Der Hartmannsweilerkopf von Niklaus Stoecklin

42 KULTUR
BASEL | BASELLANDSCHAFTLICHE
SAMSTAG, 5. DEZEMBER 2015
Fragen nach dem Menschsein
Kunst Die indonesisch-holländische Künstlerin Fiona Tan war im Schaulager und erläuterte Aspekte ihres Schaffens
VON SIMON BAUR
Im Zentrum von Fiona Tans Werk steht
der Mensch. Er wird einer exakten Untersuchung ausgesetzt und bleibt bei aller Beobachtung doch stets sich selbst,
ein mehr oder weniger frei agierendes
Individuum. Das bestätigt auch der erste Eindruck der Installation «Correction», die im Schaulager in der Ausstellung «Future Present» zu sehen ist.
Was ist ein Individuum?
In loser Abfolge erscheinen rund 300
Videoporträts von Häftlingen und Wachpersonen aus vier nordamerikanischen
Haftanstalten. Die Porträtierten, abwechselnd Insassen und Wachpersonen, blicken während der rund 40 Sekunden dauernden Einstellung frontal
in die Kamera. Nur kleinste Bewegungen verraten, dass es sich um einen Film
handelt und diese Feinheiten, die uns
täglich und überall begleiten, stellen die
Fragen nach unserer Individualität. Die
Gezeigten haben die Arme hinter dem
Rücken, vorne verschränkt oder eng am
Körper liegend, die Hände verschränkt,
gestikulierend,
bewegungslos.
Ihre
Kopfhaltungen verraten Skepsis, Demut,
Überlegenheit und Gelassenheit. Gerne
würden die Menschen der Kamera ausweichen, doch diese ist unerbittlich,
schiesst ihre Bilder gnadenlos, doch wer
lässt sich gerne erlegen?
Damit diese bewegten Stand-Bilder
optimal zur Geltung kommen, hat das
Schaulager-Team der Installation einen
optimalen Raum gebaut. Die Bilder
sind zu einem kreisartigen Sechseck im
Raum angeordnet und diese Form, in
der sich auch die Betrachter bewegen,
ist die des Raumes. Diagonal durch den
Raum gibt es zwei Durchgänge, von
weitem nur schlecht sichtbar. An ein
Gefängnis erinnert dieser Raum ganz
und gar nicht, vielmehr denkt man an
einen religiös aufgeladenen Ort, eine
Moschee, eine Kapelle. In der Kombination von Raum und Inhalt erhält die
Installation, nicht erst bedingt durch
die Vorkommnisse der jüngsten Ver-
Fiona Tan im Schaulager.
zu erläutern, interessant vielleicht, dass
man die Arbeiten von zwei Seiten betrachten soll, aber das wird in der Installation klar; dass Vorbilder wie August Sanders Serie «Menschen des 20.
Jahrhunderts», dass das Interesse an
Physiognomik und Kriminalfotografien
inspirierend wirkten. Viel Wissenswertes blieb auch diesmal nicht haften. Das
ist keine Kritik, einzig eine Hörerfahrung. Vielleicht hätte man das Gespräch direkt in der Installation führen
können, sie ist es, die durch ihre Präsenz überzeugt: Immer wieder sind es
die Bilder, die vereinnahmend, besitzergreifend wirken, weniger die Worte.
PETER SCHNETZ
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Original und Theorie
Und das Künstlergespräch? Zu theoretisch, wie so oft im Schaulager und
hier kaum wiederzugeben. Zu häufig
wurden Referenzen ins Spiel gebracht,
wofür hier der Platz fehlt, sie detailliert
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Feier für Jean-Christophe
Ammann
Am 13. September 2015 ist Jean-Christophe Ammann gestorben. Als Mitarbeiter Harald Szeemanns in der Berner
Kunsthalle und für die documenta 5 in
Kassel, als Direktor des Kunstmuseums
Luzern (1968–1977) und danach als Leiter
der Basler Kunsthalle (1978–1988) hat Jean-Christophe Ammann Gegenwartskunst in der Schweiz und über ihre Grenzen hinaus massgeblich mitgeprägt.
Auch die Sammlung der Basler Emanuel
Hoffmann-Stiftung, in deren Stiftungsrat
Ammann über dreissig Jahre wirkte, verdankt ihm wichtige Impulse.
Seine Freunde und alle, die er mit seinem
Wirken berührt hat, sind zur Erinnerungsfeier am 16. Januar 2016 um 15 Uhr im
Schaulager eingeladen.
Für die Organisation wird um Anmeldung
auf der Website des Schaulagers gebeten. (SBA)
Die Ausstellung «Future Present» im
Schaulager, in der auch die Installation
von Fiona Tan zu sehen ist, dauert noch
bis zum 31. Januar.
Die nächsten Künstlergespräche finden mit David Claerbout (10. Dezember),
Thomas Ruff (14. Januar) und Gary Hill
(28. Januar) statt.
Weitere Infos www.schaulager.org
gangenheit, eine politische Note. Man
kann das so sehen, muss aber nicht.
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SCHAULAGER
«Ein eindrückliches und demütiges Mahnmal»
Mein Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum (44): Martin Hug, Advokat und Notar, Meister EE Akademische Zunft, Basel, wählt Niklaus Stoecklins Bild «Der
Hartmannsweilerkopf» von 1919
«
Ein Lieblingswerk im Kunstmuseum? Schwerlich; die Auswahl
ist zu reich. Warum ich gerade über das
ausgewählte Bild schreibe, hat aber seinen Grund. Am Ende meiner Kindheit,
es war bei einem sonntäglichen Familienbesuch im
Museum, habe ich das
Bild Niklaus
Stoecklins
zum ersten
Mal gesehen.
Ohne noch
zu begreifen
warum, war
ich
schaudernd
berührt.
Martin Hug.
Stoecklin
war mir mit Stadtansichten aus späteren Jahren in unserem Esszimmer vertraut. Wie anders war der «Hartmannsweilerkopf»!
Das Grauen des Krieges, wie es
Stoecklin darstellt, erschloss sich mir
erst später. Er malt keine blutigen Opfer, verzichtet fast gänzlich auf den Einsatz von Farbe und lässt so das Leblose
umso stärker wirken. Umso irritierender ist, dass die einzige warme Farbe,
nussbraun, der detonierten Granate im
Trichter im Vordergrund und dem
Blindgänger rechts vorbehalten ist.
Kreuz,
Baumleichen,
Gasmaskenschlauch und selbst die Kleider des
Mannes im Hintergrund sind Abstufungen von Grau. Rätselhaft-beunruhigend
ist jedes einzelne Motiv: Der Wanderer
hinterlässt keine Spur im Schnee, der
(unverschneite!) Blindgänger zielt auf
ihn, die Äste der Bäume wirken abgesägt. Der die Landschaft bedeckende
Schnee, sonst Inbild und Metapher für
Reinheit und Unberührtheit, ist hier
das Leichentuch für Tausende, ein notdürftiger letzter Schutz für die unfreiwilligen «Helden» der Schlachten des
Ersten Weltkrieges.
Die Eindringlichkeit der Darstellung
wird verstärkt durch die mittige Anordnung des Granattrichters und die ebenfalls mittig angeordnete, symmetrische
Silhouette des Hartmannsweilerkopfs.
Der Betrachter befindet sich erhöht
und sieht doch nur das, was er lieber
nicht sähe. Befindet sich unter der Nebeldecke im Hintergrund, in der Rheinebene, erträglich Alltägliches?
Vor kurzem, eher zufällig vorbeikommend, besuchte ich auf dem Vieil Armand, wie der Ort auf Französisch
heisst, die dortige Gedenkstätte. Nach
Niklaus Stoecklin: «Der Hartmannsweilerkopf», 1919, 51,5×60 cm; Öl auf Leinwand.
Kriegsende und fast gleichzeitig mit
Stoecklins Bild von 1919 entstanden,
soll die Gedenkstätte zu den meistbesuchten Touristenattraktionen (sic!) des
Elsass gehören. In ihrer pompösen
Wucht wirkt sie fast als eine Fortsetzung der Schlacht mit architektonischen Mitteln. Wie viel eindrücklicher
und zugleich demütiger wirkt Stoecklins Mahnmal in seiner surrealistisch
wirkenden Reduktion.»
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MARTIN P. BÜHLER / KUNSTMUSEUM BASEL
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Mein Lieblingswerk
Mit der bz-Serie «Mein Lieblingswerk
aus dem Kunstmuseum Basel» wollen
wir während der Zeit der Schliessung
des Basler Kunstmuseums dessen
Schätze in unser Bewusstsein rufen.
Jede Woche stellt eine Persönlichkeit
ihr Lieblingswerk vor. Am 14. November
hat der Basler Architekt Meinrad Morger Giovanni Segantinis Gemälde «An
der Tränke» von 1888 als sein Lieblingswerk ausgewählt. Am 21. November hat
Suzanne Schweizer, Co-Leiterin der
Kultkino AG, formuliert, was sie an Paul
Klees Bild «Ad marginem» von 1930 so
sehr fasziniert. Und am 28. November
hat Burkard von Roda, früherer Direktor
des Historischen Museums Basel, erklärt, weshalb ihm die Zeichnung eines
spätgotischen Deckelpokals mit Granatapfelmuster von 1510/20 so viel bedeutet. (FLU)