Die Angeklagten - 6. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2015

Viktoria Wais
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Die Angeklagten
Viktoria Wais
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Die Angeklagten
„Aber… Ich glaub, ich kann das nicht.“
„Doch, natürlich kannst du das!“
„Aber es ist doch verboten!“
„Nein. Nichts ist verboten! Hast du etwa vergessen? Wir sind das Gesetz! Und,
hast du es verboten?“
„Nein.“
„Na also. Und jetzt geh und tu es!“
Auf dem Küchentisch lag schon wieder die Zeitung. Ich füllte mir ein Schälchen
Cornflakes bevor ich mich setzte. Normalerweise mied ich Zeitungen genauso
wie Geschichtsdokumentationen und Mathehausis. Doch seit den zwei Mordfällen an unserer Schule legte meine Mutter sie mir morgens immer hin wenn etwas
Neues darüber drin stand. So wie heute. Mir wurde übel als ich die Überschrift
las: Dieses Mal männliche Leiche im Schillergymnasium gefunden – Drei Tote
inzwischen und immer noch tappt die Polizei im Dunkeln! Dazu ein Bild von unserer Mensa.
Der Name im ersten Absatz stach mir ins Auge. Ich schnappte nach Luft. Das
war unmöglich! Das konnte nicht sein, oder? Es gab nur einen Nicolas S. an unserer Schule. Nicolas Sparker. Nick. Tränen traten mir in die Augen. Ich weiß
nicht wie lange ich da saß, mir die Tränen über die Wangen liefen und meine
Hände zitterten. Wie ein Häufchen Elend saß ich da auf meinem Stuhl, die Zeitung in der Hand. Jedes Wort saugte ich in mich hinein, als könnte es mir irgendwie helfen. Jeder neue Satz trieb mir neue Tränen in die Augen, raubte mir
den Atem. Was dort stand ergab einfach keinen Sinn. Es musste ein Irrtum sein,
richtig?
Fieberhaft überlegte ich, ob es noch einen anderen Nicolas S. an unserer
Schule gab. In meiner Stufe jedenfalls nicht. In der zwölften auch nicht. Und in
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der zehnten? Wie viele Leute gingen auf unsere Schule, allein in unsere Stufe?
Unwahrscheinlich, dass ausgerechnet mein Nick gemeint war!
Andererseits… Tränen schossen mir wieder in die Augen.
Das war einfach nicht logisch. Wer sollte denn bitte Nick umbringen wollen?!
Nick war ein Engel! Gewesen, flüsterte eine bösartige Stimme in mir. Nein, das
war einfach unmöglich, er konnte nicht tot sein!
Es waren keine genauen Details angegeben. Genauso wenig wie bei den letzten zwei Opfern. So musste ich mich wenigstens nicht mit irgendwelchen
schrecklichen Vorstellungen quälen, während ich mich fertig machte und zur
Bushaltestelle lief. Ich kam natürlich viel zu spät, aber an Unterricht war sowieso
nicht zu denken!
Genau wie in den letzten paar Wochen bewachten einige Polizisten die Eingänge und den Pausenhof. Warum mussten wir überhaupt noch in die Schule?
Warum mussten wir an den Ort eines Verbrechens? Wer konnte denn schon lernen, wenn er wusste, dass hier irgendwo sein Mitschüler ermordet wurde? Nach
dem ersten Mord hatten sie die Schule noch geschlossen. Aber nur den Montag,
am Dienstag mussten wir dann wieder hin. Klar, in allen Kursen quatschten die
Lehrer uns voll mit „wie schrecklich“ blablabla. In Psychologie bauten wir sogar
eine extra Einheit ein: Wie man aus der Trauerphase herauskommt. Aber wirklich
hilfreich war das alles nicht…
Aber irgendwie war es mir auch lieber so. Ich wüsste nicht, wie ich es zu Hause aushalten würde, wenn ich nur mit mir und meinen Gedanken allein wäre.
Vor zwei Wochen hatte es angefangen. Am Montagmorgen hatten sie eine Leiche in B110, dem Klassenzimmer der 6b gefunden. Was die Zeitung nicht veröffentlicht hatte, hatte sich trotzdem bald als Gerücht unter den Schülern verbreitet.
Emilia Docker, die kleine Schwester von Finn Docker aus meinem Englischkurs,
war mit giftiger Farbe bemalt auf einem Tisch gelegen. Sie hatte die neunte
Klasse besucht. Todeszeitpunkt soll Sonntagabend gewesen sein, natürlich dann
als die Schule völlig verlassen war.
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Drei Tage später war dann die nächste ermordet aufgefunden wurde. Clara
Eberts, zehnte Klasse. Sie kam wie ich aus Pattonville und wir waren morgens
immer mit dem gleichen Bus gefahren. Sie war ebenfalls vergiftet worden.
Alle hatten gedacht, nun wäre es vorbei. Anderthalb Wochen ist der letzte
Mord nun her. Doch offensichtlich war der, wer auch immer er sein mochte, nicht
dieser Meinung. Heute war Montag, also hatte er wieder sonntags zugeschlagen,
so wie beim ersten Mal…
Der Oberstufenraum war voller Leute. Offensichtlich schien heute keinem
nach Unterricht zumute. Alle drehten die Köpfe, als ich eintrat, doch niemand
sagte etwas. Die Stimmung war erdrückend. Ich ließ mich neben Lou aufs Sofa
fallen. „Also stimmt es?“, fragte ich leise. Ich gleichen Moment wurde mir bewusst, wie unnötig diese Frage war.
Robert drehte den Kopf zu mir, nickte einfach nur. Mehr war nicht nötig. Wir
schwiegen wieder. Mir stiegen die Tränen in die Augen. Lou drückte meine Hand.
„Kommt wer mit? Eine rauchen?“, fragte Tim erlösend in die Runde.
„Siehst du sie?“
„Ja.“
„Sie ist böse, hörst du? Sie muss bestraft werden!“
„Aber sie lächelt immer so nett…“
„Nein, sie ist böse!“
„Was hat sie denn getan?“
Ich inhalierte das Nikotin als würde es mein Leben wieder normal rücken können.
Als würde Nick damit wieder lebendig werden, als würde ich damit alles vergessen können. Aber ich wusste ja selber, dass es nicht so war. Ich rauchte eigentlich nicht. Zumindest nicht regelmäßig. Nicht so wie Nick. Vielleicht fühlte ich
mich genau deshalb in diesem Moment so mit ihm verbunden.
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Auch draußen hielt das Schweigen an. Alex knurrte nur einmal, er würde den
Typ umbringen sollte er ihn erwischen. Dann war es bis auf das Brummen der
vorbeifahrenden Autos wieder ruhig.
Unsere Schule war vielleicht hundert Meter von der Polizeidirektion entfernt.
Dreimal war es dem Täter jetzt schon gelungen eine Leiche in der Schule zu deponieren, und das obwohl die Polizei hier seit dem ersten Mord regelmäßig
patrouillierte. Der Täter machte sich praktisch über sie lustig!
„Denkt ihr, er mordet bald noch mal?“, fragte ich leise. Es war an niemand bestimmten gerichtet, eigentlich erwartete ich nicht mal eine Antwort. Aber das nagte an mir. Wenn es dem Täter jetzt schon dreimal gelungen war, warum sollte er
aufhören? Was waren überhaupt seine Motive? Die Personen die er umgebracht
hatte waren doch so unterschiedlich gewesen…
„Scheiße, was wollen die denn hier?“, stöhnte Isa anstatt einer Antwort. Ich
folgte ihrem Blick. Zwei Polizisten kamen zielsicher auf uns zu. Schön – außer
Steffen war keiner von achtzehn, aber die würden doch wohl Verständnis haben,
dass wir an einem solchen Tag Unterricht schwänzten und rauchten, oder?
„Hallo“, begrüßte uns der kleinere, etwas korpulente Polizist. Ich schätzte ihn
auf Anfang fünfzig, sicher war ich mir aber nicht – ab dreißig sahen für mich eh
alle gleich alt aus. „Mein Name ist Schulz und das ist mein Kollege Demer.“ Er
wies auf seinen großen und athletisch gebauten Kollegen, (vermutlich) in den
dreißiger Jahren. Dieser lächelte verbindlich, weswegen er mir durch die miese
Stimmung hier absolut fehl am Platz vorkam. „Wir ermitteln wegen den Morden
an eurer Schule. Sie sind doch alle vom Schillergymnasium, oder?“
Als ob wir nicht sicher wären, ob wir ihm das anvertrauen könnten, tauschten
wir verhaltene Blicke aus. Schließlich brachte Tim ein Ja hervor.
„Gut. Könnten wir Ihnen dann ein paar Fragen stellen?“ Ohne eine Antwort
abzuwarten redete der jüngere Polizist weiter. „Kannte einer von Ihnen Nicolas?“
Niemand sagte etwas.
Halt, Moment, dort hinten, das Auto! Hatte sich da gerade jemand hintergeduckt? Ein blonder Kopf? Leider konnte man durch die Scheiben hindurch nichts
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sehen, vor allem weil das Auto mindestens zwanzig Meter entfernt stand... Ach
Quatsch, vermutlich wurde ich gerade paranoid! Ich sollte es einfach wieder vergessen.
„Wir kannten ihn alle“, setzte schließlich Robert an. „Er gehörte zu unserer
Clique…“ Heftig zog er an seiner Zigarette, sein Blick ging in die Ferne. Es
schien die Polizisten nicht zu kümmern, dass er rauchte.
Sie warteten noch ein bisschen, doch niemand anders machte Anstalten dem
etwas anzufügen. „Okay. Wie sieht es mit Emilia Docker aus? Und mit Clara
Eberts? Kannten Sie die auch?“
„Emilia war Finns Schwester. Und Clara kannte auch jeder. Sie hing ständig
mit uns ab. Schon seit der siebten.“ Steffen versagte die Stimme. Wir alle wussten, wie sehr ihn Claras Tod mitnahm. Er war mal einige Monate mit ihr zusammengewesen. Ich persönlich hatte Clara ja nicht gemocht. Sie war einfach dieses
typische Mädchen, das sich irgendwelche Typen in den oberen Stufen suchte um
sich dann cool zu fühlen und anzugeben! (Okay, vielleicht erinnerte sie mich
auch einfach nur zu sehr an mich selbst, aber trotzdem mochte ich sie nicht.) Sie
hatte mich im Übrigen auch nicht gemocht.
„Wie gut kannten Sie Finns Schwester Emilia?“, fragte der Ältere weiter.
Als die Befragung endlich vorbei war, beschlossen wir die Schule heute völlig
ausfallen zu lassen. Konzentrieren könnten wir uns sowieso nicht mehr, also gingen in den Blauen Engel und versuchten auf unsere eigene Art mit der Sache
klar zu kommen.
„Los, tu es!“
„Nein! Ich will das nicht!“
„Hör auf, sie ist böse und das weißt du! Du musst handeln!“
„Aber ich weiß dass sie lieb ist!“
„Wie blöd bist du eigentlich? Du musst auf mich hören, ich mache die Regeln…!“
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Am Folgemorgen blieb ich im Bett liegen und auch am Mittwoch fühlte ich
mich nicht bereit, mich den Matheaufgaben und Agnes-Interpretations-Torturen
zu stellen.
Lou hatte bei mir übernachtet. Es hatte mir eine gewisse Beruhigung gegeben,
morgens nicht allein aufwachen zu müssen.
Als wir dann mittags um halb eins endlich mal aufstanden, lag eine Zeitung auf
dem Küchentisch. Bestimmt waren es nur wieder irgendwelche „neuen Erkenntnisse“ von denen berichtet wurde, trotzdem bekam ich ein mulmiges Gefühl. Das
hatte ich am Montag ja auch gedacht und da war Nick… (Nicht daran denken!)
Mädchenleiche am Bahnhof gefunden!, lautete die Überschrift heute. Darunter: Polizei vermutet Verbindung zum Schillermörder. Aha. Jetzt hatte der Verrückte also schon einen Spitznamen. Wollten die wirklich einen der größten Dichter mit so etwas beschmutzen?
„Die vierzehnjährige Veronica N. mit geistiger Behinderung“, las Lou vor.
„Kennt man die?“
Erleichterung machte sich in mir breit. Auch wenn das jetzt ziemlich böse
klingt, aber ich war echt froh, dass es dieses Mal niemand war, den ich persönlich kannte. „Nö.“
Wir machten uns Cornflakes und lasen weiter. Hinten beim Anna Maria Altenheim hatte man sie gefunden. Von den Junkies und Dealern dort hatte natürlich
niemand etwas beobachtet. Warum der Täter dieses Mal nicht die Schule als
Schauplatz genommen hatte, wusste niemand. Ihre sechzehnjährige Schwester
war auch verschwunden. Bei deren Name – Leonie N. – klingelte es schon eher.
Sie war eins von den Mädchen gewesen, über die sich Clara immer lustig machte. Leonie hatte mir zwar schon Leid getan (vor allem jetzt, da ich wusste, dass
ihre Schwester behindert war), aber so waren wir nun mal.
Lou schien das gleiche zu denken. „Leonie kennen wir doch, oder? Die läuft
doch immer wie ihre Oma rum.“
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„Keine Ahnung. Mir auch egal eigentlich. So lange es nicht wieder jemand von
uns ist…“
Samstag um vierzehn Uhr war die Beerdigung von Nick angesetzt. Lou und ich
hatten beschlossen, zu dem Anlass noch ein neues Kleid kaufen zu gehen. Um
dem Ganzen wenigstens einen minimal schöneren Touch zu geben.
Es wurde schon fast wieder dunkel, als wir endlich Richtung Innenstadt aufbrachen. Blöder Herbst! Von mir aus hätte der Sommer für immer dauern können! Ich hatte zweihundertfünfzig Euro dabei; das perfekte Kleid um Nick die
letzte Ehre zu erweisen sollte an nichts scheitern.
Nach zwei Stunden intensiven Geschäftedurchwühlens resignierte ich dann.
Ich hatte zwar alles Mögliche gesehen, aber ein passendes schwarzes Kleid war
nicht dabei gewesen. Ich konnte ja wohl kaum irgendein Billigteil nehmen, das
womöglich noch während der Zeremonie auseinanderplatzte!
Lous Handy klingelte. Viel zu laut, alle Leute im Umkreis drehten sich zu uns
um. Lou seufzte, nahm an und ließ sich auf eine Bank fallen. Wir befanden uns
gerade vorm Müller in der Wilhelmsgalerie. Das war ein Zeichen, oder? Ich sollte
mir neuen Lipgloss besorgen!
Lou verabschiedete sich gerade und steckte ihr Handy wieder in die Tasche.
„Süße? Das war meine Mum. Ich soll sofort nach Hause kommen.“
„Oh nein! Aber ich hab doch noch gar kein Kleid…“
„Das passt schon. Such du ruhig noch ein bisschen. Als ob dir hier mitten in
Ludwigsburg unter lauter Menschen was passiert!“
Wie konnte sie sich da sicher sein? Nick und die anderen zwei waren bestimmt auch nicht allein durch irgendwelche dunklen Gassen geirrt! Aber ich
würde einfach meine Mutter anrufen. „Okay, Schatz, da hast du Recht. Wir sehen uns morgen in der Schule?“
Lou nickte. Wir küssten uns zum Abschied auf die Wange. Während ich im
Müller die Drogerieregale nach etwas das ich kaufen könnte durchsuchte, machte sich in mir ein unangenehmes Gefühl breit. Vielleicht war ich paranoid, aber
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irgendwie spürte ich ständig Blicke im Nacken. Doch da war niemand! Oder Moment, war dahinten nicht schon wieder ein blonder Kopf verschwunden?
Ich schüttelte mich energisch. So ein Blödsinn! Meine Handyuhr sagte mir,
dass meine Mutter in zwanzig Minuten bei der Einfahrt zum Rathhausparkhaus
auf mich warten würde. Ich sollte mich wohl mal auf den Weg machen…
Als ich (zehn Minuten zu früh) dort allein in der Dunkelheit stand, verstärkte
sich das Unwohlsein. Wie blöd musste man eigentlich sein, um sich mutterseelenallein bei Dunkelheit an eine Straße zu stellen? Hier war nichts los!
Und wie sollte es anders ein? Natürlich musste jetzt etwas passieren! Plötzlich
rannte ein Mädchen um die Ecke. Blond, schlaksig, hässliche Jacke…
Leonie! Sie rannte… Und als sie mich entdeckte, konnte ich die Angst in ihren
Augen sehen. Sie wechselte den Kurs und rannte zu mir. „Schnell, du musst hier
verschwinden, er ist hier!“, schrie sie.
„Wer er?“, antwortete ich, da packte sie auch schon meine Hand und zog mich
mit. Ich drehte mich um. „Wer er?“, wiederholte ich während ich versuchte mit ihr
mitzuhalten. Fuhr da nicht das Auto meiner Mutter?
„Na er! Er hat meine Schwester umgebracht“, rief sie ängstlich. Da kapierte ich
– und rannte. Hoffentlich hielt meine Mutter nicht an und lief ihm praktisch in die
Arme…
„Warte, ich ruf die Polizei…“
„Oh mein Gott“, kreischte Leonie, während sie sich umdrehte. Ich sah nach
hinten, und da entdeckte ich ihn. Keine Ahnung wo wir grad waren, doch die breite Silhouette dahinten rannte uns glaube ich tatsächlich hinterher. Leonie zog
mich um eine Ecke. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich so eine Ausdauer besaß. Offensichtlich hatte mich meine Sportlehrerin unterschätzt.
Plötzlich fanden wir uns in einer Sackgasse wieder. „Scheiße, was machen wir
jetzt?“, flüsterte ich panisch.
Leonie ließ ihren Blick schweifen. „Da!“, sagte sie und deutete auf Müllcontainer. Es war wie in einem schlechten Horrorfilm! Nur dass es im Film nie so nach
Klo stank! Und außerdem war das hier ja bittere Realität…
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Wir stürzten hinter die Container. Leonie lugte hervor, um zu beobachten ob
er kam. Ich holte gerade mein Handy aus meiner Hosentasche, als sie es mir
plötzlich wegschlug. „Was zum Teufel…“, setzte ich an, da bemerkte ich die Pistole.
„Endstation, du Schlampe!“
Mit einem Mal verstand ich. „Da ist kein Mann der uns verfolgt, oder?“
Leonies Gesicht verwandelte sich in eine mörderische Fratze. „Nein.“
„Und was willst du von mir?“ Meine Stimme klang unerwartet fest.
Leonie lachte. „Rache. Als ob dir das nicht klar wäre!“
„Was?“ Ich hatte echt keine Ahnung! „Wofür?“, fragte ich. Vielleicht eine Spur
zu ängstlich, denn in Leonies Augen blitzte derSpott auf.
Sie war wahnsinnig, ich sah es. Total wahnsinnig! „Für all die Male, die ich
wegen dir geheult habe. Für jedes Lachen, jedes gemeine Wort, von dem du genau wusstest, dass ich es höre!“ Ich schaute verständnislos, während ich nach
einer Möglichkeit suchte, irgendwie zwischen den Containern zu verschwinden
und ihr zu entkommen. Sie beobachtete mich ganz genau. „Vergiss es, Schlampe. Die Anderen haben es auch nicht geschafft. Und ich hab für den Notfall immer noch die Waffe, richtig?“
„Die… Anderen?“, fragte ich mit zitternder Stimme, während sich in meinem
Kopf endlich alle Synopsen fanden. „Oh mein Gott. Du bist der Schillermörder!
Du hast sie alle umgebracht!“
Sie lachte wütend. „Nicht ganz. Für die schmutzige Arbeit war meine dämliche
Schwester zuständig! Aber jetzt hat sie plötzlich beschlossen, dass du zu nett
lächelst um zu sterben! Lächerlich!“ Sie spuckte mir die Worte praktisch vor die
Füße. Dann holte sie eine Spritze aus ihrer Jackentasche. „Hier, nimm das!“
Reflexartig streckte ich die Hand aus. „Sind das… Drogen?“
Schon wieder lachte sie. Wie man nur lachen kann, wenn man eine Waffe in
der Hand hielt! Sie musste wirklich krank sein. „Nicht ganz. Aber jetzt stich dir
endlich in den Arm, oder ich knall dich ab!“ Weit entfernt hörte man plötzlich Sirenen. Fast schon siegessicher beobachtete ich ihre Reaktion. Sie schien kurz
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verunsichert, doch dann zuckte sie nur mit ihrer Pistole und richtete sie wieder
auf mich. „Jetzt, hab ich gesagt!“
„Warum erschießt du mich nicht einfach?“, fragte ich. Vor allem um Zeit rauszuzögern, aber auch, weil das vermutlich die schönere Art wäre, als sich irgendein Zeug zu spritzen. Angstschweiß lief mir über die Stirn.
Ihre Antwort war ein Warnschuss. Ich zuckte zusammen. Irgendwo hinter mir
musste die Kugel gelandet sein, der Knall war jedenfalls laut gewesen… Das
musste doch jemand gehört haben, oder? „Leonie, bitte… Ich weiß, ich bin vielleicht manchmal echt mies zu dir gewesen, aber das ist doch…“
„Manchmal?“, kreischte sie. „Ich hatte Angst aus dem Haus zu gehen wegen
Leuten wie dir und Emilia! Und Nick, dieser Scheißkerl, der wollte mich auch
nicht… Nur wegen euch! Ihr habt mein Leben zerstört, okay?“
Langsam ergab das Sinn. Also auf eine perfide, abwegige Weise. Sie fühlte
sich zurückgedrängt und benachteiligt. Und jetzt wollte sie die töten, die sie dafür
verantwortlich machte. Die (in ihren Augen) Bösen.
„Jetzt nimm es endlich“, fauchte sie unvermittelt. Wieder schoss sie. Gerade in
einem Moment, in dem sie ihre Hand herumriss. Ich hatte es genau gesehen.
Der Schuss hätte mich treffen müssen. Ich sah an mir herunter. Da war nichts.
Aber der Schuss… Ich schaute auf den Container. Auch dort war nichts. Leonies
geschockter Blick gab mir die nötige Bestätigung. Die Pistole war eine Attrappe.
Ich stürzte auf sie zu, warf sie um und fing an zu rennen. Raus aus dem Hof,
rauf auf die Straße, hinein in die Arme eines uniformierten Polizeibeamten. Die
Spritze musste ich wohl im Gerangel verloren haben.
Ich atmete durch. Die Sache war vorbei, richtig?
Am nächsten Morgen saß meine Mutter in der Küche und gab mir die Zeitung.
Psychisch gestörte Schülerin für Morde verantwortlich – nachdem ihr letztes
Opfer entkam, beging sie Selbstmord durch eine Überdosis.
Es ist vorbei.
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