5. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2013 Aber die Liebe Emilia Rothacker 5. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2013 Grübelnd saß ich in der Vorlesung. Mein Körper war zwar anwesend, doch mein Geist war weit weg von hier. Ich dachte an Pino, was er wohl gerade machte. Wahrscheinlich war er im Restaurant seiner Eltern und arbeitete oder er spielte mit seiner kleinen Nichte Antonia. Es war so süß wie er mit ihr umging, so liebevoll. Als es lauter um mich wurde, bemerkte ich, dass alle den Hörsaal verließen. Ich hing mir meine alte Ledertasche um und ging auf den Ausgang zu. Wieder in Gedanken versunken stieß ich plötzlich mit jemandem zusammen. Erschrocken hob ich den Kopf und sah in zwei rehbraune Augen. Na toll, es war Raphael. Warum ausgerechnet er? Er, dem ich letzte Woche einen jämmerlichen Korb gegeben hatte. Er wendete seinen Blick ab und ging ohne ein Wort gesagt zu haben weiter. Etwas anderes hätte ich allerdings auch nicht erwarten können. Als er vergangenen Sonntag im Wald zum zweiten Mal versucht hatte, mich zu küssen, war mir klar geworden, dass es sich um kein Versehen mehr handeln konnte und dass ich dringend mit ihm reden musste. Das konnte so nicht weitergehen. Ich liebte doch Pino. Anfangs war ich nicht in der Lage gewesen, auch nur ein Wort herauszubringen, ich hatte nur wirr vor mich hin gestottert. Doch dann hatte ich an Pino gedacht, an seine schönen blauen Augen, ich konnte mich stundenlang in ihnen verlieren. Schon war ich ruhiger geworden. In strukturierten, kurzen Sätzen hatte ich Raphael gesagt, dass er damit aufhören musste. Damit aufhören, mich so anzusehen, damit aufhören in meinen Locken herumzuspielen und damit aufhören, zu versuchen, mich zu küssen. Und zwar ohne, dass ich mich wegdrehen oder ihn ständig zurückweisen musste. "Pronto!", hörte ich Pinos Stimme, als er an sein Telefon ging. "Hey, Schatz! Wo bist du?", fragte ich nach. Mein Plan, durch Pino Ablenkung zu finden, ging auf. Er meinte, er habe in ein paar Minuten Mittagspause und lud mich ins Restaurant ein, um mit seiner Familie und ihm zu essen. Ich stieg in die Bahn und eine viertel Stunde später war ich da. Als ich um die Ecke bog und so in den Innenhof gelangte, kam mir schon die Person entgegen, nach der ich mich die ganze Zeit über gesehnt hatte, mein Pino. Heute sah er besonders gut aus. Er trug das dunkelblaue Shirt, das ich an ihm so liebte. Ich konnte nicht anders als ihm augenblicklich um den Hals zu fallen und ihm einen leidenschaftlichen Kuss zu geben. Wir hätten noch stundenlang dort stehen können, im Nieselregen, eng umschlungen, doch leider rief uns Maria viel zu schnell zum Essen. Meine Pasta war perfekt gewesen, wie immer. Ich verstand mich gut mit der Familie meines Freundes. Doch wenn ich mit ihnen zusammensaß, hörte ich lieber zu als von mir zu erzählen. Auch bei unserem späteren Spaziergang im Park, bei dem wir endlich wieder allein waren, erzählte ich Pino nichts von meiner heutigen Begegnung mit Raphael. Es belastete mich zwar, ihn ständig zu sehen, doch Pino würde sich nur wieder aufregen und das wollte ich jetzt nicht. Alles was ich wollte, war mit dem Mann meiner Träume wenigstens die Zeit zu verbringen, die uns zwischen der Uni und unseren Jobs gemeinsam blieb. Am Montag aß ich in der Kantine als sich, wie hätte es auch anders sein können, Raphael zu mir setzte. Ich war so froh gewesen, ihm die letzten Tage aus dem Weg gegangen zu sein. Ich bereitete mich schon darauf vor, dass er wieder mit mir über Pino diskutieren wollte und mir dann unauffällig immer näher gekommen wäre, doch all das passierte zum Glück nicht. 5. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2013 Er sagte mir in ernstem Ton, dass er nachgedacht habe und meine Entscheidung nun akzeptieren und sogar verstehen würde. Ich war ein wenig perplex, damit hatte ich wirklich überhaupt nicht gerechnet. Zum ersten Mal seit langem unterhielten wir uns wieder über etwas anderes als diesen ganzen Beziehungskram und seine Gefühle für mich. Es war tatsächlich sehr erleichternd. Ich hatte diese lockeren Gespräche mit ihm sehr vermisst. Wer hätte es gedacht, jetzt waren wir wieder Freunde, ganz normale Freunde. Es herrschte eine gelassene Stimmung und wir konnten sogar gemeinsam lachen. "Ja, warum denn eigentlich nicht. Schließlich muss ich auch einfach 'mal spontan sein, oder?", sagte ich voller Freude. Wir waren zwar erst dreieinhalb Monate zusammen, aber es hatte sich gerade so ergeben und Pino hatte mich gefragt, ob wir nicht zusammenziehen wollten. Zufällig war bei einem Bekannten seinerseits gerade eine 70m²-Wohnung zu einem guten Preis frei geworden. Ich wollte früher oder später sowieso aus meiner WG heraus und Pinos Appartement war sehr klein. Eine Träne lief mir die Wange herunter als wir gemeinsam durch die Eingangstür traten. Ich wusste es sofort, das war sie, unsere Wohnung. Auch Pino war begeistert und so unterschrieben wir schnellstmöglich den Mietvertrag. Schon knappe zwei Wochen später zogen wir ein. Pinos Familie, meine Schwester und sogar Raphael waren gekommen, um uns beim Streichen, sowie beim Schleppen der Möbel tatkräftig zur Seite zu stehen. Nach vier ansträngenden Tagen und ebenso vielen kurzen Nächten saßen wir bei Kaffee und Kuchen mit unseren Helfern zwar etwas gequetscht, aber dennoch überglücklich in unserem Wohnzimmer. Am Abend kuschelte ich mich erschöpft an Pinos Brust und schlief schnell zufrieden ein. Die Tage vergingen wie im Flug und nun konnte ich den Menschen, den ich liebte, jeden Tag sehen und neben ihm aufwachen. Ich hatte alles, was ich mir je hätte erträumen können. Eine eigene Wohnung, nette Nachbarn, einen tollen besten Freund und natürlich Pino. Es war Samstagnacht und ich saß schon zweieinhalb Stunden in meinem Bett und wartete auf Pino. So langsam wurde ich ungeduldig und machte mir große Sorgen. Wo war er nur? Er hatte gesagt, er würde kurz auf einen Drink mit seinen Kumpels in eine Bar gehen, aber hatte versprochen vor zwölf Uhr zurück zu sein. Nun war es schon fast drei. Gerade als ich beschlossen hatte, ihn noch einmal anzurufen, hörte ich, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. "Na, endlich!", rief ich und stürmte zur Tür. "Wo warst du denn so lange? Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe?" Ich erschrak. Seine Augen waren rot und glasig, sein Atem roch fürchterlich nach Alkohol und seine Unterlippe blutete. "Du has mia gaanichs su sagn! Unjes gehindein Bett unhalt dich jefälligs aus mein Angelegnheitnraus, hassu verstan, Weib?" Unsanft stieß er mich zur Seite und taumelte auf die Couch zu. "Aber Schatz, deine Lippe. Lass mich doch wenigstens die Blutung stillen", sagte ich und versuchte stark und bestimmt zu klingen. In Wirklichkeit war ich jedoch mehr als verunsichert. Bis jetzt war alles glatt gelaufen. Natürlich hatte es den ein oder anderen kleinen Streit gegeben, aber wir hatten uns die paar Male immer schnell wieder versöhnt und jetzt kam mein Freund sturzbetrunken und verletzt nach Hause. Mir hatte er nicht gesagt, dass es ihm nicht gut ginge oder dergleichen. 5. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2013 "Ach, labadochkein Scheiß.", gab er zurück. Als ich dennoch vorsichtig versuchte mit einem Stück Mullbinde seine Wunde zu versorgen, sprang er auf, wippte kurz und kam dann in großen Schritten auf mich zu. Ich hatte vor Schreck einen Satz nach hinten gemacht. Tränen schossen mir in die Augen. Was war nur mit ihm los? Er packte mich an meinem T-shirt und drückte mich gegen die Wand. "Hals Maul!", sagte er und schon traf seine Faust meine Wange. "Pino!", schrie ich verzweifelt auf und schaffte es gerade noch rechtzeitig einem weiteren Schlag zu entkommen. Ich rannte ins Badezimmer und schloss die Tür blitzschnell hinter mir ab. Immer noch unter Schock stehend, lehnte ich mich gegen die kühlen Fliesen an der Wand und ließ mich langsam zu Boden sinken. Ich wusste nicht, was mehr schmerzte, mein Wangenknochen oder die Tatsache, dass ich gerade Opfer häuslicher Gewalt geworden war. Mein Pino, mein liebevoller Pino, was war mit ihm passiert? Nein, das konnte nicht er gewesen sein. Das war nicht er. Was hatte man ihm angetan? War es allein der Alkohol? War er vielleicht selbst verprügelt worden, gedemütigt? Ich fühlte mich hilflos und verlassen, zerbrechlich aber ebenso ratlos. Als ich am nächsten Morgen auf dem Badezimmerboden aufwachte, bekam ich schnell die Folgen der Nacht zu spüren. Mein Rücken schmerzte, mein Kopf dröhnte und mir war schrecklich kalt. Vorsichtig öffnete ich die Tür und sah mich um. Keine Spur von Pino. Ein Blick auf mein Handy verriet mir, dass es gerade erst sechs Uhr war. Ich betrachtete mich im Spiegel, der im schmalen Gang zwischen Bad, Wohnzimmer und Schlafzimmer hing. Mein Gesicht war blass bis auf eine Stelle. Dort hatte sich die Haut bläulich verfärbt. Ich wollte mich jetzt ablenken, bis ich Pino wieder gegenüberstehen würde und so beschloss ich, zur Uni zu gehen. Ich stellte mich unter die kalte Dusche, später kramte ich in einem übriggebliebenen Umzugskarton und zog nach kurzer Suche ein kleines Fläschchen heraus. Ich gab etwas von der hautfarbenden Flüssigkeit auf meinen Handrücken und tupfte es dann vorsichtig auf meine Wange. Dann machte ich mir noch einen seitlichen Zopf und kämmte meinen Pony so zur Seite, dass meine rechte Gesichtshälfte großteilig bedeckt war. "Magst du auch etwas von meinem Salat haben?", fragte Raphael, als ich in der Mittagspause wohl ein wenig lange in die Leere gestarrt haben musste. "Nee, danke", lehnte ich ab und schüttelte meinen Kopf. "Sag 'mal, was ist denn heute los mit dir? Du lachst gar nicht, und was ist das da an deiner Wange?" "Nichts, Raph, ich bin nur müde", versuchte ich ihn zu beruhigen. "Was soll denn da sein? Vielleicht hab' ich mich mit dem neuen Make-up ein bisschen im Farbton vergriffen", log ich weiter. "Du schminkst dich doch sonst nicht." Er blieb hartnäckig. Ich hatte beschlossen niemandem etwas von dem Vorfall zu erzählen, bevor ich nicht mit Pino darüber gesprochen hatte. Also sagte ich keinem etwas, auch nicht Raphael. Um kurz vor fünf Uhr stellte ich mein Fahrrad auf dem Hof ab und betrat die Wohnung. Entgegen meiner Erwartung sah ich Pino auf dem Sofa sitzen. Neben ihm lag ein großer Strauß Rosen. Als er mich bemerkte, schaltete er den Fernseher aus, griff nach den duftenden Blumen und kam vorsichtig auf mich zu. "Amore mio", begann er, "Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es tut mir so leid, was passiert ist. Ich weiß einfach nicht, was in mich gefahren ist. Man schlägt niemanden aus Verzweiflung und schon gar nicht die Frau, die man liebt. Du musst wissen, es ging mir wirklich nicht gut gestern und dann..." Ich unterbrach ihn: "Ist schon gut. Ich weiß, dass du, wärst du bei dir gewesen, niemals zu so etwas in der Lage gewesen wärst. Aber was war denn los?" "Ach, weißt du, das Restaurant. Es läuft nicht mehr gut und 5. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2013 mein Vater hat mir gestern Abend gesagt, dass er nicht mehr so viele Kellner braucht. Er hatte keine andere Wahl, als mir zu kündigen. Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, muss er den Laden ganz zu machen, für immer. Das ist sein Lebenswerk, verstehst du. Wenn er das Restaurant schließen muss, schließt er auch mit seinem Leben ab." "Oh, Gott. So schlimm? Das tut mir wahnsinnig leid für euch." Ich nahm ihn fest in meine Arme. "Aber was machen wir jetzt mit der Wohnung? Mit meinem kleinen Nebenjob kann ich das hier auf keinen Fall finanzieren." "Das ist nicht das Problem, das bekomme ich schon hin. Mein Vater, der hat momentan die größten Sorgen. Ich muss ihm beistehen. Sei mir nicht böse, ich wollte das mit dir klären, aber jetzt muss ich wieder zu ihm." Mit einem Wink verabschiedete er sich und einige Sekunden später hörte ich nur noch die Tür ins Schloss fallen. Etwas überrumpelt stand ich nun da, mit einem Blumenstrauß in der Hand. Natürlich tat es noch weh, wenn ich daran dachte, was gestern Nacht passiert war, doch ich wusste, dass Pino mich liebte und dass es ihm sehr schlecht gegangen war. Ich konnte auch zurückstecken und vor allem unter diesen Umständen verstand ich, dass die italienische "Famiglia" zusammenhalten wollte. Doch schon wenig später war es erneut passiert. Pino war zwar diesmal nur leicht angetrunken heimgekommen, doch er hatte sich wieder stark gemacht, indem er mich klein gemacht hatte. Leider hatte ich ihm nicht so schnell entkommen können wie beim letzten Mal, also wachte ich am Morgen mit einem geprellten Oberschenkel, einem unübersehbaren Bluterguss an der Lippe und höllischen Kopfschmerzen auf. Er war sofort verschwunden, ich hatte mich in den Schlaf geweint. Es lief immer noch nicht besser im Restaurant und ich sah in Pino nach wie vor einen liebenswerten, gefühlvollen Menschen, den ich jetzt, in dieser Situation einfach nicht allein lassen konnte. Er brauchte mich, und ich ihn. Auch, wenn jeder Schlag mich innerlich mehr und mehr zerriss, liebte ich ihn noch immer wie niemanden sonst. Das Läuten der Klingel holte mich aus meiner Gedankenwelt zurück. Mich fragend, wer das wohl sein könnte, ging ich zur Sprechanlage. "Ja?", sagte ich und drückte aus Gewohnheit auf den Knopf, der die Haustür öffnete. "Hey Ina! Ich bin´s", hörte ich jemanden die Treppen heraufsteigen. "Raphael?", fragte ich eher rhetorisch. So ein Mist. Schnell wollte ich die Wohnungstür hinter mir schließen, doch er stand schon mit einem Fuß im Raum. "Ähhh, sei mir nicht böse, aber das geht grade nicht.", rief ich hastig als ich ins Badezimmer rannte, wo ich mich dann verbarrikadierte. "Sorry, ich bin sehr beschäftigt. Uni und so.", rief ich ihm zu. "Uni im Bad, schon klar. Irgendetwas ist mit dir, das merk' ich doch." Ja natürlich, lernen für die Uni auf dem Klo, oder was? Meine Ausreden waren auch schon einmal besser gewesen. "Nee, ist wirklich alles okay bei mir, Raph", versuchte ich ihn weiter abzuwimmeln, "...und nimm's mir nicht übel, aber ich wäre dir jetzt echt sehr dankbar, wenn du wieder gehen könntest." Leider erwies sich mein bester Freund als hartnäckiger als ich es war, also rückte ich irgendwann mir einer verschönten Version des Ganzen heraus. Doch dass ich nicht alles genauso erzählt hatte, wie es passiert war, machte seine Reaktion nicht besser. "Er hat was? Ina, du musst den anzeigen. Das kannst du dir doch nicht gefallen lassen. "Ach Raphael, was weißt du denn schon von Liebe", rutschte es mir heraus und ich hasste mich augenblicklich dafür, dass mein Mund manchmal schneller war, als mein Kopf. "Also, von unserer Liebe, meine ich. Pino geht's nicht so gut im Moment. Der weiß gerade auch nicht, was er tut. Vertrau' mir, das wird aufhören, wenn es dem Restaurant wieder besser geht", ich zwang mich nicht sofort 5. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2013 loszuheulen. "Das glaub' ich jetzt nicht. Wenn du ihn nicht anzeigt, tu' ich es!", sagte er energisch. Ich riss die Tür auf und schrie ihn an: "Nein, das darfst du nicht. Es wird doch alles wieder gut!" Dieses Mal konnte ich meine Tränen nicht mehr unterdrücken. Raphael beruhigte mich und versicherte mir, meine Entscheidung zu akzeptieren. Aber er sagte mir auch, dass ich ihn sofort anrufen sollte, wenn etwas passierte. "Geht doch 'mal schön essen oder Handball spielen, das tut euch sicherlich gut.", meinte er noch, als er schon im Treppenhaus stand. "Das ist eine gute Idee, ich glaube ich frag' ihn, ob wir morgen ins Blühende Barock gehen", rief ich ihm hinterher. "Ach und Raphael", fügte ich noch hinzu. Er blieb stehen. "Danke!", sagte ich ernst, er grinste nur und verschwand. Am Sonntag hatte ich Pino überredet, mit mir in den Schlossgarten zu gehen. Das Wetter war so schön wie lange nicht mehr und außerdem wollte ich die Gelegenheit nutzen, um ihm noch einmal zu sagen, dass er mir wehtat, mit dem was er tat. Dabei waren die körperlichen Schmerzen eher nebensächlich. Also fuhren wir gegen vier Uhr zum Blühenden Barock, einem beliebten Schlossgarten im Herzen unserer Stadt. Wir schlenderten gerade durch einen Teil des Märchengartens, da blieb Pino stehen. "Ich dreh' mir nur schnell 'ne Zigarette. Geh' ruhig weiter, ich hol' dich doch sowieso ein, du lahme Ente!", meinte er grinsend. Ich lachte, doch mir war klar, dass ich ihm nicht mehr lange die glückliche Freundin vorspielen konnte. Ich konnte nicht so einfach vergessen, was passiert war. Auch wenn ich es mir noch so sehr wünschte. Wir mussten jetzt endlich einmal darüber sprechen. Es wurde langsam dunkel. Schließlich war es bereits Ende Oktober. Ich fragte mich gerade, ob es hier bestimmte Schließzeiten gab, denn ich sah keine Menschenseele mehr außer uns, da hörte ich einen Schuss. Erschrocken zuckte ich zusammen und drehte mich zu Pino um. Meine Knie wurden weich und ich hätte mich jeden Moment übergeben können. Völlig unter Schock stehend rannte ich zu ihm. Er lag regungslos auf dem Kiesboden. "Pino, Pinoo! Hörst du mich?" schrie ich verzweifelt. Tränen liefen mir das Gesicht hinunter. Leise stöhnte er auf. Erst jetzt fiel mir das viele Blut auf, dass aus seiner Brust trat. Panisch sah ich mich um. "Hilfe!", schrie ich immer wieder. "Hilfeeee!" Ich erstarrte als Raphael plötzlich vor mit stand . Sein Blick sah verstört aus, in seiner rechten Hand hielt er eine Pistole. Ich ließ vor Schreck mein Handy fallen, dass ich zuvor hastig aus meiner Jackentasche gezogen hatte. "Wag es nicht!", sagte er mit ungewöhnlich hoher Stimme. Dann trat er auf mein Telefon, sodass der Bildschirm zersprang. "Wieso, Raphaeal, wieso?",schrie ich auf, als ich begriff, was gerade passiert war. Er sagte nichts, kam weitere Schritte auf mich zu, ich wich zurück. Als er seine Tempo beschleunigte, konnte ich nicht mehr ausweichen und fiel auf den Boden. Nun beugte er sich leicht über mich. Hinter ihm ging gerade die Sonne unter. Er durchbohrte mich langsam mit seinem Blick. "Warum?", schrie ich hysterisch. "Warum machst du mein Leben kaputt?" "Ich mach dein Leben nicht kaputt, du hast meines zerstört. Weißt du, wie es ist, dich tagtäglich mit diesem Mann zu sehen und weißt du, wie es ist, dir mit jedem Wort, mit dem ich dir sage, dass wir nur Freunde sind, ins Gesicht lügen zu müssen? Ich, ich habe dich immer geliebt. Ich war für dich da, mein halbes Leben lang und dann kommt dieser Spinner, schlägt dich, betrügt dich. Und ich muss zusehen, wie du langsam an ihm kaputt gehst. Ich kann das nicht mehr, aber jetzt ist es vorbei Ina, verstehst du, es hat ein Ende! Ein Ende!" "Er hat mich nicht betrogen, das hätte er nie getan", schrie ich mit erschöpfter Stimme. "Oh doch, das hat er. Tag aus, Tag ein geht er ins Bordell und du, du merkst es nicht." 5. Ludwigsburger Kurzkrimipreis 2013 "Warum hast du mir das nie gesagt?", fragte ich mit zittriger Stimme. "Du hättest mir ja doch nicht geglaubt, hätte ich dir davon erzählt. 'Ach Raphael', hätte es wieder geheißen, 'Raphael, ich weiß, es ist schwer, aber du musst akzeptieren, dass ich Pino liebe. Das würde er niemals machen.' Aber jetzt, jetzt kann er dir nichts mehr antun, dieses Schwein, nie wieder! Und du, du kannst mich jetzt auch nicht mehr verletzen. Mein Herz ist längst erfroren, aber deins, deins schlägt noch immer. Das hast du nicht verdient, nach all dem, was du mir angetan hast! Wenn ich dich nicht kriege, soll dich keiner mehr haben!", schrie Raphael unter Tränen. Langsam robbte ich nach hinten. Raphael hielt mich fest und setzte die Pistole auf meine Brust. Ich rief nach Hilfe, schlug um mich, ich kreischte verzweifelt auf, immer wieder. Und dann wurde alles dunkel.
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