Schattenklaue - Tatort Fulda 2015 Johannes Müller

Schattenklaue
Schattenklaue
Sir Albert MacMounter lauschte in die Dunkelheit. Er war am Ende seiner
Nerven. Sein Chauffeur war krank, sodass er seinen alten langsamen Käfer
mit nun wahrscheinlich nur noch 40 Pferdestärken selbst durch die schottischen Highlands kutschieren musste, es war stockdunkle, bewölkte Nacht
und außerdem befand er sich in der völlig unbewohnten Pampa inmitten
zweier abgelegener Bergketten. Es war nicht zu leugnen, dass er sich hoffnungslos verfahren hatte. Von neumodischen Navigationssystemen hielt er
eigentlich nichts, aber nun hätte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als ein
verlässliches Navi zu haben, möglichst noch mit einer netten FrauenComputer-Stimme und leiser, beruhigender Musik im Hintergrund. Doch so
luxuriös hatte er es nicht. Sein steinzeitliches Mobiltelefon hatte keinerlei
Empfang, und zu allem Überfluss war das eine Scheinwerferlicht ausgefallen. Schlimmer hätte es mit Sicherheit nicht kommen können. Doch als
MacMounter auf die verblichene Anzeige sah, die die verbliebene Menge an
Treibstoff vor Augen führte, überkam ihn die Angst: Es war kein Tropfen
Benzin mehr im Tank. Der Wagen stoppte. Aber das konnte doch gar nicht
sein! War er vorhin denn nicht tanken gegangen? Höchst seltsam... Auf
einmal erinnerte sich MacMounter an ein Bild aus seiner Kindheit: Er, rennend, aus einem dichten, dunklen Wald kommend, die Angst ins Gesicht
geschrieben. Damals war er ungefähr sieben Jahre alt gewesen. Er hatte damals noch an Geister und Drachen geglaubt, sodass er nicht ohne die Zusage
seiner Mutter, Maureen MacMounter, alle Unholde zu vertreiben, einschlafen konnte. Ach, Quatsch, dachte er plötzlich. Er durfte sich nicht beeindrucken lassen durch diese Finsternis! Das hatte er schon in seiner Zeit bei der
Kavallerie gelernt. Stark sein! Er würde hier in seinem Auto übernachten,
ach was, er würde jetzt gleich aussteigen und den Tank mit dem Kanister im
Kofferraum füllen, einsteigen und weiterfahren. Er griff zur Autotürklinke,
als er ein Rascheln hörte. Es war sicher nur ein Igel. Nichts Gefährliches.
Nichts, wirklich nichts Gefährliches. Nur ein kleines, harmloses Tier.
Trotzdem griff er nach seinem betagten Reitersäbel, den er vor ungefähr 50
Jahren ebenfalls bei der Kavallerie bekommen hatte. Er wollte unbedingt
nach Hause. Er ergriff die Klinke... -ein Atemzug, tief und lang- ...
er drückte... -wieder ein Atemzug, gefolgt von einem Schlucken- ...er schob
die Tür auf und stieg aus. Da war es wieder. Das Rascheln! Und nun war es
viel lauter. Die Tür hatte den Ton gedämpft! Er hielt seinen Säbel vor sich,
bereit zur Verteidigung. Da hörte er ein Geräusch. Es war wie von einem
rasselnd einatmenden Mund, oder so ähnlich. Schweißperlen bildeten sich
auf seiner Stirn. Er wollte in sein Auto zurückspringen, die Türen verriegeln, diverse Schutzmaßnahmen vornehmen und eine Nacht in Angst, aber
in größtmöglicher Sicherheit verbringen. Doch seine Beine trugen ihn nicht.
Etwas näherte sich. Er stach zu, etwas klirrte, und die Finsternis der Nacht
wurde für Sir Albert MacMounter noch dunkler, als sie ohnehin schon war.
Am nächsten Morgen war das Gras von rotem Tau befeuchtet.
Das Einzige, was die Dorfpolizei des nahegelegenen Ortes Isawird von dem
alten Kriegsveteran retten konnte, war eine aufgeweichte, blutleere Leiche
mit einer seltsamen Gravur: Einem blutroten S.
Ich öffnete meine Augen und gähnte herzhaft. Es war ein sonniger Samstagmorgen, wie man ihn selten sah, jetzt, Ende Februar, zu Beginn der FastenJohannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda
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zeit. Ich stand auf, räkelte mich wie ein müder, alter Grizzly nach dem Winterschlaf und schlurfte ins Badezimmer. Dort blickte ich mir im Spiegel in
das etwas rundliche Gesicht mit den mittellangen, nun zerzausten Haaren
und begoss es mit etwas Wasser. Dann legte ich mich wieder ins Bett, um
zu lesen. Meine kleine Schwester Elli, die wegen Renovierungsarbeiten in
meinem Zimmer schlief, war schon aufgestanden. Kurz fiel mein Blick auf
mein Handy, dann überlegte ich es mir anders. Lesen war eben doch besser
als ein Computerspiel oder eine Chatrunde. So machte ich es mir wieder
unter der Decke gemütlich und begann mit der Lektüre. Ungefähr 15 Minuten später wurde mir langweilig, ich griff doch zu meinem TouchscreenMobiltelefon und verbrachte eine Viertelstunde in einer virtuellen Welt.
Dann löste ich mich von meiner selbst gestalteten Kreativ-Map und begab
mich in die Küche. Ich übersah die beiden Zeitungsartikel, die aufgefaltet
auf der Bank meines Vaters ruhten. Ich trat zur Arbeitsplatte und griff nach
einem Baguette, um mir ein Stück für ein Käsebrot herauszureißen. Ich
schlenderte abermals nach oben und versank in der schon recht lange anhaltenden Trance eines guten Buches. Eine angenehme Dreiviertelstunde später
rief mich meine Mutter zum Frühstück. Wir lasen die Losung und wünschten uns nach unserer Tradition einen guten Appetit. Zum ersten Mal fielen
mir die beiden Schlagzeilen ins Auge. In der Fuldaer Zeitung stand:
„SCHOTTISCHER LANDADELIGER TOT VORGEFUNDEN- Mysteriöser Tod, scheinbar durch das S“, die Frankfurter Allgemeine Zeitung
schrieb: „DIE DUNKLE LETTER, Geheimnisvoller Massenmörder „S“
immer noch auf freiem Fuß/ Polizei völlig verwirrt“. Ich griff nach den Zeitungen und überflog die Texte. Eigentlich wollte ich meinem Vater dazu ein
paar Fragen stellen, dachte dann aber an meine kleine Schwester und an ihr
zartes Gemüt und ließ es sein. Während ich ein Croissant mit Nuss-NougatAufstrich verschlang, dachte ich über die Informationen, die ich aufsammeln konnte, nach. Was war das für ein S, das der gerissenste, brutalste und
meistgesuchte Schwerverbrecher der ganzen Welt sein sollte? Doch meine
Gedanken wurden durch die Comics abgelenkt, die meine Schwester gerade
las. Meine Mutter fragte, was sie heute Abend kochen solle. Darauf betonte
mein Vater: „Heute gibt´s Hähnchen!“ Ich warf natürlich ein, dass ich Vegetarier sei und auf gar keinen Fall Hähnchenkeulen oder sonst was essen
würde. Glücklicherweise beruhigte mich meine Mutter und versprach, mir
Veggie-Burger oder Alaska-Seelachs zu machen. Mein einäugiger, riesiger,
rot-weiß-brauner Ara Eagle setzte sich auf meine Schulter und verspeiste
ein Brötchen, eine Scheibe Käse und seine Schale „Pretty´s Vogel-Flakes“,
wozu er seinen Schnabel in meinem Wasserglas versenkte. Instinktiv schob
ich das Glas von mir weg. „Musst du den denn unbedingt überall herumfliegen lassen?“, fragte Elli etwas wütend. „Ich lass doch auch meine Hasen
nicht rein!“Ich entgegnete, jedoch mit einem ruhigen Lächeln auf den Lippen: „Klar, soll er denn den ganzen Tag in irgendeinem Käfig hocken?“
„Erstens hast du keinen Käfig gekauft und zweitens weißt du schon“, widersprach sie, „dass der wahrscheinlich abhaut, oder?“ „Ach, Eagle verlässt
mich nicht („Wer´s glaubt!“), richtig, Eagle?“ Ich sah nach oben und er
blickte mich mit seinem gesunden Auge freundschaftlich an. Vor drei Monaten hatte ich ihn aus dem Tierheim geholt, und er wäre ohne mich sicher
ganz blind geworden. Ich hatte damals versucht, mit ihm Konversation zu
betreiben, und als er meine wilden Bewegungen nicht bemerkt hatte, informierte ich sofort einen Tierpfleger. Dieser brachte den damals noch unbenannten Papageien zum Tierarzt, wo er bald wieder gesund wurde. Da das
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Tierheim auf ihm saß wie auf alten Semmeln, machte es mir einen interessanten Vorschlag: Ich könnte ihn zum Drittel des alten Preises bekommen,
wenn ich nur die Kosten für die Krankenversorgung und die Ausrüstung
selbst trug. Da ich erstens schon immer einen Papageien hatte haben wollen
und da er zweitens ziemlich intelligent schien, nahm ich das Angebot an. Er
war mittlerweile zu einem echten Freund für mich geworden und beherrschte schon viele Tricks. Auch bei Tisch verhielt er sich ruhig, er schlief nachts
und verletzte niemanden, er legte seine Häufchen nur in das für ihn vorgesehene Klosett, kurzum: er war der perfekte Vogel, weshalb ich ihm nie
einen Käfig gekauft hatte. Er schlief auf der Stange und hatte sogar die
Möglichkeit freigestellt bekommen, einfach fortzufliegen. Denn Freunde,
die man gefangen hält, wollen keine Freunde sein. Und Freunde, die keine
Freunde sein wollen, sind auch keine Freunde. Nun aß ich also zu Ende und
schlenderte zu meinem Hornkoffer. Aus Zeitgründen hatte ich unter der
Woche nicht spielen können, und da ich den Hornunterricht bei Herrn Wasserfall nicht aufgeben wollte, setzte ich mich und äußerte eine halbe Stunde
lang eine Menge an wunderbar und weniger wunderbar klingenden Liedern.
Später griff ich wieder nach dem Buch und so ging der Tag dahin. Abends
hatte ich fast keine Erinnerung mehr an die seltsamen Zeitungsartikel und an
das geheimnisvolle „S“. Sonntags wurde das Vergessen noch weiter vorangetrieben, denn ich hatte mich größtenteils mit mir selbst zu beschäftigen;
da konnte ich keine Zeit zum Spekulieren opfern. Morgens wurde ich früh
geweckt, ich stand für heute auf dem Messdienerplan. Danach hieß es Hartarbeit. Ich hatte noch ein Referat für PoWi vorzubereiten. Dann zwei Stunden Horn spielen. Ich ermüdete beim Kaffeetrinken. Wobei ich doch noch
Hausaufgaben zu tun hatte. Und es war schon fünf Uhr. Bis zum Abendessen hatte ich lediglich Zeit für Englisch. Ich und meine Schusseligkeit! Da
musste mal wieder geheime Nachtarbeit ran. Als ich endlich fertig war, legte ich mich leise zu Bett. Ich übersah den Lichtfleck, der mit hoher Geschwindigkeit auf die Erde zuraste, dann aber unnatürlich bremste und irgendwo am Horizont auf die Erde herabkam.
Am nächsten Morgen war ich zwar müde, aber dennoch glücklich über die
doch noch geschafften Hausarbeiten. Als meine Mutter meinen besten
Freund, auch den langjährigsten unter meinen Freunden, und mich am Parkplatz der Rabanus-Maurus-Schule absetzte, hatte ich die merkwürdigen
Vorkommnisse der letzten Zeit schon längst aus meinem Gedächtnis verbannt. Der Winter hatte zurückgeschlagen. In dicken Flocken fiel der
Schnee zur Erde hinab und kleidete sie in ein weißes Kleid. In der fünften
Stunde überkam mich ein wunderbarer Freudenmoment: eine Eins im Latein- Vokabeltest! War dies ein Zeichen für eine einsetzende Besserung bezüglich der Noten? Gut gelaunt spazierte ich zum ZOB, von wo der Bus
nach Engelhelms fuhr. Auf halber Strecke bemerkte ich etwas Seltsames:
Ein graues Eichhörnchen mit schwarzen Augen. Ich glaubte bemerkt zu
haben, dass das Tier Dornen auf dem Schwanz besaß, doch wahrscheinlich
hatte ich mich geirrt und er war nur zerzaust. Ich eilte weiter, um den Bus
noch zu erwischen. Leider musste ich den Bus in die Ortsmitte nutzen, da
ich doch etwas zu spät kam. Circa eine Stunde später kam ich daheim an.
Plötzlich flog mir Eagle entgegen. Doch kurz vor mir bog er ab und machte
sich in Richtung Feld davon. Ich hastete ihm hinterher, aber er blieb hartnäckig und flatterte immer weiter fort. Wir waren in den Wald nahe des Dorfes gekommen, und die Sicht wurde schlecht. Ich wurde durch die Bäume
behindert und musste oft Ästen ausweichen, die wie aus dem Nichts auf
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mich herab sausten. Plötzlich verlor ich den Halt und fiel. Hart landete ich
auf dem Erdboden. Zum Glück hatte mein Rucksack mich abgefangen. Ich
sah mich um. Scheinbar war ich in ein Loch gestürzt. Aber auf den zweiten
Blick erkannte ich eine Leiter, eine Falltür und einen grob gezimmerten
Tisch. Dies musste ein Geheimversteck sein. Meine Augen glänzten. Der
Besitzer schien auf jeden Fall nicht handwerklich, sondern technisch veranlagt zu sein. Denn auf dem Tisch standen überall elektronische Gerätschaften, und ein Reagenzglas lag zersplittert auf der Erde. Dort, wo es aufgeprallt war, bildeten sich große, rote Flecken. Ich wollte ihnen besser nicht zu
nahe kommen. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Krächzen. Ich erschrak
fürchterlich. Doch etwas an dem Krächzen kam mir bekannt vor. Genau
deswegen drehte ich mich um, tat dies aber langsam und vorsichtig, Und
das, was ich nun sah, erfreute mich so, dass mir die Tränen in die Augen
schossen. Hinter mir, auf der dritten Sprosse der Leiter, saß Eagle und sah
mich an. Ich konnte erkennen, dass er hinter seinem weißen, abgenutzten
Schnabel lächelte. Er kam auf mich zugeflogen und setzte sich mir auf die
Schulter. Hatte er mich hierher locken wollen? Woher kannte er diesen Ort?
War er schon einmal hier gewesen? Wieso wusste ich davon nichts? Konnte
er etwa Fenster öffnen? Solche Fragen schwirrten mir im Kopf herum. Da
bemerkte ich einen kleinen schwarzen Streifen, der schon sehr verstaubt
war. Ich hob ihn vorsichtig hoch und befreite ihn durch Pusten von der
Staubschicht. Ich musterte ihn. Auch Eagle betrachtete ihn. Seine große
Klugheit ließ mich stutzen. Scheinbar war er fast so klug wie ein Mensch,
wenn nicht klüger. Aber gab es solche Papageien überhaupt? Mir fiel eine
Maschine auf. Sie war klobig und auf der einen Seite war eine große Scheibe zu sehen, die scheinbar aus Glas bestand. Plötzlich ging ein Licht an. Ich
war auf eine Druckplatte getreten. Auch fuhr sich eine Kurbel aus. Ich überlegte kurz, aber ich war zu neugierig, um sie nicht anzufassen. Zur Sicherheit setzte ich Eagle bei der Leiter ab. Falls es eine Falle war, konnte er fortfliegen und Hilfe holen, zu dumm war er sicher nicht, das war mir nun klar.
Ich drehte ein Stück, sprang zurück, was Eagle fast einen Herzinfarkt bereitet hatte, und wartete. Als nichts passierte, trat ich wieder heran und kurbelte
nun etwas kraftvoller und schneller. Da geschah mit dem eigenartigen Kasten etwas. Aus dem Deckel fuhr sich eine Art Antenne mit einer Klammer
an der Spitze aus. Ich untersuchte sie und schlussfolgerte anhand von der
Länge, dass sie wahrscheinlich zu dem seltsamen Streifen gehörte. Auf diesem erkannte ich nun auch kleine Abbildungen. So steckte ich ihn in die
Klammer und drehte weiter an der Kurbel. Die Antenne versank und plötzlich erschienen Bilder. Sie schienen schon etwas älter zu sein, ungefähr 30
Jahre. Ich erkannte einen jungen Mann im fortgeschrittenen Teenager-Alter
und im Hintergrund diesen Raum. Ich atmete auf. Nun war mir die Angst
genommen, dass der Besitzer dieser Dinge plötzlich hinter mir stände. Denn
jemand Mitte 40 würde sich doch nicht um ein Geheimversteck aus seiner
Jugend scheren, oder? Ich wendete mich wieder der Vorstellung zu. Nun
wurde ein hübsches, sicher gleichaltriges Mädchen gezeigt, das scheinbar
von dem Jungen angehimmelt wurde. Mich überkam ein schlechtes Gefühl.
Ich hatte gerade Einblick in eine fremde Privatsphäre. Also wendete ich
mich sofort ab und ging mit Eagle auf der Schulter nach Hause. Das nächste
Bild hatte ich nicht mehr gesehen...
Am nächsten Morgen stand wieder etwas Furchtbares und Seltsames in der
Zeitung: Ein arabischer Sultan, ein US-amerikanischer PräsidentschaftsJohannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda
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kandidat und der südafrikanische Vizeminister für Verteidigung wurden auf
dieselbe Weise ermordet wie Sir MacMounter, auch durch Blutentzug. Da
stand nun auch geschrieben, dass das „S“, das auch nun wieder der Mörder
war, es zuerst auf Amtsträger, Adlige und Politiker abgesehen hatte. Allerdings war nicht geklärt worden, wie es von einem Ort auf dem Planeten zum
anderen kommt. Es war wie Teleportation. Mit einem Flugzeug ganz sicher
nicht, das hätte irgendein Radar orten müssen. Es war sehr seltsam und mysteriös, aber ich konnte mich nicht mehr damit auseinandersetzen, da die
Menge an Hausaufgaben wuchs und ich für Mittwoch noch das PoWiReferat zu beenden hatte.
Dann, am Samstag, geschah etwas Fürchterliches: Überall, also in der Fuldaer Zeitung, im Schlitzer Boten und in den anderen Zeitungen aus dem
Kreis, stand in die Schreckensnachricht, dass Bürgermeister Winfried
Rudler ermordet worden war- und in seinem zerstörtem Auto eine Einkerbung gefunden wurde: das „S“! Überall tuschelten die Leute voller Angst
über die grenzenlose Bosheit des Schwerverbrechers und darüber, dass er
jetzt schon Autos zerschneiden konnte. Niemand verließ mehr allein sein
Haus, und es gab sogar Eltern, die aus Furcht auf Privatunterricht umstiegen. Alle hofften, „S“ würde sich jetzt schon auf einem anderen Kontinent
befinden. Die Polizei arbeitete auf Hochtouren, das Verteidigungsministerium hatte bewaffnete Elitekämpfer in alle Teile von Deutschland geschickt
und um die Wohnungen des Bundeskanzlers und der Bundespräsidentin
wurden nah- und fernkampferprobte Soldaten stationiert. Der Reichstag
wurde so gut bewacht, dass man als außenstehender Passant aus zwanzig
Meter Entfernung nicht die Spitze des Gebäudes sehen konnte, da überall
drei Meter dicke Betonmauern errichtet worden waren. Die Angst vor diesem Massenmörder überstieg sogar die Angst, dass brutale Terrororganisationen in Europa Einzug hielten. Man munkelte, dass er ein bösartiger
Halbmensch sei. Ich persönlich hielt das für Schwachsinn, aber ein wenig
gruselig war es trotzdem. Mittlerweile wurde ich jeden Tag zur Schule gefahren. Selbstverteidigung war das führende Thema in Sport, und das auf
Zeit. Überall wurde über das „S“ geredet. Aber ich fragte mich: „Wer ist
dieses „S“?“ Jeder war ratlos. Man hielt in Washington eine tagelange Konferenz zu dieser Frage. Natürlich hatte man den Konferenzsaal mit Wachposten zugestellt, und wenn ein Politiker auf die Toilette gehen wollte,
musste stets ein bewaffneter Trupp Soldaten mit ihm mitkommen. Trotz der
langen Spekulationen, Verhandlungen und Vorsorgeabkommen konnte man
am Ende trotzdem keine Antwort bekommen. Es war ein riesiges Mysterium. Eines Tages brachte mich meine Mutter mal wieder zur Schule, später
als sonst, weil ich noch einen Kieferorthopädentermin hatte, da ertönte ein
Geräusch: der Feueralarm! Ich rannte mit allem Gepäck auf den Lehrerparkplatz. Ich war scheinbar der erste. In der Ferne sah ich meine Klasse auf
mich zukommen. Ich ging auf sie zu und sah fragende Gesichtsausdrücke,
wogegen ich mich allerdings rechtfertigen konnte. Dies schien keine Übung
zu sein. Ich sah Rauch aufsteigen... Manche, besonders jüngere Schüler,
sahen sehr traurig aus. Manche aber freuten sich über die freien Tage, die
kommen würden, aber auch ihre Freude war bald nicht mehr zu hören.
Schulleiter Herr von Simmershausen bestätigte die Gefahr und dass sich
jeder Schüler nun unverzüglich nach Hause begeben sollte. Da weder Ares
noch ich ein Handy dabeihatten, um seine oder meine Eltern anzurufen,
mussten wir wohl oder übel laufen. Ich versuchte, jedes Geräusch wahrzunehmen. Ich musste vorsichtig sein. Falls wir „S“ über den Weg laufen
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würden, würde es uns wahrscheinlich nicht einfach so passieren lassen. Ich
fragte mich, wie es wohl aussah. Furchteinflößend oder unauffällig? Monster oder Mensch? Wahrscheinlich menschlich, denn echte Monster gab es ja
nicht. Na, ja, das war jetzt auch nicht so wichtig. Also, wir konnten den
ZOB ungefährdet erreichen. Womöglich war der Verbrecher ja auf der anderen Seite der Welt. Dann hätten wir nichts zu befürchten. Aber... Man
sagte doch, er könne in sekundenschneller Zeit die Erde umrunden. Dies
glaubte ich natürlich nicht, denn er hatte ja kein Flugzeug oder sonst irgendetwas Derartiges. Das hätte sich vor Russland, den USA oder China nicht
verstecken können. Es war alles ein großes Geheimnis. Da bemerkte ich
eine Taube. Aber sie schien keine gewöhnliche Taube zu sein, kein einfacher Stadtvogel, nein, ich hätte schwören können, dass sie trotz ihres grauen, ja fast schwarzen Gefieders rote, stechende Augen hatte. Ich erschrak,
drehte mich zu Ares um und wollte sie ihm vor Augen führen, doch als er in
ihre Richtung sah, war sie verschwunden. Die einzige Taube, die zu sehen
war, saß circa drei Meter über uns, hatte ein dichtes, braun-weißes Gefieder
und große, kastanienbraune Augen. Also glaubte mir Ares nicht und hielt
mir ungefähr eine Viertelstunde einen Vortrag über meine ungeheure Schusseligkeit und darüber, dass ich mal normal werden sollte. Glücklicherweise
kam der Bus früh. Als wir in der Ringstraße ankamen, bemerkte ich einen
Mann. Ich hatte ihn hier noch nie gesehen. Er hatte fünf große Koffer bei
sich, die er auf so etwas wie einem elektronischen Karren hinter sich her
zog. Auf seiner Schulter saß ein Vogel, zu seinen Füßen spielte ein kleines
Tier. Ich konnte nicht erkennen, welchen Tierarten sie angehörten. Ares war
schon vorausgegangen. Ich bog um die Ecke, da hörte ich plötzlich eine
Stimme, wie von einem Roboter: „Schattenklaue! Dein Biep! Handeln ist
Biep! bemerkt worden Biep!. Du wirst Biep! gefürchtet!“ Ich erschrak! Wer
war Schattenklaue? Schritte kamen auf mich zu. Ich rannte in Todesangst
schneller, als ich, der unsportlichste Typ meiner Klasse, je gerannt war. Hinter mir bog der eigenartige Mann um die Ecke. Er musste es sein. Und wenn
ihn jemand fürchten sollte, musste es dafür einen Grund geben. Die nächste
Biegung war nicht mehr weit. Ich war verängstigt. Wer war dieser Mann?
Nun waren es nur noch drei Meter, zwei, einer und ich bog in einem stumpfen Winkel in den oberen Teil der Oberdorfstraße ein. Bald war ich daheim.
Ich sah mich um, und als ich bemerkte, dass ich nicht verfolgt wurde, lief
ich zwar immer noch zügig, doch schon langsamer. Und als mir Eagle schon
entgegenflog, hielt ich ganz an und umarmte ihn kurz. Er war mein Freund,
der Freund, der mich aufrichtete, wenn ich niedergeschlagen war. Ich setzte
ihn auf meine Schulter und mich in Bewegung. Der seltsame Mann namens
Schattenklaue war wohl schon früher abgebogen. Dies war ein Anlass, ruhig
hereinzugehen. Meine Mutter wartete bereits mit dem Essen auf mich. Ich
war erleichtert. Hier war es gemütlich und friedlich. Ich wollte nach einem
Keks greifen, dachte dann aber an meine Vorsätze und ließ es bleiben. Mit
vollem Bauch setzte ich mich in meinen Schaukelstuhl und las. Fantasy war
einfach das, was mich beeindruckte. Man musste sich nicht den Gesetzen
dieser Welt anpassen, sondern konnte frei im Universum schweben, unbegrenzt durch Zeit und Raum. Man konnte sich in der Zukunft oder im Mittelalter, in der Antike oder im Barock befinden. Auch konnte man an einem
Ort sein, den es gar nicht gab. Ich für mich hatte schon zwei eigene FantasyWelten erfunden, in meiner Fantasie, wobei ich zugeben muss, dass ich ohne Papier auch nicht alles in meinem Gehirn behalten konnte. Bester Beweis: Es gab für beide Welten Karten. Als ich dann nach langwierigen
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Hausarbeiten ins Bett ging, dachte ich wieder über die Erlebnisse der letzten
Tagen nach. Eagle saß neben meinem Hochbett, das ich aus praktischen und
persönlichen Gründen behalten hatte, und schlief. Er machte einen friedlichen Eindruck. Er erinnerte mich an die Taube von heute Mittag, nur dass er
nicht so aussah, als wollte er mich gleich mit Laseraugen töten. Plötzlich
sah ich vor meinem inneren Auge den Vogel auf der Schulter des Mannes.
Und ich erkannte ihn. Er war die Taube, das Tier zu Füßen des Mannes
musste das eigenartige Eichhörnchen gewesen sein. Wer war nur der Mann,
„Schatten-wie hieß es denn“? „Schatten-...“ ... „Schatten-herz“? Nein.
„Schattenzunge“? Nein, das war es auch nicht... Ich rätselte noch ein bisschen weiter, wurde dann aber müde. „Schatten...“, „Sch...“,
„Schhhhhnarch!“ Ich schlief ein. Als ich am nächsten Morgen erwachte,
hatte ich den Namen komplett vergessen. Routinemäßig zog ich mich an
und schlurfte in die Küche, wo mein Vater saß und frühstückte. Ich wünschte ihm einen guten Appetit und machte mir an meinem Müsli zu schaffen,
das mir meine Mutter dankenswerterweise schon bereitgestellt hatte. Eagle
fraß nun seine Flocken und ich bemerkte immer öfter, wie der Alltag wieder
einzog. Auch gab es fast keine beunruhigenden Nachrichten in der Zeitung.
Trotzdem fühlte man, dass die Angst wieder stieg. Zwar gingen wieder
Menschen auf den Straßen der Stadt spazieren, aber niemand wagte es, sich
allein durch die Gassen zu bewegen. Alle versuchten, nachts zuhause zu
sein, und bald dachte jeder an das „S“, besonders Polizei und Regierung.
Auf dem Schulweg erinnerte auch ich mich an den Massenmörder- und es
fiel mir wie Schuppen von den Augen: „Schattenklaue“, gefürchtet, „S“,
von allen gefürchtet. War der Mann von neulich der Schwerverbrecher, das
„S“? Möglicherweise war er hinter irgendeinem Politiker her. Aber... Wenn
ich die Polizei einschalten würde, und er es doch nicht war, konnte ich mit
einigem Pech ziemlich viel Ärger bekommen. Dies war nicht der Weg zum
Ziel. Trotzdem war ich mir sicher, dass ich es nicht allein mit dem Mann
aufnehmen konnte. Vor einiger Zeit hatte ich zwar schon einmal einen Fall
gelöst, aber da war ich auch nicht allein. Das war im August gewesen, die
Blätter hatten sich bereits rot gefärbt und der Herbst hatte begonnen. Damals war ich mit Ares und Leo, einem damaligen Freund, auf die Rother
Kuppe gestiegen, um einen scheinbaren Entführer festzunehmen. Das war
aber auch schon eine ganze Weile her. Da hatten wir auch nur den Goldgräber Lucius van Orcis zu fangen, der auch noch der beste Freund des angeblich entführten Mathelehrers Herr Hermann Dhormann war. Nun hatte ich es
mit einem brutalen Massenmörder zu tun, und eine Begegnung mit ihm war
unmöglich zu überleben. Ich spielte ein wenig mit dem Gedanken, nach dem
Sieg über „S“ der Held der Welt zu sein, entsann mich dann aber der Überlebenschancen und verwarf den Einfall. Ich hatte auch so noch genug um
die Ohren. Klassenarbeiten, Horn, Hausaufgaben, Vokabeln und so weiter.
Dazu kam noch, dass unsere Klassenlehrerin Frau Strohberg einen Wettstreit für Kurzgeschichten veranstalten wollte. Nein, ich konnte jetzt keine
Verbrecherjagd veranstalten. Ich hatte keine Zeit, und, wie ich zugeben
muss, auch nicht den nötigen Mut. Dafür gab es doch ausgebildete Ermittler, die ihn sowieso stellen konnten. Also doch die Polizei informieren? Ja,
das war die Lösung. Ich beschloss, gleich nach der Schule auf der Wache
anzurufen. Nun musste ich erst einmal einen Sechs-Stunden-Schultag
durchstehen. Aber das war keine große Sache. Nach dem Unterricht, als ich
das Schulhaus verlassen hatte, hörte ich ein Rauschen. Nicht das des Meeres, das ich so mochte, sondern ein anderes, wohlbekanntes Geräusch. Ich
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drehte mich um und mir entfuhr: „Eagle! Was tust du denn hier?“ Da bemerkte ich einen Papierfetzen zwischen seinen Krallen. Er war wohl aus
einer Zeitung herausgerissen. Ich bedankte mich bei dem Papagei und las
das Geschriebene: „Gesundheitsminister besucht Osthessen.“ Das war nicht
viel, doch brachte es mir die Erkenntnis: Das war es! Das „S“ hatte bisher
immer nur Menschen aus dem gehobenen Stand der Politik attackiert. Erst
der Landadelige, dann der Sultan, der Vizeminister und der Präsidentschaftskandidat und danach noch der Bürgermeister. Also war nun der Minister in Gefahr. Ich setzte mir Eagle auf die eine Schulter und lief zügig
zum ZOB. Immer wieder hielt ich nach einem seltsamen Tier Ausschau, da
ich immer noch sicher war, das Schattenherz das „S“ war. Dies wollte ich
der Polizei unbedingt melden.
Ich hasste Gruben. Im August war ich fünf Meter tief ins Dunkle gefallen,
und am Montag zwei. Schmerzliche Erinnerungen hingen damit zusammen.
Ich hatte mir zwar noch nie etwas gebrochen, aber das war pures Glück.
Nun war ich also ganz friedlich, aber schnell zum Busbahnhof marschiert
und hatte mich gefragt, wie Eagle mich gefunden hatte. Dann war der Bus
gekommen, ich hatte den Busfahrer gebeten, Eagle für den Fahrpreis eines
Menschen mitkommen zu lassen und wir waren nach Hause gefahren. Ich
hatte den längeren Weg genommen, weil ich nicht dem Mann begegnen
wollte, der sich wahrscheinlich in der Ringstraße befand. Plötzlich hatte
Eagle aufgeflattert. Er hatte die Flügel ausgebreitet und war auf einen Baum
zugerast. Ich rannte voller Panik hinterher, ich hatte gerufen, wobei ich
schon von vornherein gewusst hatte, dass er nicht reagieren würde, ich hatte
versucht ihn einzuholen. Was war das für ein Papagei? Erst hatte ich ihn für
den klügsten Vogel der Welt gehalten, und nun flog er geradeaus gegen einen Baum. Dann geschah etwas Unerwartetes. Eagle hatte abgebremst, hatte
hochgezogen und landete auf der Eiche. Ich dagegen konnte nicht mehr
stoppen, sprang, kam doch zum stehen und preschte durch das Gras. Das
hieß nicht, dass ich fiel, nein, ich stürzte ins Erdreich. Schon wieder eine
geheime Falltür! Davon hatte ich in letzter Zeit allmählich genug. Nun landete ich also unter der Erde. Über mir schloss sich der Boden. Durch den
letzten Ritz flog Eagle herein. Ich war froh in dieser Finsternis jemanden zu
haben, der bei mir war, selbst wenn es nur ein Vogel war. Seit jeher hatte
ich eine positive Beziehung zu Tieren. Aus diesem Grund war ich auch Vegetarier. Nun kramte ich angstvoll in der Tasche meines Rucksacks herum,
und schließlich zog ich mein Handy hervor. Zuerst machte ich einen verzweifelten Versuch, daheim anzurufen, aber, wie schon zu erwarten war,
war der Empfang so hoch, wie eine Novelle breit war. Also war es ein großes Glück, dass mein Mobiltelefon so modern war, dass es mit einer Taschenlampe versehen war. In ihrem Schein konnte ich einen Weg erkennen.
Ich wollte aufstehen, doch meine Beine wollten mich nicht tragen. Erst nach
gut zehn Minuten hatte ich wieder genug Energie gesammelt um mich aufzurappeln. Ich schulterte mit Mühe meinen Rucksack. Eagle flog neben mir
her, wohl aus Sorge, und sah sich mit dem gesunden Auge wachsam um. Ich
tappte wahrscheinlich eine ganze Stunde im Dunkeln, da spaltete sich der
Gang. Am Ende des linken Abzweigs glaubte ich Licht zu erkennen. Ich lief
darauf zu- und stoppte abrupt. Ich konnte Stimmen hören. Die Angst stand
mir ins Gesicht geschrieben. Auch Eagle hielt an und schwieg. Die lautere
der beiden Personen hörte sich hallend und tief an. Sie sprach, wohl zu der
anderen Stimme: „Oh, mein Kleiner, was ist mit dir? Hat dir mein Rachefeldzug nicht gefallen? Denkst du, das Chaos wäre nicht der perfekJohannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda
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te Weg, die Welt zu bestrafen? Meine alte Zeit ist vorüber. Nun bin ich
SCHATTENKLAUE der GROSSE!“Ich rannte panisch zurück in Richtung der Weggabelung. Schattenklaue, der gefürchtetste Massenmörder der
Welt, war hinter mir, nur zwanzig Meter entfernt. Das, was ich unbedingt
vermeiden wollte, war geschehen. Eagle flog ängstlich zu mir. Da fiel vor
mir plötzlich eine Eisenplatte senkrecht aus der Decke und versperrte mir so
den Weg. Hinter mir krächzte dieselbe Stimme, vor der ich gestern geflüchtet war: „Entschuldige, Schattenklaue, aber Biep! mein Radar ortet eine Biep!
Datenquelle in der Nähe. Es Biep! befindet sich etwas in deinen Stollen.
Werde es herausfinden. Biep!“ Zu meinem Erschrecken entgegnete Schattenklaue: „Nein, das wirst DU nicht. ICH werde es untersuchen. Und WEHE es ist jemand aus der alten Welt!“Am Ende des Tunnels erschien ein
Wesen von unbeschreiblichem Aussehen. Es hatte noch die Form eines
Menschen, aber war über 2,5 Meter groß. Nun bemerkte ich auch die hohe
Decke. Eagle flatterte unruhig auf. Ich setzte meinen Rucksack ab. Mir liefen die Schweißperlen ins Gesicht. War hier irgendwo etwas, womit ich
mich verteidigen konnte? Die Taschenlampe? Aus meinen Fantasybüchern
wusste ich, dass finstere Wesen Licht hassten. Aber das war ja noch ein
Mensch, und außerdem strahlte er ja auch selbst Licht aus. Das also nicht.
Musik? Möglicherweise. Aber ich hatte auf meinem Handy keine Musik.
Allerhöchstens Klingeltöne, aber die zu finden würde zu lange dauern.
Elektrizität! Das musste es sein! Schattenklaue war ein halber Roboter!
Zwar waren die Mechanismen nicht an seinen Körper angebunden, was ich
gestern gesehen hatte, aber trotzdem könnte ich ihm sicher einen starken
Schock versetzen. Doch wie? Da stand er plötzlich vor mir. Ich hatte viel zu
lange gewartet! Er packte mich und zog mich zurück. Auf Eagle achtete er
nicht. Auf einmal standen wir in einer riesigen Halle. Auf der einen Seite
stand ein monumentaler Wassertank. Seltsam und erschreckend zugleich
war für mich, dass er nicht mit Wasser, sondern mit Blut gefüllt war. Er war
nicht sehr voll. Schattenklaue warf mich vor sich hin. „Na, interessiert?
Das ist die ZUKUNFT! Ich habe herausgefunden, dass Blut die nützlichste Flüssigkeit der Erde ist, abgesehen von Magma und flüssigem
Edelstahl. Und natürlich von WASSER. Das muss ich trotzdem zugeben. Oh, und ich muss das patentieren lassen. Vor mir hat noch niemand gewusst, dass man Blut als Treibstoff verwenden kann. Und ich
habe auch herausgefunden, dass Blut mit Alsium, einem seltenen Metall
aus den Tiefen der Erde, verkocht den Stoff Remdium ergibt, der ALLE Krankheiten der Welt heilen kann.“ Oh, Mann, ein Verrückter, dachte
ich. Doch da fing er schon wieder an zu erzählen. „Ich habe schon als
Kind angefangen zu forschen. Mit sechzehn Jahren baute ich einen fast
perfekten Fotospieler. Aber mit der Blutforschung begann ich erst nach
meinem Studium. Ach ja, ich sollte den Spieler noch hier irgendwo im
Wald gelassen haben. In meinem Versteck der KINDHEIT.“ Ich erschrak. „Das gehört ihnen?“ Er antwortete überrascht: „Ach, du hast es
entdeckt? Hast du mich so gefunden, Kind? Du wirst meine Vergangenheit gesehen haben. Dann hast du gesehen, weshalb ich wütend bin?
Das zweite Bild, erinnerst du dich? Das mit mir und ROSETTE? Ja?“
Ich antwortete leise: „Ja, ich ha-habe es gesehen. Aber wieso sind sie so
wütend, deswegen?“ Er brüllte mit solchem Zorn zurück, dass die Taube in
der Ecke aufflog und das Eichhörnchen vor Schreck auf den Boden fiel:
„EGAL? WAS IST HIER EGAL? DU HAST KEINE BERECHTIGUNG, ROSETTE ZU BELEIDGEN! DU! DU! DU!
Johannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda
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Schattenklaue
GROOOOOOUUUUUU!!!!!!!“ Er brüllte animalisch, griff mich und
schleuderte mich fünf Meter weiter. Er schritt auf mich zu, drehte sich dann
aber sonderbarerweise um und schritt auf seinen riesigen Tisch in der Mitte
des Saales zu und griff nach etwas, das wie eine gigantische Spritze aussah.
Ich begriff und beschimpfte mich dann selbst. Ich hatte gerade den
schlimmsten Mörder der Welt auf mich wütend gemacht. Hätte ich doch nur
geschwiegen! Möglicherweise hätte ich mich sogar noch befreien können.
Und nun machte er mit mir kurzen Prozess. Da hörte ich wieder ein Rauschen. Eagle war todesmutig von hinten in den Sturzflug gegangen und hatte sich auf Schattenklaue gestürzt. Ich sah meine Chance und stand auf.
Zehn Meter von mir entfernt lag ein großer Schraubenzieher. Als ich mich
umdrehte, sah ich eine Katastrophe! Schattenklaue hatte Eagle gegriffen und
fortgeworfen. Nun näherte er sich dem verletzten Vogel, die Spritze erhoben. Nein, ich konnte nicht tatenloszusehen, nachdem Eagle dies alles für
mich durchgemacht hatte. Also rief ich laut: „He, du Schrotthaufen-Cyborg,
stell dich, du Memme!“ Ich hätte diese Worte liebend gern wieder zurückgenommen, aber sie waren ausgesprochen. Er kam mit dröhnenden Schritten
auf mich zu, bis er vor mir stand. Ich blickte zur Seite. Blut war Wasser.
Wasser reagierte auf- Aber das war ja- Ich könnte die Welt vom „S“ befreien. Er würde nie wieder jemanden töten können. Entschlossen sagte ich zu
ihm: „Ihr nächstes Opfer nach uns wäre der Familienminister, oder? Sie
werden ihn aber nicht bekommen. Warum? Darum!“ Ich schleuderte den
Schraubenzieher in Richtung Lagerbehälter. Alles geschah wie in Zeitlupe.
Metall traf auf Glas. Risse bildeten sich. Ich konnte den ängstlichen Ausdruck unter Schattenklaues Maske erkennen. Ich sprang zwei Schritte zurück. Die rote Flüssigkeit drang in sekundenschneller Zeit in die Systeme
des Cyborgs ein. Er brüllte: „NEEEEEIIIIIIIIN!!!!!!!!!!
GROOOOUUUUUU!!!!!! AAAAAAAAAH!!!!!!“ Er schrie, fuchtelte,
doch er konnte den Vorgang nicht stoppen. Blitze zuckten um den blutbesudelten Verbrecher. Funken entstanden. Ich erschrak und lief in Richtung
Computer, um den Weg nach draußen freizumachen, doch plötzlich standen
da die Taube und das Eichhörnchen und warfen böse Blicke. Mit Mühe
konnte ich sie loswerden, doch hinter mir hörte ich schon das Monster knistern. Ich konnte gerade die Tür und die Falltür öffnen, da fiel mein Blick auf
ein Buch. Ich griff es mir, schulterte Eagle und schaffte es gerade noch in
den Gang zu rennen, da hörte ich hinter mir Schattenklaue mit unbeschreiblichen Schreien explodieren. Ich rannte so schnell wie möglich von dem
Brand weg. Hinter mir fegte eine monströse Feuerwalze her. Mit letzter
Kraft konnte ich mich, Eagle, meine Schultasche und das Buch ans Tageslicht ziehen. Ich setzte mich ins Gras und atmete tief durch. Ich war gerade
haarscharf dem Tod entronnen, hatte die Welt eigentlich unbeabsichtigt vor
einem Superschurken bewahrt und konnte auch noch einen Freund retten.
Ich sah mir das Buch an. „Ich bin ein Meister der Maske. So kann ich von
einem Ort auf der Welt zum anderen kommen.“ Schattenklaues Memoiren!
Angewidert warf ich das Buch ins Feuer und lief mit Eagle im Arm und
dem Rucksack auf dem Rücken nach Hause.
Am nächsten Morgen quasselte mich Ares mal wieder voll. Doch auf seine
Frage, was ich gestern getan habe, antwortete ich: „Nein, nein, nichts Besonderes.“ Ein bisschen untertrieben hatte ich, das war klar.
Johannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda
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