42 KULTUR BASEL | BASELLANDSCHAFTLICHE SAMSTAG, 5. DEZEMBER 2015 Fragen nach dem Menschsein Kunst Die indonesisch-holländische Künstlerin Fiona Tan war im Schaulager und erläuterte Aspekte ihres Schaffens VON SIMON BAUR Im Zentrum von Fiona Tans Werk steht der Mensch. Er wird einer exakten Untersuchung ausgesetzt und bleibt bei aller Beobachtung doch stets sich selbst, ein mehr oder weniger frei agierendes Individuum. Das bestätigt auch der erste Eindruck der Installation «Correction», die im Schaulager in der Ausstellung «Future Present» zu sehen ist. Was ist ein Individuum? In loser Abfolge erscheinen rund 300 Videoporträts von Häftlingen und Wachpersonen aus vier nordamerikanischen Haftanstalten. Die Porträtierten, abwechselnd Insassen und Wachpersonen, blicken während der rund 40 Sekunden dauernden Einstellung frontal in die Kamera. Nur kleinste Bewegungen verraten, dass es sich um einen Film handelt und diese Feinheiten, die uns täglich und überall begleiten, stellen die Fragen nach unserer Individualität. Die Gezeigten haben die Arme hinter dem Rücken, vorne verschränkt oder eng am Körper liegend, die Hände verschränkt, gestikulierend, bewegungslos. Ihre Kopfhaltungen verraten Skepsis, Demut, Überlegenheit und Gelassenheit. Gerne würden die Menschen der Kamera ausweichen, doch diese ist unerbittlich, schiesst ihre Bilder gnadenlos, doch wer lässt sich gerne erlegen? Damit diese bewegten Stand-Bilder optimal zur Geltung kommen, hat das Schaulager-Team der Installation einen optimalen Raum gebaut. Die Bilder sind zu einem kreisartigen Sechseck im Raum angeordnet und diese Form, in der sich auch die Betrachter bewegen, ist die des Raumes. Diagonal durch den Raum gibt es zwei Durchgänge, von weitem nur schlecht sichtbar. An ein Gefängnis erinnert dieser Raum ganz und gar nicht, vielmehr denkt man an einen religiös aufgeladenen Ort, eine Moschee, eine Kapelle. In der Kombination von Raum und Inhalt erhält die Installation, nicht erst bedingt durch die Vorkommnisse der jüngsten Ver- Fiona Tan im Schaulager. zu erläutern, interessant vielleicht, dass man die Arbeiten von zwei Seiten betrachten soll, aber das wird in der Installation klar; dass Vorbilder wie August Sanders Serie «Menschen des 20. Jahrhunderts», dass das Interesse an Physiognomik und Kriminalfotografien inspirierend wirkten. Viel Wissenswertes blieb auch diesmal nicht haften. Das ist keine Kritik, einzig eine Hörerfahrung. Vielleicht hätte man das Gespräch direkt in der Installation führen können, sie ist es, die durch ihre Präsenz überzeugt: Immer wieder sind es die Bilder, die vereinnahmend, besitzergreifend wirken, weniger die Worte. PETER SCHNETZ ✴ Original und Theorie Und das Künstlergespräch? Zu theoretisch, wie so oft im Schaulager und hier kaum wiederzugeben. Zu häufig wurden Referenzen ins Spiel gebracht, wofür hier der Platz fehlt, sie detailliert ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ✲ ● ● ● ● ● ● ❒ ● ❒ ● ❒ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ❒ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Feier für Jean-Christophe Ammann Am 13. September 2015 ist Jean-Christophe Ammann gestorben. Als Mitarbeiter Harald Szeemanns in der Berner Kunsthalle und für die documenta 5 in Kassel, als Direktor des Kunstmuseums Luzern (1968–1977) und danach als Leiter der Basler Kunsthalle (1978–1988) hat Jean-Christophe Ammann Gegenwartskunst in der Schweiz und über ihre Grenzen hinaus massgeblich mitgeprägt. Auch die Sammlung der Basler Emanuel Hoffmann-Stiftung, in deren Stiftungsrat Ammann über dreissig Jahre wirkte, verdankt ihm wichtige Impulse. Seine Freunde und alle, die er mit seinem Wirken berührt hat, sind zur Erinnerungsfeier am 16. Januar 2016 um 15 Uhr im Schaulager eingeladen. Für die Organisation wird um Anmeldung auf der Website des Schaulagers gebeten. (SBA) Die Ausstellung «Future Present» im Schaulager, in der auch die Installation von Fiona Tan zu sehen ist, dauert noch bis zum 31. Januar. Die nächsten Künstlergespräche finden mit David Claerbout (10. Dezember), Thomas Ruff (14. Januar) und Gary Hill (28. Januar) statt. Weitere Infos www.schaulager.org gangenheit, eine politische Note. Man kann das so sehen, muss aber nicht. ▼ SCHAULAGER «Ein eindrückliches und demütiges Mahnmal» Mein Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum (44): Martin Hug, Advokat und Notar, Meister EE Akademische Zunft, Basel, wählt Niklaus Stoecklins Bild «Der Hartmannsweilerkopf» von 1919 « Ein Lieblingswerk im Kunstmuseum? Schwerlich; die Auswahl ist zu reich. Warum ich gerade über das ausgewählte Bild schreibe, hat aber seinen Grund. Am Ende meiner Kindheit, es war bei einem sonntäglichen Familienbesuch im Museum, habe ich das Bild Niklaus Stoecklins zum ersten Mal gesehen. Ohne noch zu begreifen warum, war ich schaudernd berührt. Martin Hug. Stoecklin war mir mit Stadtansichten aus späteren Jahren in unserem Esszimmer vertraut. Wie anders war der «Hartmannsweilerkopf»! Das Grauen des Krieges, wie es Stoecklin darstellt, erschloss sich mir erst später. Er malt keine blutigen Opfer, verzichtet fast gänzlich auf den Einsatz von Farbe und lässt so das Leblose umso stärker wirken. Umso irritierender ist, dass die einzige warme Farbe, nussbraun, der detonierten Granate im Trichter im Vordergrund und dem Blindgänger rechts vorbehalten ist. Kreuz, Baumleichen, Gasmaskenschlauch und selbst die Kleider des Mannes im Hintergrund sind Abstufungen von Grau. Rätselhaft-beunruhigend ist jedes einzelne Motiv: Der Wanderer hinterlässt keine Spur im Schnee, der (unverschneite!) Blindgänger zielt auf ihn, die Äste der Bäume wirken abgesägt. Der die Landschaft bedeckende Schnee, sonst Inbild und Metapher für Reinheit und Unberührtheit, ist hier das Leichentuch für Tausende, ein notdürftiger letzter Schutz für die unfreiwilligen «Helden» der Schlachten des Ersten Weltkrieges. Die Eindringlichkeit der Darstellung wird verstärkt durch die mittige Anordnung des Granattrichters und die ebenfalls mittig angeordnete, symmetrische Silhouette des Hartmannsweilerkopfs. Der Betrachter befindet sich erhöht und sieht doch nur das, was er lieber nicht sähe. Befindet sich unter der Nebeldecke im Hintergrund, in der Rheinebene, erträglich Alltägliches? Vor kurzem, eher zufällig vorbeikommend, besuchte ich auf dem Vieil Armand, wie der Ort auf Französisch heisst, die dortige Gedenkstätte. Nach Niklaus Stoecklin: «Der Hartmannsweilerkopf», 1919, 51,5×60 cm; Öl auf Leinwand. Kriegsende und fast gleichzeitig mit Stoecklins Bild von 1919 entstanden, soll die Gedenkstätte zu den meistbesuchten Touristenattraktionen (sic!) des Elsass gehören. In ihrer pompösen Wucht wirkt sie fast als eine Fortsetzung der Schlacht mit architektonischen Mitteln. Wie viel eindrücklicher und zugleich demütiger wirkt Stoecklins Mahnmal in seiner surrealistisch wirkenden Reduktion.» ✴ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● SERIE ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ MARTIN P. BÜHLER / KUNSTMUSEUM BASEL ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ✲ ● ● ● ● ● ● ❒ ● ❒ ● ❒ ● ● ❒ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Mein Lieblingswerk Mit der bz-Serie «Mein Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum Basel» wollen wir während der Zeit der Schliessung des Basler Kunstmuseums dessen Schätze in unser Bewusstsein rufen. Jede Woche stellt eine Persönlichkeit ihr Lieblingswerk vor. Am 14. November hat der Basler Architekt Meinrad Morger Giovanni Segantinis Gemälde «An der Tränke» von 1888 als sein Lieblingswerk ausgewählt. Am 21. November hat Suzanne Schweizer, Co-Leiterin der Kultkino AG, formuliert, was sie an Paul Klees Bild «Ad marginem» von 1930 so sehr fasziniert. Und am 28. November hat Burkard von Roda, früherer Direktor des Historischen Museums Basel, erklärt, weshalb ihm die Zeichnung eines spätgotischen Deckelpokals mit Granatapfelmuster von 1510/20 so viel bedeutet. (FLU)
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