Predigt in der akademischen Predigtreihe „Siehe, ich mache alles neu“ zu Röm. 8, 31-39 – „Feste Verbindung“ am Altjahrsabend, 31.12.2015 – 16 h von Reinhard Schmidt-Rost 31 Was wollen wir nun hierzu sagen? Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? 32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben - wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? 33 Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. 34 Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt. 35 Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? 36 Wie geschrieben steht (Psalm 44,23): »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.« 37 Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. 38 Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. Liebe Gemeinde, Im Zentrum seines Briefs an die Gemeinde in Rom steht dieser Hymnus, er steht aber im Schatten der Debatten über die Rechtfertigungslehre seit jeher bis auf den heutigen Tag. Nicht dass man sie nicht kennen und nennen würde, diese eindrucksvollen Sätze am Schluss der theologischen Grundsatzerklärung, die der Apostel Paulus für die Gemeinde in Rom aufgeschrieben hat. Aber nur alle sechs Jahre ist dieser Abschnitt Predigttext, am Abend eines vergehenden Jahres. Dabei ist es nicht nur der Höhepunkt des ganzen Briefes, der insgesamt die Grundlagen des christlichen Glaubens formuliert, sondern es ist auch ein geradezu hymnisches Gedicht, ein Gesang: „Siegeslied der Christenheit“ hat Ulrich Wilkens diesen Text genannt. Das klingt mir zu gewaltig, aber für den ehemaligen Lübecker Bischof und Experten des NT war das schon eine passende Ausdrucksweise. Mir entspricht es mehr, vom Loblied auf die Quelle zu reden, das Lied auf die Kraftquelle, die uns ermutigt, die Liebe Gottes als Grundkraft des Lebens zu bezeugen – ein Leben lang, ein Christenleben lang. Ein christliches Brunnenlied – vielleicht? Mein Plädoyer für 2016: Dieser hymnische Schluss der paulinischen Grundgedanken aus Römer 8 soll ins Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit treten, auch der Aufmerksamkeit der Jubiläumsvorbereiter von 2017 – und vor allem die letzten Verse dieses Liedes. 38 Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. Meine Begründung: Diese Worte sprechen das Selbstbewusstsein von Christen klar und deutlich aus. Ohne die Gewissheit, dass alle Menschen von Gott geliebt sind, hätte ich mein Leben nicht dieser Zeugenaufgabe widmen können. Die Erfahrung der festen Verbindung mit der Liebe Gottes lässt mein Leben jeden Morgen neu werden, - und ich weiß mich in dieser Erfahrung mit vielen Menschen verbunden. Die Frage nach der Rechtfertigung des Sünders vor Gott ist nicht unwichtig, aber sie muss zurücktreten, denn diese Frage nach dem persönlichen Heil fixiert die Menschen als einzelne zu sehr auf sich selbst, jeden einzelnen auf seine persönliche Befindlichkeit. Bei Paulus, bei Augustinus, bei Luther, noch bei Spener und Schleiermacher – oder mit einem modernen Wort gesagt: In der vormodernen Zeit – war die Frage nach dem Individuum, nach dem einzelnen vor Gott eine Frage gegen den Trend, gegen das Aufsaugen des Menschen in seiner Besonderheit hinein in die Masse der Untertanen, der Ungebildeten und Unwissenden. Die Botschaft von der gnädigen Zuwendung Gottes zu allen Menschen, zu jedem, hat die geistige Befreiung der Menschen hervorgerufen – und dann auch die soziale Befreiung nach und nach angeregt. Aber nun ist diese Botschaft so allgemein und politisch wirksam geworden, dass man sie kaum noch erkennt, wo sie wirkt: z.B. in den Aufrufen und Entscheidungen führender Christen in der deutschen Politik, und wo mal ein Theologe in der Öffentlichkeit nach der Bedeutung der Rechtfertigungslehre heute gefragt wird, da kann er sich kaum verständlich machen, weil die Öffentlichkeit den Schutz des Einzelnen und seiner Persönlichkeitsrechte für selbstverständlich hält. Dabei haben beide Grundgedanken der Rechtfertigungslehre ihre Richtigkeit und bleibende Bedeutung: Die Grenzen des Menschen und sein grenzenloses Selbstbewusstsein, das wir Sünde nennen, wirken auch in der Gegenwart und aus dem Freispruch von diesen Grenzen leben wir alle, ob wir es glauben oder nicht. Die Erfahrung dieses Freispruchs spricht sich dann in der Gewissheit der festen Verbindung zu Gottes Liebe aus: Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. Diese Gewissheit bestimmt das Selbstverständnis der evangelischen Christen öffentlich selten. Oder nehmen Sie in der deutschen Öffentlichkeit an der Jahreswende 2015/2016 eine solche Zuversicht bei evangelischen Christen wahr: Wir sind fest verbunden mit der Liebe Gottes? Wir sind fest verbunden mit der Liebe Gottes und deshalb können uns soziologische Verfallsdiagnosen, Hassprediger verschiedenster Gemeinschaften, negative Finanzprognosen und tatsächliche Missstände in der Organisation der Kirchen und was der Mächte und Gewalten in unserer Zeit noch sind, nicht trennen von der Liebe Gottes. Davon, von der Kraft, die uns trägt und bewegt, und nicht nur uns als die heute hier Versammelten, sondern alle Christen in diesem Land und in der Welt, von dieser Lebenskraft ist kaum die Rede. Liebe Gemeinde, nun werden Sie mich zurecht fragen: Wenn wir nun mit Dir dieses jubelnde Lied mitsingen und uns auf die Liebe Gottes besinnen: Was meinst Du, wenn Du von der Liebe Gottes redest und was heißt das für Dein Leben, wenn Du solche Vorstellungen von Gottes Liebe verbreitest? Und wenn Du uns das erklärst, dann sagst Du uns doch sicher auch, was in unserem Leben anders wird, wenn wir uns Deiner Auffassung anschließen? Ob etwas anders werden muss in Ihrem Leben, das kann ich gar nicht sagen, ich vermute sogar viel eher, dass Sie schon längst aus der Gewissheit leben, mit Gottes Liebe fest verbunden zu sein. Etwa weil Sie für Ihr Leben dankbar sind, was Sie werden durften, wie weit Gott Sie gebracht bis heute, gleich welcher Generation Sie angehören. Vielleicht müssen Sie nicht einmal Ihre Aufmerksamkeit auf diese Entwicklungen und Ergebnisse in Ihrem Leben neu richten, weil Sie die Wirkungen der Liebe Gottes in ihrem Leben ohnehin längst im Blick haben und aus dieser Quelle, der Überzeugung von Gott geliebt zu sein, Tag für Tag schöpfen. Vielleicht haben Sie auch längst die Kraft an sich gespürt oder an anderen Menschen bewundert, die Kraft zum Eintreten füreinander auch gegen die Mächte und Gewalten dieser Welt, die uns Rücksichtslosigkeit und Selbstsucht nahelegen. Es müssen ja nicht gleich so schreckliche Anfechtungen sein, gegen die Dietrich Bonhoeffer sein Neujahrslied 1944 kurz vor seiner Ermordung geschrieben und gedichtet hat. - Wir werden es nachher singen und damit auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass wir in Zeit und Ewigkeit, im irdischen Leben und darüber hinaus geborgen sind, in der Sphäre der Liebe, die wir Gott nennen und uns unvermeidlich personal vorstellen. Was kann anders werden im Leben von Menschen, die sich von Gott geliebt wissen, einfach weil sie als Menschen leben dürfen? Oder was wird schon längst anders? Davon schreibt Paulus gegen Ende seines Briefes an die Gemeinde in Rom. Das 12. Kapitel spricht von den Folgen für das Leben der Menschen, die sich der Liebe Gottes als Grundkraft ihres Lebens bewusst sind. Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. 2 Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. 3 Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich's gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat. 4 Denn wie wir an "einem" Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, 5 so sind wir viele "ein" Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied, 6 und haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Ist jemand prophetische Rede gegeben, so übe er sie dem Glauben gemäß. 7 Ist jemand ein Amt gegeben, so diene er. Ist jemand Lehre gegeben, so lehre er. 8 Ist jemand Ermahnung gegeben, so ermahne er. Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn. Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er's gern. 9 Die Liebe sei ohne Falsch. Hasst das Böse, hängt dem Guten an. 10 Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich. Einer komme dem andern mit Ehrerbietung zuvor. 11 Seid nicht träge in dem, was ihr tun sollt. Seid brennend im Geist. Dient dem Herrn. 12 Seid fröhlich in Hoffnung, geduldig in Trübsal, beharrlich im Gebet. 13 Nehmt euch der Nöte der Heiligen an. Übt Gastfreundschaft. 14 Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden. 16 Seid eines Sinnes untereinander. Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet euch herunter zu den geringen. Haltet euch nicht selbst für klug. 17 Vergeltet niemandem Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. 18 Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. 19 Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben (5.Mose 32,35): »Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.« 20 Vielmehr, »wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln« (Sprüche 25,21-22). 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem. Dazu braucht man kein theologisches Spezialwissen, um diese Worte zu verstehen, auch heute nicht. Man muss sie allerdings finden in der Bibel, wenn man sie nachlesen will. Ein Letztes und sicher das Wichtigste, bedarf aber noch einmal des theologischen Nachdenkens: Musste Christus dafür leiden, dafür, dass wir Gott als die Liebe, als die Grundkraft menschlichen Lebens erkennen? Ist diese Einsicht nicht ganz natürlich? Keineswegs: Als dominierende Gestaltungskraft gilt bis in unsere Tage die Gewalt, ob körperlich, militärisch, finanziell und es ist noch nicht lange her, dass auch hierzulande die antike Auffassung vertreten wurde: "Der Krieg ist der Vater aller Dinge". Was aber ist das Leben ohne Mütter, ohne die Liebe als Mutter, ohne die Kraft der Hingabe von Müttern und Vätern für ihre Kinder? Jesus von Nazareth hat mit seiner Lehre, mit seinem Zeugnis für Gott als eines barmherzigen Vaters aller Menschen ein für alle Mal demonstriert, dass nur die Kraft der Liebe Leben bewahrt, so wie sie es hervorbringt. Wie wirkungsvoll diese Demonstration war, lässt sich ohne weiteres daraus erschließen, dass der Demonstrant Jesus von Nazareth beseitigt wurde. Und der bis heute weiter getragene Glaube an seine Auferstehung ist für mich zutiefst plausibel: Wir wir spüren und sehen, und glauben deshalb, dass Gottes Liebe weiterlebt und weiterwirkt, auch wenn es viele nicht wahrhaben wollen. Viele seiner Jünger in vielen Generationen sind seitdem mutige und leider oft auch blutige Zeugen seiner Lebensbotschaft geworden. Ich habe diese Botschaft hier oft verkündigt, so oft, dass ich schon fürchtete, man würde mich für einfallslos halten. Aber Martin Luther hat wohl recht, wenn er in einer Predigt zu dieser Bibelstelle sagt: „In der Angst glauben wir das nicht,“ - dass wir mit Gottes Liebe fest verbunden sind –„ deshalb müssen wir es (dieses Wort) treiben!“ Also immer wieder und immer neu sagen, dass wir aus der Liebe Gottes leben und aus keiner anderen Quelle. Ich hoffe und bitte für das Neue Jahr, dass weiterhin viele Menschen als Zeugen der Liebe Gottes leben und tätig werden, in welchen Formen auch immer ... in der Hingabe für ihre Kinder und Enkel, oder auch für ihre Eltern und Großeltern, im sozialen Einsatz für Pflegebedürftige, Verfolgte und Fliehende, in Bildung und Erziehung zu einem Leben aus der Kraft der Liebe Gottes, dass sie dazu beitragen, die Schönheit der Schöpfung freizulegen, und dass auch wir mit unserer großen oder kleinen Kraft zu diesem täglichen Schöpfungswerk beitragen dürfen, in der Familie, in der Nachbarschaft, bei der Arbeit. Dazu schenke uns Gott Kraft für das Neue Jahr. Amen. Gereimter Kommentar Von bloßen Zahlen lasst euch bloß nicht schrecken, von leeren Kirchen nicht und leeren Kassen, wenn es denn stimmt! Wir lassen nicht verblassen, was jedermann am Glauben kann entdecken: Wie Gott der Menschen Kräfte stets will wecken, dass sie einander stützend unterfassen, und käme Not hierher in großen Massen, es soll kein Christ die Friedenswaffen strecken: Aus jeder Hilfe neue Kräfte blühen, noch immer sät Hingabe Freundlichkeit, und geht einmal die Saat nicht auf, wir ziehen uns nicht zurück von Elend, Not und Leid, weil wir doch selbst von Gott Beschenkte sind, seit uns die Eltern trugen als ein Windelkind.
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