet, warm, gemütlich.
Es war kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte. Er schlug mir
vor, ins Wohnzimmer zu gehen und mich schon einmal auf die
Couch zu setzen, er würde sich nur nochmal kurz umziehen.
Ich wusste, was ich sagen wollte. Das hatte ich schon so lange
überlegt. Ich saß ein wenig verkrampf auf dem Sofa, lockerte
aber dann meine Haltung. Ich war so wütend, das ich es jetzt
nur noch genoss. Er kam mit einer schwarzen Jeans und
einem Hemd aus seinem Zimmer. Er fing an zu reden: Ich
wusste ja nicht, dass….Aber ich lenkte ab und befahl ihm
regelrecht, sich hinzusetzen. Ich sah ihm direkt in seine Augen
und sagte: erzähl mir etwas von dir. Er schaute mich verdutzt
an und fing dann langsam stockend an zu erzählen, er kam
immer mehr in Schwung und konnte gar nicht mehr aufhören
zu reden. Er war selbstverliebt, wie man es sich nicht
vorstellen kann. Nach seinem Vortrag fragte er was mit mir
wäre. Und ich fing an ich bin nicht so glücklich wie du
aufgewachsen. Ich habe sehr früh meinen Vater bei einem
Autounfall verloren und damit auch meine Mutter und Schwester.
Er verzog keine Miene und wartete gespannt auf meine
Fortsetzung. Ich machte eine kurze Pause. Du weißt nicht wer
ich bin oder? Ich bin der Mensch, dem du das Leben zerstört hat.
Der bereit wäre, dich komplett zu auszulöschen. Nicht so schnell
wie meinen Vater, sondern langsam und qualvoll. Er versuchte
aufzustehen, ich hielt ihn an seinem Handgelenk fest. Und
flüsterte ihm ins Ohr:" und hast du es bereut? Hattest du
Albträume? Wie kannst du nur mit so etwas leben? Du kannst
doch kein Mensch mehr sein. Ich konnte nicht mal mehr seinen
Gesichtsausdruck sehen. Ich hörte nur schnelle Schritte, sah
meine Mutter, erkannte sie sofort und spürte nur noch den harten
Schlag auf meinem Kopf. Dann spürte ich nichts mehr.
Ich wachte im Klinikum in Ludwigsburg wieder auf. Erst nach
einiger Zeit konnte ich mich orientieren. Ich sah in das Gesicht
eines Mannes der vorgab, Kriminalpolizist zu sein. Ich fragte ihn,
was los war, er erzählte mir sofort, dass bei einem Überfall
Maximilian Steigwert auf eine schlimme Art ermordet worden war
und dass eine Frau, ja meine Mutter, auf der Flucht wäre. Sie
wäre schon identifiziert worden. Ich spürte meinen Körper. Alles
tat mir so schrecklich weh. Ich hatte es nicht geschafft.
Ja, ich hatte versagt. Dann schlief ich wieder ein.