1 Ansprache über Ps 22,2-3 anlässlich des Gedenkens an die Opfer des Flugzeugabsturzes über Südfrankreich am 30. März 2015 in der Kirche Santa Maria dell'Anima „Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.“ Amen. I. „Wir stehen vor dir mit leeren Händen, Herr“ (EG 382) – Der Flugzeugabsturz über Südfrankreich, bei dem 150 Menschen ihr Leben verloren haben, trifft uns im Innersten. Ein einziger Satz – die Absturzmeldung für den Flug 4U 9525 – und eine Welt ist zerbrochen. „Media vita in morte sumus“, wussten die Alten. Der Tod ist nicht nur etwas, das am Ende des Lebens auf uns wartet. Der Tod greift ein in das Leben. Er widerfährt uns. Er bricht über uns hinein. Er schafft Tatsachen, durch die alles in Frage gestellt wird, was wir für sicher gehalten haben. Er verletzt uns und lässt uns mit beschädigter Seele zurück. Sprachlos angesichts soviel Leid. Verzweifelt angesichts der Macht des Bösen. Seit Dienstag, 10.53 Uhr – ist nichts mehr wie es bis dahin gewesen ist. „Wir stehen vor dir mit leeren Händen, Herr“ (EG 382) – Das, was wir haben, ist unsere Anteilnahme und unser Mitleid. Sie gelten den Menschen, die ihnen liebe Angehörige, Freunden und Kollegen durch diese Katastrophe verloren haben. Menschen, die ihnen alles bedeuteten. Mit denen zusammen sie das Leben lieb hatten. Von einem Augenblick auf den anderen haben sie die Menschen verloren, mit denen sie ihr Leben teilten. Menschen, mit denen sie zusammen gearbeitet, Gegenwart gestaltet und Zukunft geplant haben. Jeder von uns ahnt, wie fürchterlich dieser Verlust ist. Ihr Leben wird nicht mehr so sein, wie es bisher war. So viele Lebenswege, so viele Hoffnungen, Wünsche und Möglichkeiten, so viel auf Wachsen und Zukunft angelegtes Leben wurde brutal zerstört. All die Liebe und Zuneigung, Gemeinschaft und Freude, die unser Leben hell und schön macht – ist durch dieses Unglück für viele Menschen vorbei. Auch uns geht das nahe. Hinzu kommt das tiefe Entsetzen: Wie kann ein Mensch anderen Menschen so etwas antun? Fassungslos stehen wir der grausamen Wirklichkeit des Bösen in unserem Leben gegenüber. Mit Worten von Papst Franziskus fragen wir in den Grundfesten des Lebens erschüttert: „Mensch, wer bist du? Ich erkenne dich nicht mehr. Wer bist du, o Mensch? Wer bist du geworden? Zu welchem Gräuel bist du fähig gewesen? Was hat dich so tief fallen lassen? … Wer hat dich angesteckt mit der Anmaßung, dich zum Herrn über Gut und Böse“, über das Leben zu machen? „Wir stehen vor dir mit leeren Händen, Herr“ (EG 382) – Wir möchten Dir glauben, Herr. Wir möchten Deine Nähe spüren. Bei dir Zuflucht finden und zur Ruhe kommen. Wir möchten glauben, dass Berge und Hügel wohl fallen mögen, aber Deine Gnade nicht von uns weichen wird (Jes 54,10). Dass Du da bist am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jeden neuen Tag. Dass wir 2 von deinen guten Mächten wunderbar geborgen sind (EG 65,7). Doch unser Vertrauen ist erschüttert. Das Vertrauen in die Technik. Das Vertrauen in Menschen. Und auch das Vertrauen in Gott hat Risse bekommen. Wie können wir an Gott, den Schöpfer und Erhalter des Lebens glauben, wenn der Tod ungehindert so grausame Tatsachen unter uns schaffen kann. Eine Welt ist zerbrochen. II. „Wir stehen vor dir mit leeren Händen, Herr“ (EG 382). Wir stehen hier – Gott sei Dank – nicht allein, sondern – so wie heute Abend in diesem Gebet - über alle Grenzen von Sprachen, Kulturen und Konfessionen hinweg als Geschwister in der Gemeinschaft der Glaubenden, verbunden in der einen Kirche Jesu Christi mit unseren Müttern und Vätern im Glauben. Ihre Worte, Bilder und Geschichten sind es, die wir uns leihen dürfen, wenn wir zu verstummen drohen. Ihre Worte, Gebete und Lieder, mit denen sie ihr Leben bestanden haben, in denen sie ihre Hoffnungen, ihre Ängste und Tränen ausgedrückt haben, können uns von innen nähren, wo wir ihnen Vertrauen schenken und nachsprechen lernen, was uns gerade vielleicht viel zu gewagt zu sein scheint. Zu den Worten der Bibel, die unsagbares Leid doch in Sprache fassen, die ein Gefäß werden können für Verzweiflung und Erschütterung, die einen Brücke schlagen über den Abgrund der Sinnlosigkeit und die mir, vielleicht uns Halt und Trost anbieten, gehört der Psalm 22. Eindrücklich kommt in ihm die Erschütterung dieser Tage zum Ausdruck, dass Menschen da, wo sie Gottes Nähe und sein rettendes Eingreifen dringend bräuchten, nichts von ihm spüren: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe“ (Ps 22,2-3.15b.16a). Diese bittere Erfahrung macht auch Jesus am Kreuz von Golgatha. Er ist besiegt. Allein, von allen verlassen, im Sterben. Als es dunkel wird und der Schmerz ihn erschüttert, steigt – so berichten es die Evangelien – aus seinem Mund der Schrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (Mt 27.46). Die Sinnlosigkeit seines Todes, das Unrecht, das ihm angetan wird, die Unschuld, die geopfert wird – das alles kommt in Jesu letztem Wort am Kreuz zum Ausdruck. Ein großer Hilfeschrei. Doch Jesus erhält in diesem Moment keine Antwort. Keine wundersame Errettung vor dem Tod. Kein wundersames Eingreifen Gottes. Jesus schreit und stirbt. Mir sagt dies: Der große Gott mag uns oft fremd und fern erscheinen, aber Jesus ist uns nahe. Er ist ganz unten. Da, wo wir sind – in der Verzweiflung, in der Einsamkeit, im Sterben und im Tod. Genau da ist Jesus, damit uns nicht gilt, was sich uns in solchen Augenblicken nahe legt: dass Gott sich von uns abgewendet habe. Nein. Jesus ist da. Er steht uns bei, weil er für uns erleidet, was wir nicht durchhalten können. Im Zerbrechen des Lebens sind es letztlich nur diese beiden Worte, die 3 Jesus auch für uns und an unserer Stelle sagt: „Mein Gott!“ Die eigene Lebenskraft ist versiegt. Gott selbst scheint sich zurückgezogen zu haben, ist völlig verborgen. Und dennoch „Mein Gott!“ Davon lässt Jesus auch am äußersten Rand der Dunkelheit nicht ab. Daran hält er fest, daran klammert er sich, dass sein Schrei ein wirkliches Gegenüber hat, und zwar „mein Gott“ - das ist der, der mich gewollt hat, dem ich nicht egal bin, der mir versprochen hat: „Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht“ (Josus 1,5b) An diesem Vertrauen Gott festzuhalten – selbst da, wo wir von seiner Gegenwart nichts mehr spüren – das ist sicher das Schwierigste unseres Glaubens. Jesus ist uns darin voran gegangen, ist diesen Weg für uns gegangen und hat erfahren, dass Gott ihn in Wahrheit nicht verlassen hat. Und es ist diese Wahrheit, die gegen den Augenschein im Sterben Jesu offenbar wird: nicht als billiges Happy End, nicht als wundersame Rettung vor dem Tod, sondern als neues Leben aus dem Tod heraus. Auch der Auferweckte trägt noch die Wundmale, die Spuren seines Leidens. Sein neues Leben bleibt gezeichnet von dem, was vorher war. Aber der Tod kommt auf ewig nicht mehr an dieses Leben heran. Und so, wie sich Gottes Treue und Liebe an Jesus durch den Tod hindurch bewährt hat, so bewährt sie sich auch in unserem Leben. Nicht, indem Gott uns Schweres erspart, sondern indem er mit uns durch Schweres geht, erfüllt er sein Versprechen, uns nicht zu verlassen. III. Diese Sichtweise drängt sich nicht auf. Sie ist und bleibt Glaubenssache. Sie muss oft erkämpft, errungen werden. Dafür brauchen Menschen, die dann, wenn wir selber dazu nicht mehr in der Lage sind, für uns an Gottes Versprechen festhalten. Die in der Not bei uns bleiben. Die mit uns in der Dunkelheit wachen. Die für uns beten und uns bezeugen, dass „dazu Christus gestorben und wieder lebendig geworden ist, dass er über Tote und Lebende Herr sei“ (Röm 14,) und dass uns deshalb „weder Tod noch Leben scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist“ (Röm 8,38f). Diese Gewissheit hebt die Verzweiflung über das Flugzeugunglück nicht auf. Aber sie kann der Trauer und dem Kummer einen Rahmen geben. Sie kann unsere gesenkten Blicke aufheben und uns auf das Licht aufmerksam machen, dass am Ostermorgen in die Dunkelheit der Nacht kommen wird. Von daher ist zu sagen: Ja, der Tod ist eine Macht in dieser Welt. Media vita in morte sumus. Das ist das Gesetz unseres Lebens. Aber es wird nicht das letzte Wort behalten. Denn das spricht einzig und allein Gott. Und sein Wort ist kein Gesetz, sondern reines Evangelium, das nicht vergehen wird, sondern „selig macht alle, die daran glauben“ (Röm 1,16). So tritt durch Kreuz und Auferstehung Jesu zu der Einsicht „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“ die Gewissheit hinzu: „Mitten wir im Tode sind von dem Leben umfangen.“ In den Rahmen, den diese Glaubenssicht anbietet, können wir unsere Trauer und Betroffenheit, 4 unsere Verunsicherung und unser Verletztsein, unsere Wut und Ohnmacht hineingeben. Sie sind dann nicht weggewischt, aber die Gewissheit, dass Gott so wie er an Jesus Christus gehandelt hat, auch für die 150 Toten der Flugzeugkatastrophe und ebenso für uns sorgen wird – diese Gewissheit kann uns im Fallen auffangen, neuen Halt geben und uns helfen, unseren Alltag neu zu gestalten. Am Ostermorgen erhält diese Glaubenshoffnung ihren unzerstörbaren Grund. Wir dürfen sie heute schon glauben. Amen. „Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ Amen.
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