«Dieses Bild hat mich innerlich strapaziert»

KULTUR 47
NORDWESTSCHWEIZ
SAMSTAG, 21. MÄRZ 2015
«Dieses Bild hat mich innerlich strapaziert»
Mein Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum (7) Der Cembalist, Organist und Dirigent Andrea Marcon wählt das
Gemälde «Der tote Christus im Grab» von Hans Holbein dem Jüngeren
Hans Holbein d. J.: (1497/1498–1543): «Der tote Christus im Grab», 1521–1522, Öl auf Lindenholz, 32,4×202,1 cm.
Als ich vor 32 Jahren
nach Basel kam und
an der Schola Cantorum Basiliensis mein
Studium
begann,
war das Kunstmuseum einer der Orte,
den ich immer wieder, vier Jahre lang,
regelmässig besuchte. Sonntags war der
Eintritt frei, ein Geschenk für mich armen Studenten. Malerei und Alte Meister waren und sind
bis heute meine
grosse Leidenschaft
Andrea Marcon,
Chef von «La
Cetra Barockorchester
Basel» und
Professor an
der Schola
Cantorum
Basiliensis.
neben der Musik. Ich konnte damals regelmässig meine Augen mit der wunderbaren Sammlung des Kunstmuseums füttern. Schon bei meinem ersten
Besuch haben mich viele der Bilder bewegt. Aber insbesondere eines der Gemälde machte mich damals wirklich
sprachlos und hatte mich buchstäblich
innerlich strapaziert: «Der tote Christus
im Grabe» (1521–22) von Hans Holbein
dem Jüngeren. Ich kannte es noch
nicht, und ich hatte den Eindruck, tatsächlich vor einem Grab mit einer Leiche zu stehen.
Dieses Gemälde ist einfach schrecklich, macht Angst und verschlägt einem
den Atem. Später entdeckte ich dann,
dass Dostojewski, als er 1867 selbst in
KUNSTMUSEUM BASEL
SERIE
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Mein Lieblingswerk
Mit unserer Serie «Mein Lieblingswerk aus
dem Kunstmuseum» wollen wir während
der Zeit der Schliessung des Kunstmuseums dessen Schätze in unser Bewusstsein
rufen. Dies, obwohl einige Meisterwerke im
Museum der Gegenwartskunst (Moderne)
und später im Museum der Kulturen (Alte
Meister) zugänglich sind. Jede Woche
stellt eine bekannte Persönlichkeit aus
der Region ihr Lieblingswerk vor. Am 28.
Februar wählte Hubertus Adam, der Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums Basel, Max Beckmanns «Das
Nizza in Frankfurt am Main» (1921) zu sei-
nem Lieblingswerk, am 7. März stellte der
Basler Schriftsteller Martin R. Dean Anselm Stalders «Das grosse Bergbaubild»
von 1982 und am 14. März Franz Saladin,
Direktor der Handelskammer beider Basel Pablo Picassos «Arlequin aissis» von
1923. (FLU)
Basel war, so sehr darüber erschrak,
dass er in seinem Roman «Der Idiot»
darüber schreibt, wie ein solches Bild
einem den Glauben rauben kann. De
facto beeindruckt diese Darstellung,
weil sie keinen Gott zeigt, sondern ei-
nen toten Menschen, der schon mindestens drei Tage lang in einem Grab
liegt: Gesicht, Hände und Füsse sind
schon der Fäulnis ausgesetzt. Es stinkt
alles schrecklich, und man bekommt
keinen Hinweis auf eine Auferstehung.
Jesus, ganz als Mensch, bis zur letzten
Sekunde vor dem Licht.
Der tote Christus ist ab 11. April ausgestellt – in «Holbein. Cranach. Grünewald»
im Museum der Kulturen Basel.
Musikalisch den
Vom Schneeglöggli
Horizont verdunkelt zum Zürcher «Mafioso»
Zum Abschied Das Sinfonieorchester Basel verabschiedete sich vor seiner Tournee
durch China und Südkorea
mit Werken von Hindemith,
Yun und Bernstein aus Basel.
VON ANJA WERNICKE
«Das Zeitalter der Angst», so lautet der
Titel eines Gedichtzyklus’ von Wystan
Hugh Auden. Darin transportiert er die
Angst vor der Ungewissheit, was nach
dem Zweiten Weltkrieg noch kommen
kann, wie es weiter gehen soll. «I
thought that love would last for ever: I
was wrong.» Inspiriert von der Poesie
Audens komponierte Leonard Bernstein seine zweite Sinfonie in den Jahren 1947–1949. Das Sinfonieorchester
Basel führte unter der Leitung von seinem Chefdirigenten Dennis Russell Davies dieses Werk, das eigentlich ein Klavierkonzert ist, mit dem türkischen Pianisten Fazil Say im Stadtcasino auf. Say
konnte bei diesem apokalyptisch anmutenden Stück seine Rolle als geheimnisvoller Musikdämon voll ausspielen.
Mit grossen Augen stiert er ins Orchester, wartet auf seinen Einsatz, dirigiert
sich wie ferngesteuert mit der linken
Hand selbst, während die rechte eine
zerbrechliche Melodie spielt. Sein
schwarzes, schweres Samt-Jackett, seine leicht gebückte Haltung lassen ihn
wie einen hungrigen Wächter aussehen, der den Bernstein’schen MusikSchatz bewahrt und Stück für Stück für
uns öffnet. Die Leidenschaft und das
Temperament Fazil Says spürte man
speziell in den rhythmischen, jazzigen
Stellen des Satzes «Das Maskenspiel».
Nur vom Schlagzeug begleitet kann er
hier seine virtuose Spielfreude ausleben.
«Das Zeitalter der Angst» hätte auch gut
zu den anderen beiden Komponisten
des Abends gepasst, die beide schwierige Lebensabschnitte zu bewältigen hatten. Isang Yun, der ein Jahr als politischer Gefangener in Südkorea interniert war und Paul Hindemith, der aus
Nazi-Deutschland vertrieben wurde.
Doch in den Stücken der beiden spielten dämonische Anklänge weniger eine
Rolle. Besonders das Violinkonzert von
Isang Yun, das als Schweizer Erstaufführung erklang, war insgesamt weniger aufgeregt, dafür umso filigraner
und vornehmer. Die Solistin Yumi
Hwang-Williams, die in Südkorea geboren ist und im Alter von zehn Jahren in
die USA umsiedelte, überzeugte mit ihrer Technik und ihrem Ton, der selbst
dann noch sehr weit trug, wenn sie mit
einem Dämpfer auf der Saite spielte.
Mit einer konzentrierten Gelassenheit
interpretierte sie Yuns feine Musik und
liess sie in einem Glanz erscheinen.
Überzeugendes Programm
Ein weiteres Stück aus dem 20. Jahrhundert, das wiederum einen ganz anderen Charakter besitzt, hatte den Konzertabend im fast voll besetzen Stadtcasino eröffnet. Das ehrgeizige Konzertprogramm, das mit dem Titel «Horizonte» überschrieben war, hätte fast auch
«tour d’horizons» lauten können. Denn
mit den drei ausgewählten Komponisten, waren drei völlig unterschiedliche
Komponisten aus dem 20. Jahrhundert
vertreten. Paul Hindemiths «Sinfonische Metamorphosen über Themen
von Carl Maria von Weber» von 1943
sprüht vor musikalischen Einfällen und
wirkt aufgrund seiner patchwork-artigen Struktur für heutige Ohren gänzlich unverstaubt. Besonders die Bläser
des Sinfonieorchesters Basel überzeugten in allen drei Werken und konnten
sich speziell bei Hindemith gut zeigen.
Autobiografie Jörg Schneider plaudert im Buch «Äxgüsi» aus seinem Leben
«Potz Holzöpfel und Zipfelchappe – für
über drei Millionen verkaufte Tonträger
ist man gerne der Kasperli der Nation»,
gesteht Jörg Schneider in seinem neuen
Buch «Äxgüsi!» Mit dem Titel entschuldigt er sich keineswegs dafür, dass er
aus seinem Leben plaudert. Nein, so
hiess das Cabaret, das er vor 60 Jahren
gegründet hatte, denn «hauptberuflich
war ich ja Seminarist».
Am Lehrerseminar Unterstrass war
er gelandet, weil der Vater mit den
Schauspieler-Ambitionen seines Sohnes nicht einverstanden war. Der aber
hatte schon im Kindergarten mit Leidenschaft ein Schneeglöggli gespielt,
etwas später im Trockenraum des elterlichen Einfamilienhauses in Zürich
Altstetten das «Kindertheater Jörg
Schneider» eingerichtet und selbstverfasste Stücke aufgeführt. Später stand
er im Märchen «Max und Moritz» als
Hund Spitz auf der Bühne.
«Nun, ich muss so gut gebellt und
mit dem Schwanz gewedelt haben,
dass ich dem Regisseur der Operette
aufgefallen bin. Er besetzte mit mir im
‹Fidelen Bauer› die Rolle des Heinerle.» Das war 1946, und im selben Jahr
stand Schneider in der Puccini-Oper
«Gianni Schicchi» erneut auf der Stadttheater-Bühne – zusammen mit Weltstar Lisa Della Casa: «Ich spielte ihren
Sohn, den kleinen Gherardino.»
nug.» Zwischen spürbarem – und notabene berechtigtem – Stolz auf Geleistetes fehlen auch Erinnerungen an Misserfolge, Enttäuschungen und kleine,
selbstironisch zu Papier gebrachte Unzulänglichkeiten nicht.
Zeitlich sind sie nicht genau einzuordnen, da der Autor – wie er selbst gesteht
– sich mit Jahreszahlen schwertut. Auch
wenn nicht klar ist, wann er in Heidelberg, wann in Düsseldorf und in Berlin
auf der Bühne gestanden hat, so sind
diese Erinnerungen doch Trouvaillen,
lernt man bei diesen Blicken über den
Zürcher Theater-Tellerrand hinaus wenig bekannte Seiten des Schauspielers
kennen.
Auch privat lässt Schneider seine Leser nahe an sich heran. Recht intim
schreibt über seine erste Liebe Lotti
und plaudert ausgiebig über die grosse
Liebe zu seiner Frau Romy sowie ihren
gemeinsamen Sohn Urs.
Ebenso berührend ist die Offenheit,
mit der er in einem Kapitel die Alkoholkrankheit und den Tod von Urs schildert. «Natürlich versuche ich, meinem
Publikum auch privat so zu begegnen,
wie es mich kennt, aufgestellt und heiter. Es wäre gelogen, wenn ich das ‹Bad
in der Menge› nicht geniessen würde.
Aber es gibt Momente, wo es mir
schwerfällt, die erwartete Fröhlichkeit
aufzubringen. Momente, in denen ich
dankbar wäre, nicht angesprochen zu
werden.»
Grosse Liebe und Tragödien
Auch sein Krebs ist Thema
Der Werdegang vom Möchtegernzum Berufsschauspieler Jörg Schneider
steckt für den Leser voller Überraschungen. Da erfährt man etwa, dass er Gesang studiert hat. Aber «ich habe das
klassische Singen bald einmal aufgegeben. Mittelmässige Tenöre gibt es ge-
Eindrücklich ist auch die «Denkpause» mitten in «Äxgüsi»: Vor einem halben Jahr liegt Schneider mit der Diagnose Krebs im Krankenbett und denkt
– zwischen Zweifeln und Zorn – darüber nach, was er in seinem Leben erreicht hat. In diesem Kapitel kommt er
VON ROSMARIE MEHLIN
uns Lesern ganz nah, ist nicht Schauspieler, nur einfach Mensch. Dennoch
überwiegen die Erinnerungen an ein
langes und intensives Schauspielerleben. Dessen Erfolg nahm in den 70erJahren seinen Anfang, also während
der Hochblüte der Zürcher «Unterhaltungs-Mafia», wie die Macher damals
hinter kaum vorgehaltener Hand in der
Stadt tituliert wurden. «Heute weiss
man, dass das einzige Verbrechen der
Zürcher Mafia die Tatsache war, viele
erfolgreiche Produktionen auf die Bühne gebracht zu haben. Und das immer
nach der Devise: Never change a winning team.» Die «Mafiosi» hinter den
Kulissen waren Hans Gmür als «unbestrittener Pate», Karl Suter, Werner
Wollenberger, Hans Moeckel und Edi
Baur. «In der zweiten Reihe standen
Ruedi Walter, Margrit Rainer, Ines Torelli und ich.» Im Kapitel «Die Wahrheit
über Eynar Grabowsky» geht Schneider
mit dem ebenso rührigen wie geschäftlich chaotischen Direktor des Bernhardtheaters und Unternehmer so
schonungslos um, wie Westernhelden
mit Banditen umzugehen pflegen.
«Äxgüsi» ist ebenso eine Autobiografie,
wie es ein Stück Zürcher Theatergeschichte verewigt. Wer diese Geschichte
über viele Jahre verfolgt und miterlebt
hat, liest das Buch mit Wonne und hat
dabei gar so manch nostalgisches Aha-Erlebnis. Inwieweit «Äxgüsi» auch einer
jüngeren Generation die Hochblüte des
Zürcher Boulevard-Theaters näher zu
bringen vermag, wird sich weisen.
Jörg Schneider Äxgüsi! –
Aus meinem Leben. 127 S.
Fr. 32.90.