NORDWESTSCHWEIZ SAMSTAG, 19. DEZEMBER 2015 KULTUR 40 «Hast du nichts zu bieten, will die Welt deinen Hintern sehen.» Chrissie Hynde (64) Sängerin der Pretenders Humanist, joggender Journalist, FCB-Fan Würdigung bz-Chefredaktor Matthias Zehnder verlässt nach drei Jahren die Redaktion. Wir wünschen alles Gute! VON SUSANNA PETRIN UND MURIEL MERCIER Jeden Morgen vor einem langen Arbeitstag um 5.30 Uhr joggen zu gehen: Das schaffen manche Manager – oder brüsten sich zumindest damit. Zum Rennen statt Musik Informationssendungen zu hören, – vielleicht gehört auch das zum neuen Typus: sportlich und intellektuell zugleich. Bei Dunkelheit, bei Regen, bei Hagel, bei Schneesturm – Matthias Zehnder drehte in jedem Morgengrauen unverdrossen seine Runde auf dem Bruderholz. Dazu hörte er das Echo der Zeit, das Regionaljournal, Kultur kompakt und Kontext. «Das reicht gerade für meine Strecke.» Denn: Er hörte die Sendungen in anderthalbfacher Geschwindigkeit. Und das macht ihm keiner nach. Matthias Zehnder ist schnell: in den Beinen und im Geist. Er saugt Informationen auf wie andere Wasser, um dann wie ein Brita-Filter das Schlechte, Unwichtige vom Essenziellen zu trennen. Und er hat die Gabe, scheinbar weit Auseinanderliegendes überraschend zu kombinieren: Über Baselbieter Felder joggen und sich dabei über die Welt informieren –, das war nur der Anfang seines Tagwerks. In seinen Kommentaren kombinierte er FCB und EU, Umweltschutz und Kant, Univertrag und Flüchtlingskrise. humanistisch, weltoffen, redlich. Sein Wertekompass war immer klar auf die Werte der Aufklärung und des Humanismus ausgerichtet. Und dank dieser sicheren Orientierungskraft konnte er sich immer wieder ins buschige Gelände der neuen Gedankenkombinationen wagen. Sportliche Manager sind oft nicht nur hart zu sich, sondern auch zu anderen. Matthias Zehnder dagegen war anderen gegenüber ein freundlicher, grosszügiger, verständnisvoller Mensch. Eines seiner liebsten Bücher ist Peter Bieris «Das Handwerk der Freiheit». Dessen Grundsatz lautet: «Frei sind wir in diesem Sinne genau dann, wenn wir unseren eigenen Überzeugungen gemäss handeln können.» Das tat Matthias Zehnder – und er liess anderen die Frei- Seine Wochenkommentare waren sein Markenzeichen. Von den Leserinnen und Lesern geliebt und geschätzt. Nicht nur wegen der überraschenden Wendungen, sondern vor allem wegen Matthias Zehnders Haltung dahinter: heit, es ebenso zu halten. Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern schenkte er sein grösstes Vertrauen in ihr eigenes Können und Urteilsvermögen – und gab ihnen damit die grösstmögliche Freiheit. Neben der Politik fand auch jeden Tag der Mensch, die Gesellschaft den Weg in Matthias Zehnders Zeitung. Die Leserinnen und Leser aus der Region erfuhren in lebhaften Reportagen und spannenden Personenporträts, wer in Basel hinter den Kulissen arbeitet. Wer für die Gorillas Heuschrecken züchtet, wer den Opernsängern im Theater Basel das Zeichen gibt, damit sie rechtzeitig die Bühne betreten, wer sich im Kinderspital um die kleinen Patienten kümmert oder sich im Gefängnis seelsorgerisch um die Insassen bemüht. Die bz Basel hat in den vergangenen drei Jahren unter Chefredaktor Matthias Zehnder stetig Leserinnen und Leser dazugewonnen, die Auflage erhöht, die Zahl der Inserate gesteigert. Die Zeitung und das Wohlergehen der Region, über die wir schreiben, hatte für ihn die höchste Priorität. Jeden Morgen twitterte Matthias Zehnder auf der Anhöhe des Bruderholzes den Blick auf die Weite Basels mit dem Roche-Turm. Dazu schrieb er jeweils ein paar Zeilen. An seinem letzten Arbeitstag, gestern Freitag, schrieb er unter ein noch nächtliches Bild: «Hinterm Horizont geht es nicht einfach so vorbei.» Wir sagen Matthias herzlich danke und «alles Gute»! Der Künstler und sein Basel Mein Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum (46) Matthias Zehnder, Chefredaktor der bz, wählt Arnold Böcklins «Selbstbildnis im Atelier» von 1893 « Nach vielen Ortswechseln – Basel und Rom, Weimar und München, Florenz und Zürich – hat sich Arnold Böcklin wieder in Italien niedergelassen. In San Terenzo am Golf von La Spezia erholt er sich von einer schweren Krankheit. Die Rede ist von einem Schlaganfall, vielleicht han- Matthias Zehnder. BZ delt es sich aber auch um eine akute Kreislaufstörung, verursacht durch übermässiges Rauchen und Trinken. Hier, am Golf von La Spezia, malt er im Auftrag der Basler Kunstkommission für die Öffentliche Kunstsammlung Basel sein letztes Selbstporträt. Böcklin ist 66 Jahre alt. Er malt sich im Bewusstsein, dass die Basler Kunstwelt sein Bild anschauen wird, dass die Basler im (heutigen) Kunstmuseum vor diesem seinem Bild stehen werden. Böcklin präsentiert sich auf dem Bild also so, wie er in seiner Heimatstadt gesehen werden will: als erfolgreicher Grandseigneur der Kunst, der es nicht mehr nötig hat, seiner Heimatstadt zu gefallen, weil er längst in der ganzen Welt erfolgreich ist. Bei den Baslern kommt die lässige Haltung nicht gut an. Man kritisiert den unschicklichen Anzug des Malers, die karierte Sommerhose, das zerknautscht eingesteckte Tüchlein. Mit anderen Worten: Böcklins Botschaft wird in Basel verstanden. Arnold Böcklin (1827–1901) hatte es nicht einfach in seiner Heimatstadt. Lange war seine Malerei den Baslern zu bunt, zu gegenständlich und gleichzeitig zu fantastisch. Erst als er in 1859 in München mit «Pan im Schilf» grosse Anerkennung fand, versöhnte sich auch Basel langsam mit ihm. 1862 erteilt ihm die Kunstkommission den ersten grossen Auftrag zu «Jagd der Diana» – allerdings erst, nachdem die Herren sich anhand von Skizzen von der «Tauglichkeit» des Bildes überzeugt hatten. Auf dem Selbstporträt von 1893 schaut Böcklin stolz in Richtung des Betrachters, er schaut ihn aber nicht an. Der Maler hat sich diesem Publikum zugewendet, als wolle er sich nach einer Störung umsehen. Sein Blick schaut in eine Ferne, er schweift über die Köpfe des vorgestellten Publikums hinweg, das vor dem Bild im Basler Kunstmuseum steht. Auf der Staffelei steht ein angefangenes Bild, darauf sind die Umrisse eines Selbstporträts im Profil zu sehen. Böcklin malt sich also beim Malen eines Selbstporträts. Das Selbstporträt (heute würde man sagen: das Selfie) von Arnold Böcklin spricht mich an, weil sich daraus viel über seine komplizierte Beziehung zur Stadt Basel herauslesen lässt. Es ist ein Bild, das in sich viele Perspektiven beinhaltet: Den Blick von uns, den Betrachtern, auf das Bild, der Blick des abgebildeten Malers auf sein vorgestelltes Publikum, sein Blick auf sich selbst auf der Staffelei. Es ist ein Bild, das vor Augen führt, dass es die Wirklichkeit nicht gibt, dass es Wirklichkeit immer nur aus einer bestimmten Perspektive gibt. Es ist ein Bild, das Basel enthält, ohne es abzubilden.» ✴ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ SERIE ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ✲ ● ● ● ● ● ● ❒ ● ❒ ● ❒ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ❒ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Mein Lieblingswerk Mit der bz-Serie «Mein Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum Basel» wollen wir während der Zeit der Schliessung des Basler Kunstmuseums dessen Schätze in unser Bewusstsein rufen. Dies, obwohl einige Meisterwerke aktuell im Museum der Gegenwartskunst (Moderne) und im Museum der Kulturen (Alte Meister) zugänglich sind. Jede Woche stellt eine Persönlichkeit ihr Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum vor. Am 28. November stellte Burkard von Roda, der frühere Direktor des Historischen Museums Basel, die Zeichnung eines spätgotischen Deckelpokals mit Granatapfelmuster, entstanden um 1510/20, vor. Und am 5. Dezember führte Martin Hug, Advokat und Notar, aus, warum ihm Niklaus Stoecklins Bild «Der Hartmannsweilerkopf» am besten gefällt. (FLU) Arnold Böcklin, wie er sich 1893 selber bei der Arbeit sah. MARTIN P. BÜHLER/KUNSTMUSEUM BASEL
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