Schattenklaue Schattenklaue Sir Albert MacMounter lauschte in die Dunkelheit. Er war am Ende seiner Nerven. Sein Chauffeur war krank, sodass er seinen alten langsamen Käfer mit nun wahrscheinlich nur noch 40 Pferdestärken selbst durch die schottischen Highlands kutschieren musste, es war stockdunkle, bewölkte Nacht und außerdem befand er sich in der völlig unbewohnten Pampa inmitten zweier abgelegener Bergketten. Es war nicht zu leugnen, dass er sich hoffnungslos verfahren hatte. Von neumodischen Navigationssystemen hielt er eigentlich nichts, aber nun hätte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als ein verlässliches Navi zu haben, möglichst noch mit einer netten FrauenComputer-Stimme und leiser, beruhigender Musik im Hintergrund. Doch so luxuriös hatte er es nicht. Sein steinzeitliches Mobiltelefon hatte keinerlei Empfang, und zu allem Überfluss war das eine Scheinwerferlicht ausgefallen. Schlimmer hätte es mit Sicherheit nicht kommen können. Doch als MacMounter auf die verblichene Anzeige sah, die die verbliebene Menge an Treibstoff vor Augen führte, überkam ihn die Angst: Es war kein Tropfen Benzin mehr im Tank. Der Wagen stoppte. Aber das konnte doch gar nicht sein! War er vorhin denn nicht tanken gegangen? Höchst seltsam... Auf einmal erinnerte sich MacMounter an ein Bild aus seiner Kindheit: Er, rennend, aus einem dichten, dunklen Wald kommend, die Angst ins Gesicht geschrieben. Damals war er ungefähr sieben Jahre alt gewesen. Er hatte damals noch an Geister und Drachen geglaubt, sodass er nicht ohne die Zusage seiner Mutter, Maureen MacMounter, alle Unholde zu vertreiben, einschlafen konnte. Ach, Quatsch, dachte er plötzlich. Er durfte sich nicht beeindrucken lassen durch diese Finsternis! Das hatte er schon in seiner Zeit bei der Kavallerie gelernt. Stark sein! Er würde hier in seinem Auto übernachten, ach was, er würde jetzt gleich aussteigen und den Tank mit dem Kanister im Kofferraum füllen, einsteigen und weiterfahren. Er griff zur Autotürklinke, als er ein Rascheln hörte. Es war sicher nur ein Igel. Nichts Gefährliches. Nichts, wirklich nichts Gefährliches. Nur ein kleines, harmloses Tier. Trotzdem griff er nach seinem betagten Reitersäbel, den er vor ungefähr 50 Jahren ebenfalls bei der Kavallerie bekommen hatte. Er wollte unbedingt nach Hause. Er ergriff die Klinke... -ein Atemzug, tief und lang- ... er drückte... -wieder ein Atemzug, gefolgt von einem Schlucken- ...er schob die Tür auf und stieg aus. Da war es wieder. Das Rascheln! Und nun war es viel lauter. Die Tür hatte den Ton gedämpft! Er hielt seinen Säbel vor sich, bereit zur Verteidigung. Da hörte er ein Geräusch. Es war wie von einem rasselnd einatmenden Mund, oder so ähnlich. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Er wollte in sein Auto zurückspringen, die Türen verriegeln, diverse Schutzmaßnahmen vornehmen und eine Nacht in Angst, aber in größtmöglicher Sicherheit verbringen. Doch seine Beine trugen ihn nicht. Etwas näherte sich. Er stach zu, etwas klirrte, und die Finsternis der Nacht wurde für Sir Albert MacMounter noch dunkler, als sie ohnehin schon war. Am nächsten Morgen war das Gras von rotem Tau befeuchtet. Das Einzige, was die Dorfpolizei des nahegelegenen Ortes Isawird von dem alten Kriegsveteran retten konnte, war eine aufgeweichte, blutleere Leiche mit einer seltsamen Gravur: Einem blutroten S. Ich öffnete meine Augen und gähnte herzhaft. Es war ein sonniger Samstagmorgen, wie man ihn selten sah, jetzt, Ende Februar, zu Beginn der FastenJohannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 1 Schattenklaue zeit. Ich stand auf, räkelte mich wie ein müder, alter Grizzly nach dem Winterschlaf und schlurfte ins Badezimmer. Dort blickte ich mir im Spiegel in das etwas rundliche Gesicht mit den mittellangen, nun zerzausten Haaren und begoss es mit etwas Wasser. Dann legte ich mich wieder ins Bett, um zu lesen. Meine kleine Schwester Elli, die wegen Renovierungsarbeiten in meinem Zimmer schlief, war schon aufgestanden. Kurz fiel mein Blick auf mein Handy, dann überlegte ich es mir anders. Lesen war eben doch besser als ein Computerspiel oder eine Chatrunde. So machte ich es mir wieder unter der Decke gemütlich und begann mit der Lektüre. Ungefähr 15 Minuten später wurde mir langweilig, ich griff doch zu meinem TouchscreenMobiltelefon und verbrachte eine Viertelstunde in einer virtuellen Welt. Dann löste ich mich von meiner selbst gestalteten Kreativ-Map und begab mich in die Küche. Ich übersah die beiden Zeitungsartikel, die aufgefaltet auf der Bank meines Vaters ruhten. Ich trat zur Arbeitsplatte und griff nach einem Baguette, um mir ein Stück für ein Käsebrot herauszureißen. Ich schlenderte abermals nach oben und versank in der schon recht lange anhaltenden Trance eines guten Buches. Eine angenehme Dreiviertelstunde später rief mich meine Mutter zum Frühstück. Wir lasen die Losung und wünschten uns nach unserer Tradition einen guten Appetit. Zum ersten Mal fielen mir die beiden Schlagzeilen ins Auge. In der Fuldaer Zeitung stand: „SCHOTTISCHER LANDADELIGER TOT VORGEFUNDEN- Mysteriöser Tod, scheinbar durch das S“, die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: „DIE DUNKLE LETTER, Geheimnisvoller Massenmörder „S“ immer noch auf freiem Fuß/ Polizei völlig verwirrt“. Ich griff nach den Zeitungen und überflog die Texte. Eigentlich wollte ich meinem Vater dazu ein paar Fragen stellen, dachte dann aber an meine kleine Schwester und an ihr zartes Gemüt und ließ es sein. Während ich ein Croissant mit Nuss-NougatAufstrich verschlang, dachte ich über die Informationen, die ich aufsammeln konnte, nach. Was war das für ein S, das der gerissenste, brutalste und meistgesuchte Schwerverbrecher der ganzen Welt sein sollte? Doch meine Gedanken wurden durch die Comics abgelenkt, die meine Schwester gerade las. Meine Mutter fragte, was sie heute Abend kochen solle. Darauf betonte mein Vater: „Heute gibt´s Hähnchen!“ Ich warf natürlich ein, dass ich Vegetarier sei und auf gar keinen Fall Hähnchenkeulen oder sonst was essen würde. Glücklicherweise beruhigte mich meine Mutter und versprach, mir Veggie-Burger oder Alaska-Seelachs zu machen. Mein einäugiger, riesiger, rot-weiß-brauner Ara Eagle setzte sich auf meine Schulter und verspeiste ein Brötchen, eine Scheibe Käse und seine Schale „Pretty´s Vogel-Flakes“, wozu er seinen Schnabel in meinem Wasserglas versenkte. Instinktiv schob ich das Glas von mir weg. „Musst du den denn unbedingt überall herumfliegen lassen?“, fragte Elli etwas wütend. „Ich lass doch auch meine Hasen nicht rein!“Ich entgegnete, jedoch mit einem ruhigen Lächeln auf den Lippen: „Klar, soll er denn den ganzen Tag in irgendeinem Käfig hocken?“ „Erstens hast du keinen Käfig gekauft und zweitens weißt du schon“, widersprach sie, „dass der wahrscheinlich abhaut, oder?“ „Ach, Eagle verlässt mich nicht („Wer´s glaubt!“), richtig, Eagle?“ Ich sah nach oben und er blickte mich mit seinem gesunden Auge freundschaftlich an. Vor drei Monaten hatte ich ihn aus dem Tierheim geholt, und er wäre ohne mich sicher ganz blind geworden. Ich hatte damals versucht, mit ihm Konversation zu betreiben, und als er meine wilden Bewegungen nicht bemerkt hatte, informierte ich sofort einen Tierpfleger. Dieser brachte den damals noch unbenannten Papageien zum Tierarzt, wo er bald wieder gesund wurde. Da das Johannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 2 Schattenklaue Tierheim auf ihm saß wie auf alten Semmeln, machte es mir einen interessanten Vorschlag: Ich könnte ihn zum Drittel des alten Preises bekommen, wenn ich nur die Kosten für die Krankenversorgung und die Ausrüstung selbst trug. Da ich erstens schon immer einen Papageien hatte haben wollen und da er zweitens ziemlich intelligent schien, nahm ich das Angebot an. Er war mittlerweile zu einem echten Freund für mich geworden und beherrschte schon viele Tricks. Auch bei Tisch verhielt er sich ruhig, er schlief nachts und verletzte niemanden, er legte seine Häufchen nur in das für ihn vorgesehene Klosett, kurzum: er war der perfekte Vogel, weshalb ich ihm nie einen Käfig gekauft hatte. Er schlief auf der Stange und hatte sogar die Möglichkeit freigestellt bekommen, einfach fortzufliegen. Denn Freunde, die man gefangen hält, wollen keine Freunde sein. Und Freunde, die keine Freunde sein wollen, sind auch keine Freunde. Nun aß ich also zu Ende und schlenderte zu meinem Hornkoffer. Aus Zeitgründen hatte ich unter der Woche nicht spielen können, und da ich den Hornunterricht bei Herrn Wasserfall nicht aufgeben wollte, setzte ich mich und äußerte eine halbe Stunde lang eine Menge an wunderbar und weniger wunderbar klingenden Liedern. Später griff ich wieder nach dem Buch und so ging der Tag dahin. Abends hatte ich fast keine Erinnerung mehr an die seltsamen Zeitungsartikel und an das geheimnisvolle „S“. Sonntags wurde das Vergessen noch weiter vorangetrieben, denn ich hatte mich größtenteils mit mir selbst zu beschäftigen; da konnte ich keine Zeit zum Spekulieren opfern. Morgens wurde ich früh geweckt, ich stand für heute auf dem Messdienerplan. Danach hieß es Hartarbeit. Ich hatte noch ein Referat für PoWi vorzubereiten. Dann zwei Stunden Horn spielen. Ich ermüdete beim Kaffeetrinken. Wobei ich doch noch Hausaufgaben zu tun hatte. Und es war schon fünf Uhr. Bis zum Abendessen hatte ich lediglich Zeit für Englisch. Ich und meine Schusseligkeit! Da musste mal wieder geheime Nachtarbeit ran. Als ich endlich fertig war, legte ich mich leise zu Bett. Ich übersah den Lichtfleck, der mit hoher Geschwindigkeit auf die Erde zuraste, dann aber unnatürlich bremste und irgendwo am Horizont auf die Erde herabkam. Am nächsten Morgen war ich zwar müde, aber dennoch glücklich über die doch noch geschafften Hausarbeiten. Als meine Mutter meinen besten Freund, auch den langjährigsten unter meinen Freunden, und mich am Parkplatz der Rabanus-Maurus-Schule absetzte, hatte ich die merkwürdigen Vorkommnisse der letzten Zeit schon längst aus meinem Gedächtnis verbannt. Der Winter hatte zurückgeschlagen. In dicken Flocken fiel der Schnee zur Erde hinab und kleidete sie in ein weißes Kleid. In der fünften Stunde überkam mich ein wunderbarer Freudenmoment: eine Eins im Latein- Vokabeltest! War dies ein Zeichen für eine einsetzende Besserung bezüglich der Noten? Gut gelaunt spazierte ich zum ZOB, von wo der Bus nach Engelhelms fuhr. Auf halber Strecke bemerkte ich etwas Seltsames: Ein graues Eichhörnchen mit schwarzen Augen. Ich glaubte bemerkt zu haben, dass das Tier Dornen auf dem Schwanz besaß, doch wahrscheinlich hatte ich mich geirrt und er war nur zerzaust. Ich eilte weiter, um den Bus noch zu erwischen. Leider musste ich den Bus in die Ortsmitte nutzen, da ich doch etwas zu spät kam. Circa eine Stunde später kam ich daheim an. Plötzlich flog mir Eagle entgegen. Doch kurz vor mir bog er ab und machte sich in Richtung Feld davon. Ich hastete ihm hinterher, aber er blieb hartnäckig und flatterte immer weiter fort. Wir waren in den Wald nahe des Dorfes gekommen, und die Sicht wurde schlecht. Ich wurde durch die Bäume behindert und musste oft Ästen ausweichen, die wie aus dem Nichts auf Johannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 3 Schattenklaue mich herab sausten. Plötzlich verlor ich den Halt und fiel. Hart landete ich auf dem Erdboden. Zum Glück hatte mein Rucksack mich abgefangen. Ich sah mich um. Scheinbar war ich in ein Loch gestürzt. Aber auf den zweiten Blick erkannte ich eine Leiter, eine Falltür und einen grob gezimmerten Tisch. Dies musste ein Geheimversteck sein. Meine Augen glänzten. Der Besitzer schien auf jeden Fall nicht handwerklich, sondern technisch veranlagt zu sein. Denn auf dem Tisch standen überall elektronische Gerätschaften, und ein Reagenzglas lag zersplittert auf der Erde. Dort, wo es aufgeprallt war, bildeten sich große, rote Flecken. Ich wollte ihnen besser nicht zu nahe kommen. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Krächzen. Ich erschrak fürchterlich. Doch etwas an dem Krächzen kam mir bekannt vor. Genau deswegen drehte ich mich um, tat dies aber langsam und vorsichtig, Und das, was ich nun sah, erfreute mich so, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Hinter mir, auf der dritten Sprosse der Leiter, saß Eagle und sah mich an. Ich konnte erkennen, dass er hinter seinem weißen, abgenutzten Schnabel lächelte. Er kam auf mich zugeflogen und setzte sich mir auf die Schulter. Hatte er mich hierher locken wollen? Woher kannte er diesen Ort? War er schon einmal hier gewesen? Wieso wusste ich davon nichts? Konnte er etwa Fenster öffnen? Solche Fragen schwirrten mir im Kopf herum. Da bemerkte ich einen kleinen schwarzen Streifen, der schon sehr verstaubt war. Ich hob ihn vorsichtig hoch und befreite ihn durch Pusten von der Staubschicht. Ich musterte ihn. Auch Eagle betrachtete ihn. Seine große Klugheit ließ mich stutzen. Scheinbar war er fast so klug wie ein Mensch, wenn nicht klüger. Aber gab es solche Papageien überhaupt? Mir fiel eine Maschine auf. Sie war klobig und auf der einen Seite war eine große Scheibe zu sehen, die scheinbar aus Glas bestand. Plötzlich ging ein Licht an. Ich war auf eine Druckplatte getreten. Auch fuhr sich eine Kurbel aus. Ich überlegte kurz, aber ich war zu neugierig, um sie nicht anzufassen. Zur Sicherheit setzte ich Eagle bei der Leiter ab. Falls es eine Falle war, konnte er fortfliegen und Hilfe holen, zu dumm war er sicher nicht, das war mir nun klar. Ich drehte ein Stück, sprang zurück, was Eagle fast einen Herzinfarkt bereitet hatte, und wartete. Als nichts passierte, trat ich wieder heran und kurbelte nun etwas kraftvoller und schneller. Da geschah mit dem eigenartigen Kasten etwas. Aus dem Deckel fuhr sich eine Art Antenne mit einer Klammer an der Spitze aus. Ich untersuchte sie und schlussfolgerte anhand von der Länge, dass sie wahrscheinlich zu dem seltsamen Streifen gehörte. Auf diesem erkannte ich nun auch kleine Abbildungen. So steckte ich ihn in die Klammer und drehte weiter an der Kurbel. Die Antenne versank und plötzlich erschienen Bilder. Sie schienen schon etwas älter zu sein, ungefähr 30 Jahre. Ich erkannte einen jungen Mann im fortgeschrittenen Teenager-Alter und im Hintergrund diesen Raum. Ich atmete auf. Nun war mir die Angst genommen, dass der Besitzer dieser Dinge plötzlich hinter mir stände. Denn jemand Mitte 40 würde sich doch nicht um ein Geheimversteck aus seiner Jugend scheren, oder? Ich wendete mich wieder der Vorstellung zu. Nun wurde ein hübsches, sicher gleichaltriges Mädchen gezeigt, das scheinbar von dem Jungen angehimmelt wurde. Mich überkam ein schlechtes Gefühl. Ich hatte gerade Einblick in eine fremde Privatsphäre. Also wendete ich mich sofort ab und ging mit Eagle auf der Schulter nach Hause. Das nächste Bild hatte ich nicht mehr gesehen... Am nächsten Morgen stand wieder etwas Furchtbares und Seltsames in der Zeitung: Ein arabischer Sultan, ein US-amerikanischer PräsidentschaftsJohannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 4 Schattenklaue kandidat und der südafrikanische Vizeminister für Verteidigung wurden auf dieselbe Weise ermordet wie Sir MacMounter, auch durch Blutentzug. Da stand nun auch geschrieben, dass das „S“, das auch nun wieder der Mörder war, es zuerst auf Amtsträger, Adlige und Politiker abgesehen hatte. Allerdings war nicht geklärt worden, wie es von einem Ort auf dem Planeten zum anderen kommt. Es war wie Teleportation. Mit einem Flugzeug ganz sicher nicht, das hätte irgendein Radar orten müssen. Es war sehr seltsam und mysteriös, aber ich konnte mich nicht mehr damit auseinandersetzen, da die Menge an Hausaufgaben wuchs und ich für Mittwoch noch das PoWiReferat zu beenden hatte. Dann, am Samstag, geschah etwas Fürchterliches: Überall, also in der Fuldaer Zeitung, im Schlitzer Boten und in den anderen Zeitungen aus dem Kreis, stand in die Schreckensnachricht, dass Bürgermeister Winfried Rudler ermordet worden war- und in seinem zerstörtem Auto eine Einkerbung gefunden wurde: das „S“! Überall tuschelten die Leute voller Angst über die grenzenlose Bosheit des Schwerverbrechers und darüber, dass er jetzt schon Autos zerschneiden konnte. Niemand verließ mehr allein sein Haus, und es gab sogar Eltern, die aus Furcht auf Privatunterricht umstiegen. Alle hofften, „S“ würde sich jetzt schon auf einem anderen Kontinent befinden. Die Polizei arbeitete auf Hochtouren, das Verteidigungsministerium hatte bewaffnete Elitekämpfer in alle Teile von Deutschland geschickt und um die Wohnungen des Bundeskanzlers und der Bundespräsidentin wurden nah- und fernkampferprobte Soldaten stationiert. Der Reichstag wurde so gut bewacht, dass man als außenstehender Passant aus zwanzig Meter Entfernung nicht die Spitze des Gebäudes sehen konnte, da überall drei Meter dicke Betonmauern errichtet worden waren. Die Angst vor diesem Massenmörder überstieg sogar die Angst, dass brutale Terrororganisationen in Europa Einzug hielten. Man munkelte, dass er ein bösartiger Halbmensch sei. Ich persönlich hielt das für Schwachsinn, aber ein wenig gruselig war es trotzdem. Mittlerweile wurde ich jeden Tag zur Schule gefahren. Selbstverteidigung war das führende Thema in Sport, und das auf Zeit. Überall wurde über das „S“ geredet. Aber ich fragte mich: „Wer ist dieses „S“?“ Jeder war ratlos. Man hielt in Washington eine tagelange Konferenz zu dieser Frage. Natürlich hatte man den Konferenzsaal mit Wachposten zugestellt, und wenn ein Politiker auf die Toilette gehen wollte, musste stets ein bewaffneter Trupp Soldaten mit ihm mitkommen. Trotz der langen Spekulationen, Verhandlungen und Vorsorgeabkommen konnte man am Ende trotzdem keine Antwort bekommen. Es war ein riesiges Mysterium. Eines Tages brachte mich meine Mutter mal wieder zur Schule, später als sonst, weil ich noch einen Kieferorthopädentermin hatte, da ertönte ein Geräusch: der Feueralarm! Ich rannte mit allem Gepäck auf den Lehrerparkplatz. Ich war scheinbar der erste. In der Ferne sah ich meine Klasse auf mich zukommen. Ich ging auf sie zu und sah fragende Gesichtsausdrücke, wogegen ich mich allerdings rechtfertigen konnte. Dies schien keine Übung zu sein. Ich sah Rauch aufsteigen... Manche, besonders jüngere Schüler, sahen sehr traurig aus. Manche aber freuten sich über die freien Tage, die kommen würden, aber auch ihre Freude war bald nicht mehr zu hören. Schulleiter Herr von Simmershausen bestätigte die Gefahr und dass sich jeder Schüler nun unverzüglich nach Hause begeben sollte. Da weder Ares noch ich ein Handy dabeihatten, um seine oder meine Eltern anzurufen, mussten wir wohl oder übel laufen. Ich versuchte, jedes Geräusch wahrzunehmen. Ich musste vorsichtig sein. Falls wir „S“ über den Weg laufen Johannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 5 Schattenklaue würden, würde es uns wahrscheinlich nicht einfach so passieren lassen. Ich fragte mich, wie es wohl aussah. Furchteinflößend oder unauffällig? Monster oder Mensch? Wahrscheinlich menschlich, denn echte Monster gab es ja nicht. Na, ja, das war jetzt auch nicht so wichtig. Also, wir konnten den ZOB ungefährdet erreichen. Womöglich war der Verbrecher ja auf der anderen Seite der Welt. Dann hätten wir nichts zu befürchten. Aber... Man sagte doch, er könne in sekundenschneller Zeit die Erde umrunden. Dies glaubte ich natürlich nicht, denn er hatte ja kein Flugzeug oder sonst irgendetwas Derartiges. Das hätte sich vor Russland, den USA oder China nicht verstecken können. Es war alles ein großes Geheimnis. Da bemerkte ich eine Taube. Aber sie schien keine gewöhnliche Taube zu sein, kein einfacher Stadtvogel, nein, ich hätte schwören können, dass sie trotz ihres grauen, ja fast schwarzen Gefieders rote, stechende Augen hatte. Ich erschrak, drehte mich zu Ares um und wollte sie ihm vor Augen führen, doch als er in ihre Richtung sah, war sie verschwunden. Die einzige Taube, die zu sehen war, saß circa drei Meter über uns, hatte ein dichtes, braun-weißes Gefieder und große, kastanienbraune Augen. Also glaubte mir Ares nicht und hielt mir ungefähr eine Viertelstunde einen Vortrag über meine ungeheure Schusseligkeit und darüber, dass ich mal normal werden sollte. Glücklicherweise kam der Bus früh. Als wir in der Ringstraße ankamen, bemerkte ich einen Mann. Ich hatte ihn hier noch nie gesehen. Er hatte fünf große Koffer bei sich, die er auf so etwas wie einem elektronischen Karren hinter sich her zog. Auf seiner Schulter saß ein Vogel, zu seinen Füßen spielte ein kleines Tier. Ich konnte nicht erkennen, welchen Tierarten sie angehörten. Ares war schon vorausgegangen. Ich bog um die Ecke, da hörte ich plötzlich eine Stimme, wie von einem Roboter: „Schattenklaue! Dein Biep! Handeln ist Biep! bemerkt worden Biep!. Du wirst Biep! gefürchtet!“ Ich erschrak! Wer war Schattenklaue? Schritte kamen auf mich zu. Ich rannte in Todesangst schneller, als ich, der unsportlichste Typ meiner Klasse, je gerannt war. Hinter mir bog der eigenartige Mann um die Ecke. Er musste es sein. Und wenn ihn jemand fürchten sollte, musste es dafür einen Grund geben. Die nächste Biegung war nicht mehr weit. Ich war verängstigt. Wer war dieser Mann? Nun waren es nur noch drei Meter, zwei, einer und ich bog in einem stumpfen Winkel in den oberen Teil der Oberdorfstraße ein. Bald war ich daheim. Ich sah mich um, und als ich bemerkte, dass ich nicht verfolgt wurde, lief ich zwar immer noch zügig, doch schon langsamer. Und als mir Eagle schon entgegenflog, hielt ich ganz an und umarmte ihn kurz. Er war mein Freund, der Freund, der mich aufrichtete, wenn ich niedergeschlagen war. Ich setzte ihn auf meine Schulter und mich in Bewegung. Der seltsame Mann namens Schattenklaue war wohl schon früher abgebogen. Dies war ein Anlass, ruhig hereinzugehen. Meine Mutter wartete bereits mit dem Essen auf mich. Ich war erleichtert. Hier war es gemütlich und friedlich. Ich wollte nach einem Keks greifen, dachte dann aber an meine Vorsätze und ließ es bleiben. Mit vollem Bauch setzte ich mich in meinen Schaukelstuhl und las. Fantasy war einfach das, was mich beeindruckte. Man musste sich nicht den Gesetzen dieser Welt anpassen, sondern konnte frei im Universum schweben, unbegrenzt durch Zeit und Raum. Man konnte sich in der Zukunft oder im Mittelalter, in der Antike oder im Barock befinden. Auch konnte man an einem Ort sein, den es gar nicht gab. Ich für mich hatte schon zwei eigene FantasyWelten erfunden, in meiner Fantasie, wobei ich zugeben muss, dass ich ohne Papier auch nicht alles in meinem Gehirn behalten konnte. Bester Beweis: Es gab für beide Welten Karten. Als ich dann nach langwierigen Johannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 6 Schattenklaue Hausarbeiten ins Bett ging, dachte ich wieder über die Erlebnisse der letzten Tagen nach. Eagle saß neben meinem Hochbett, das ich aus praktischen und persönlichen Gründen behalten hatte, und schlief. Er machte einen friedlichen Eindruck. Er erinnerte mich an die Taube von heute Mittag, nur dass er nicht so aussah, als wollte er mich gleich mit Laseraugen töten. Plötzlich sah ich vor meinem inneren Auge den Vogel auf der Schulter des Mannes. Und ich erkannte ihn. Er war die Taube, das Tier zu Füßen des Mannes musste das eigenartige Eichhörnchen gewesen sein. Wer war nur der Mann, „Schatten-wie hieß es denn“? „Schatten-...“ ... „Schatten-herz“? Nein. „Schattenzunge“? Nein, das war es auch nicht... Ich rätselte noch ein bisschen weiter, wurde dann aber müde. „Schatten...“, „Sch...“, „Schhhhhnarch!“ Ich schlief ein. Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatte ich den Namen komplett vergessen. Routinemäßig zog ich mich an und schlurfte in die Küche, wo mein Vater saß und frühstückte. Ich wünschte ihm einen guten Appetit und machte mir an meinem Müsli zu schaffen, das mir meine Mutter dankenswerterweise schon bereitgestellt hatte. Eagle fraß nun seine Flocken und ich bemerkte immer öfter, wie der Alltag wieder einzog. Auch gab es fast keine beunruhigenden Nachrichten in der Zeitung. Trotzdem fühlte man, dass die Angst wieder stieg. Zwar gingen wieder Menschen auf den Straßen der Stadt spazieren, aber niemand wagte es, sich allein durch die Gassen zu bewegen. Alle versuchten, nachts zuhause zu sein, und bald dachte jeder an das „S“, besonders Polizei und Regierung. Auf dem Schulweg erinnerte auch ich mich an den Massenmörder- und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: „Schattenklaue“, gefürchtet, „S“, von allen gefürchtet. War der Mann von neulich der Schwerverbrecher, das „S“? Möglicherweise war er hinter irgendeinem Politiker her. Aber... Wenn ich die Polizei einschalten würde, und er es doch nicht war, konnte ich mit einigem Pech ziemlich viel Ärger bekommen. Dies war nicht der Weg zum Ziel. Trotzdem war ich mir sicher, dass ich es nicht allein mit dem Mann aufnehmen konnte. Vor einiger Zeit hatte ich zwar schon einmal einen Fall gelöst, aber da war ich auch nicht allein. Das war im August gewesen, die Blätter hatten sich bereits rot gefärbt und der Herbst hatte begonnen. Damals war ich mit Ares und Leo, einem damaligen Freund, auf die Rother Kuppe gestiegen, um einen scheinbaren Entführer festzunehmen. Das war aber auch schon eine ganze Weile her. Da hatten wir auch nur den Goldgräber Lucius van Orcis zu fangen, der auch noch der beste Freund des angeblich entführten Mathelehrers Herr Hermann Dhormann war. Nun hatte ich es mit einem brutalen Massenmörder zu tun, und eine Begegnung mit ihm war unmöglich zu überleben. Ich spielte ein wenig mit dem Gedanken, nach dem Sieg über „S“ der Held der Welt zu sein, entsann mich dann aber der Überlebenschancen und verwarf den Einfall. Ich hatte auch so noch genug um die Ohren. Klassenarbeiten, Horn, Hausaufgaben, Vokabeln und so weiter. Dazu kam noch, dass unsere Klassenlehrerin Frau Strohberg einen Wettstreit für Kurzgeschichten veranstalten wollte. Nein, ich konnte jetzt keine Verbrecherjagd veranstalten. Ich hatte keine Zeit, und, wie ich zugeben muss, auch nicht den nötigen Mut. Dafür gab es doch ausgebildete Ermittler, die ihn sowieso stellen konnten. Also doch die Polizei informieren? Ja, das war die Lösung. Ich beschloss, gleich nach der Schule auf der Wache anzurufen. Nun musste ich erst einmal einen Sechs-Stunden-Schultag durchstehen. Aber das war keine große Sache. Nach dem Unterricht, als ich das Schulhaus verlassen hatte, hörte ich ein Rauschen. Nicht das des Meeres, das ich so mochte, sondern ein anderes, wohlbekanntes Geräusch. Ich Johannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 7 Schattenklaue drehte mich um und mir entfuhr: „Eagle! Was tust du denn hier?“ Da bemerkte ich einen Papierfetzen zwischen seinen Krallen. Er war wohl aus einer Zeitung herausgerissen. Ich bedankte mich bei dem Papagei und las das Geschriebene: „Gesundheitsminister besucht Osthessen.“ Das war nicht viel, doch brachte es mir die Erkenntnis: Das war es! Das „S“ hatte bisher immer nur Menschen aus dem gehobenen Stand der Politik attackiert. Erst der Landadelige, dann der Sultan, der Vizeminister und der Präsidentschaftskandidat und danach noch der Bürgermeister. Also war nun der Minister in Gefahr. Ich setzte mir Eagle auf die eine Schulter und lief zügig zum ZOB. Immer wieder hielt ich nach einem seltsamen Tier Ausschau, da ich immer noch sicher war, das Schattenherz das „S“ war. Dies wollte ich der Polizei unbedingt melden. Ich hasste Gruben. Im August war ich fünf Meter tief ins Dunkle gefallen, und am Montag zwei. Schmerzliche Erinnerungen hingen damit zusammen. Ich hatte mir zwar noch nie etwas gebrochen, aber das war pures Glück. Nun war ich also ganz friedlich, aber schnell zum Busbahnhof marschiert und hatte mich gefragt, wie Eagle mich gefunden hatte. Dann war der Bus gekommen, ich hatte den Busfahrer gebeten, Eagle für den Fahrpreis eines Menschen mitkommen zu lassen und wir waren nach Hause gefahren. Ich hatte den längeren Weg genommen, weil ich nicht dem Mann begegnen wollte, der sich wahrscheinlich in der Ringstraße befand. Plötzlich hatte Eagle aufgeflattert. Er hatte die Flügel ausgebreitet und war auf einen Baum zugerast. Ich rannte voller Panik hinterher, ich hatte gerufen, wobei ich schon von vornherein gewusst hatte, dass er nicht reagieren würde, ich hatte versucht ihn einzuholen. Was war das für ein Papagei? Erst hatte ich ihn für den klügsten Vogel der Welt gehalten, und nun flog er geradeaus gegen einen Baum. Dann geschah etwas Unerwartetes. Eagle hatte abgebremst, hatte hochgezogen und landete auf der Eiche. Ich dagegen konnte nicht mehr stoppen, sprang, kam doch zum stehen und preschte durch das Gras. Das hieß nicht, dass ich fiel, nein, ich stürzte ins Erdreich. Schon wieder eine geheime Falltür! Davon hatte ich in letzter Zeit allmählich genug. Nun landete ich also unter der Erde. Über mir schloss sich der Boden. Durch den letzten Ritz flog Eagle herein. Ich war froh in dieser Finsternis jemanden zu haben, der bei mir war, selbst wenn es nur ein Vogel war. Seit jeher hatte ich eine positive Beziehung zu Tieren. Aus diesem Grund war ich auch Vegetarier. Nun kramte ich angstvoll in der Tasche meines Rucksacks herum, und schließlich zog ich mein Handy hervor. Zuerst machte ich einen verzweifelten Versuch, daheim anzurufen, aber, wie schon zu erwarten war, war der Empfang so hoch, wie eine Novelle breit war. Also war es ein großes Glück, dass mein Mobiltelefon so modern war, dass es mit einer Taschenlampe versehen war. In ihrem Schein konnte ich einen Weg erkennen. Ich wollte aufstehen, doch meine Beine wollten mich nicht tragen. Erst nach gut zehn Minuten hatte ich wieder genug Energie gesammelt um mich aufzurappeln. Ich schulterte mit Mühe meinen Rucksack. Eagle flog neben mir her, wohl aus Sorge, und sah sich mit dem gesunden Auge wachsam um. Ich tappte wahrscheinlich eine ganze Stunde im Dunkeln, da spaltete sich der Gang. Am Ende des linken Abzweigs glaubte ich Licht zu erkennen. Ich lief darauf zu- und stoppte abrupt. Ich konnte Stimmen hören. Die Angst stand mir ins Gesicht geschrieben. Auch Eagle hielt an und schwieg. Die lautere der beiden Personen hörte sich hallend und tief an. Sie sprach, wohl zu der anderen Stimme: „Oh, mein Kleiner, was ist mit dir? Hat dir mein Rachefeldzug nicht gefallen? Denkst du, das Chaos wäre nicht der perfekJohannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 8 Schattenklaue te Weg, die Welt zu bestrafen? Meine alte Zeit ist vorüber. Nun bin ich SCHATTENKLAUE der GROSSE!“Ich rannte panisch zurück in Richtung der Weggabelung. Schattenklaue, der gefürchtetste Massenmörder der Welt, war hinter mir, nur zwanzig Meter entfernt. Das, was ich unbedingt vermeiden wollte, war geschehen. Eagle flog ängstlich zu mir. Da fiel vor mir plötzlich eine Eisenplatte senkrecht aus der Decke und versperrte mir so den Weg. Hinter mir krächzte dieselbe Stimme, vor der ich gestern geflüchtet war: „Entschuldige, Schattenklaue, aber Biep! mein Radar ortet eine Biep! Datenquelle in der Nähe. Es Biep! befindet sich etwas in deinen Stollen. Werde es herausfinden. Biep!“ Zu meinem Erschrecken entgegnete Schattenklaue: „Nein, das wirst DU nicht. ICH werde es untersuchen. Und WEHE es ist jemand aus der alten Welt!“Am Ende des Tunnels erschien ein Wesen von unbeschreiblichem Aussehen. Es hatte noch die Form eines Menschen, aber war über 2,5 Meter groß. Nun bemerkte ich auch die hohe Decke. Eagle flatterte unruhig auf. Ich setzte meinen Rucksack ab. Mir liefen die Schweißperlen ins Gesicht. War hier irgendwo etwas, womit ich mich verteidigen konnte? Die Taschenlampe? Aus meinen Fantasybüchern wusste ich, dass finstere Wesen Licht hassten. Aber das war ja noch ein Mensch, und außerdem strahlte er ja auch selbst Licht aus. Das also nicht. Musik? Möglicherweise. Aber ich hatte auf meinem Handy keine Musik. Allerhöchstens Klingeltöne, aber die zu finden würde zu lange dauern. Elektrizität! Das musste es sein! Schattenklaue war ein halber Roboter! Zwar waren die Mechanismen nicht an seinen Körper angebunden, was ich gestern gesehen hatte, aber trotzdem könnte ich ihm sicher einen starken Schock versetzen. Doch wie? Da stand er plötzlich vor mir. Ich hatte viel zu lange gewartet! Er packte mich und zog mich zurück. Auf Eagle achtete er nicht. Auf einmal standen wir in einer riesigen Halle. Auf der einen Seite stand ein monumentaler Wassertank. Seltsam und erschreckend zugleich war für mich, dass er nicht mit Wasser, sondern mit Blut gefüllt war. Er war nicht sehr voll. Schattenklaue warf mich vor sich hin. „Na, interessiert? Das ist die ZUKUNFT! Ich habe herausgefunden, dass Blut die nützlichste Flüssigkeit der Erde ist, abgesehen von Magma und flüssigem Edelstahl. Und natürlich von WASSER. Das muss ich trotzdem zugeben. Oh, und ich muss das patentieren lassen. Vor mir hat noch niemand gewusst, dass man Blut als Treibstoff verwenden kann. Und ich habe auch herausgefunden, dass Blut mit Alsium, einem seltenen Metall aus den Tiefen der Erde, verkocht den Stoff Remdium ergibt, der ALLE Krankheiten der Welt heilen kann.“ Oh, Mann, ein Verrückter, dachte ich. Doch da fing er schon wieder an zu erzählen. „Ich habe schon als Kind angefangen zu forschen. Mit sechzehn Jahren baute ich einen fast perfekten Fotospieler. Aber mit der Blutforschung begann ich erst nach meinem Studium. Ach ja, ich sollte den Spieler noch hier irgendwo im Wald gelassen haben. In meinem Versteck der KINDHEIT.“ Ich erschrak. „Das gehört ihnen?“ Er antwortete überrascht: „Ach, du hast es entdeckt? Hast du mich so gefunden, Kind? Du wirst meine Vergangenheit gesehen haben. Dann hast du gesehen, weshalb ich wütend bin? Das zweite Bild, erinnerst du dich? Das mit mir und ROSETTE? Ja?“ Ich antwortete leise: „Ja, ich ha-habe es gesehen. Aber wieso sind sie so wütend, deswegen?“ Er brüllte mit solchem Zorn zurück, dass die Taube in der Ecke aufflog und das Eichhörnchen vor Schreck auf den Boden fiel: „EGAL? WAS IST HIER EGAL? DU HAST KEINE BERECHTIGUNG, ROSETTE ZU BELEIDGEN! DU! DU! DU! Johannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 9 Schattenklaue GROOOOOOUUUUUU!!!!!!!“ Er brüllte animalisch, griff mich und schleuderte mich fünf Meter weiter. Er schritt auf mich zu, drehte sich dann aber sonderbarerweise um und schritt auf seinen riesigen Tisch in der Mitte des Saales zu und griff nach etwas, das wie eine gigantische Spritze aussah. Ich begriff und beschimpfte mich dann selbst. Ich hatte gerade den schlimmsten Mörder der Welt auf mich wütend gemacht. Hätte ich doch nur geschwiegen! Möglicherweise hätte ich mich sogar noch befreien können. Und nun machte er mit mir kurzen Prozess. Da hörte ich wieder ein Rauschen. Eagle war todesmutig von hinten in den Sturzflug gegangen und hatte sich auf Schattenklaue gestürzt. Ich sah meine Chance und stand auf. Zehn Meter von mir entfernt lag ein großer Schraubenzieher. Als ich mich umdrehte, sah ich eine Katastrophe! Schattenklaue hatte Eagle gegriffen und fortgeworfen. Nun näherte er sich dem verletzten Vogel, die Spritze erhoben. Nein, ich konnte nicht tatenloszusehen, nachdem Eagle dies alles für mich durchgemacht hatte. Also rief ich laut: „He, du Schrotthaufen-Cyborg, stell dich, du Memme!“ Ich hätte diese Worte liebend gern wieder zurückgenommen, aber sie waren ausgesprochen. Er kam mit dröhnenden Schritten auf mich zu, bis er vor mir stand. Ich blickte zur Seite. Blut war Wasser. Wasser reagierte auf- Aber das war ja- Ich könnte die Welt vom „S“ befreien. Er würde nie wieder jemanden töten können. Entschlossen sagte ich zu ihm: „Ihr nächstes Opfer nach uns wäre der Familienminister, oder? Sie werden ihn aber nicht bekommen. Warum? Darum!“ Ich schleuderte den Schraubenzieher in Richtung Lagerbehälter. Alles geschah wie in Zeitlupe. Metall traf auf Glas. Risse bildeten sich. Ich konnte den ängstlichen Ausdruck unter Schattenklaues Maske erkennen. Ich sprang zwei Schritte zurück. Die rote Flüssigkeit drang in sekundenschneller Zeit in die Systeme des Cyborgs ein. Er brüllte: „NEEEEEIIIIIIIIN!!!!!!!!!! GROOOOUUUUUU!!!!!! AAAAAAAAAH!!!!!!“ Er schrie, fuchtelte, doch er konnte den Vorgang nicht stoppen. Blitze zuckten um den blutbesudelten Verbrecher. Funken entstanden. Ich erschrak und lief in Richtung Computer, um den Weg nach draußen freizumachen, doch plötzlich standen da die Taube und das Eichhörnchen und warfen böse Blicke. Mit Mühe konnte ich sie loswerden, doch hinter mir hörte ich schon das Monster knistern. Ich konnte gerade die Tür und die Falltür öffnen, da fiel mein Blick auf ein Buch. Ich griff es mir, schulterte Eagle und schaffte es gerade noch in den Gang zu rennen, da hörte ich hinter mir Schattenklaue mit unbeschreiblichen Schreien explodieren. Ich rannte so schnell wie möglich von dem Brand weg. Hinter mir fegte eine monströse Feuerwalze her. Mit letzter Kraft konnte ich mich, Eagle, meine Schultasche und das Buch ans Tageslicht ziehen. Ich setzte mich ins Gras und atmete tief durch. Ich war gerade haarscharf dem Tod entronnen, hatte die Welt eigentlich unbeabsichtigt vor einem Superschurken bewahrt und konnte auch noch einen Freund retten. Ich sah mir das Buch an. „Ich bin ein Meister der Maske. So kann ich von einem Ort auf der Welt zum anderen kommen.“ Schattenklaues Memoiren! Angewidert warf ich das Buch ins Feuer und lief mit Eagle im Arm und dem Rucksack auf dem Rücken nach Hause. Am nächsten Morgen quasselte mich Ares mal wieder voll. Doch auf seine Frage, was ich gestern getan habe, antwortete ich: „Nein, nein, nichts Besonderes.“ Ein bisschen untertrieben hatte ich, das war klar. Johannes Stephan Müller, Rabanus-Maurus-Schule Fulda 10
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