SWR2 Wissen: Aula

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen/Aula
Wertezerfall
Zur Glaubwürdigkeit von Politik und Medien in "postfaktischen"
Zeiten
Von Ulrich Sarcinelli
Sendung: Sonntag, 26. Februar 2017, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2017
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MANUSKRIPT
Ansage:
Mit dem Thema: „Wertezerfall - Zur Glaubwürdigkeit von Politik und Medien in
"postfaktischen" Zeiten“.
Der Brexit und die Trump-Wahl haben gezeigt, was es bedeutet, im postfaktischen
Zeitalter zu leben: Fakten und vernünftige Argumente gelten nicht, stattdessen
dominieren Gefühle, Aggressionen und Verschwörungstheorien, mit der man
angeblich alle Komplexität meistern kann. Doch wie hat sich dadurch die öffentliche
Meinungsbildung im liberalen Verfassungsstaat verändert – sind wir auf dem Weg
zur Demokratie 4.0? Antworten von Ulrich Sarcinelli, emeritierter Professor für
Politikwissenschaft der Universität Koblenz-Landau.
Ulrich Sarcinelli:
Ohne Glaubwürdigkeit geht es nicht. Sie dient uns als Wahrnehmungsfilter bei der
Aufnahme, Selektion und Bewertung von Informationen. Glaubwürdigkeit ist jedoch
mehr als ein Instrument zur Mengenbewältigung. Kant sieht in Wahrhaftigkeit eine
wichtige Bedingung für Glaubwürdigkeit. Der Großmeister der
Aufklärungsphilosophie leitet dieses Prinzip aus der Naturrechtslehre ab. Er
verbindet Glaubwürdigkeit mit der Idee der wechselseitigen Anerkennung zwischen
Gleichberechtigten. Kants Maßstab stellt eine hohe normative und prozedurale Hürde
für Politik und Medien dar; zumal in Zeiten, in denen sich die Medien mit dem
Generalvorwurf der „Lügenpresse“ konfrontiert sehen; in Zeiten auch, die inzwischen
als „postfaktisch“ bezeichnet werden. In solchen Zeiten verdient Glaubwürdigkeit als
elementarer Mechanismus sozialer Beziehungen besonderes Interesse.
Wir brauchen Glaubwürdigkeit in privaten Beziehungen. Ebenso lebt wirtschaftliches
Handeln von ihr. Man denke an das Prinzip des ehrbaren Kaufmanns. Und auch für
Medien und Politik ist sie ein hohes Gut – eine unverzichtbare Legitimitätsressource.
Deshalb geht es bei Glaubwürdigkeitsverlust um die Infragestellung von
Wahrheitsansprüchen und Anerkennungsverhältnissen.
Wo Vertrauen entzogen wird, wo Glaubwürdigkeit fehlt, sind Krisenerscheinungen die
Folge. In der politikwissenschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Literatur
werden die Krisen inzwischen als „postdemokratische“ (Crouch), als
„postparlamentarische“ (Benz) Verhältnisse und neuerdings auch als „postmediale“
(Selke/Dittler) Zeiten bezeichnet. Das „post“ steht dabei für die Wahrnehmung einer
Zeitenwende. Tatsächlich schafft die Omnipräsenz von Medien, schafft die
Totalmedialisierung unserer Welt neue kulturelle Selbstverständlichkeiten. Wir
wissen es aus der Mediengeschichte. Neue Medien, Medienrevolutionen, führen zu
gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Verwerfungen. Das galt schon für
die Erfindung der Schrift zu Zeiten Platons. Der antike Philosoph befürchtete, die
Schrift fördere das Vergessen. Ebenso lösten das Aufkommen des Buchdrucks oder
der Massenpresse, die Verbreitung des Radios und die Einführung des Fernsehens
als publikumsattraktive Medien Ängste aus. Medientechnologische Sprünge wecken
aber auch Hoffnungen. Es geht um den Zugang zu Wissen; um die Furcht vor
Manipulation, vor Stimmungsmache und Täuschung, insgesamt also um die
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Bedingungen der „gesellschaftliche(n) Konstruktion von Wirklichkeit“
(Berger/Luckmann).
Hinter der These von der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit steckt die
wissenssoziologische Erkenntnis: Eine ‚Wirklichkeit an sich‘, die gibt es nicht. Was
als Wirklichkeit gelte, sei vielmehr das Ergebnis eines Wahrnehmungs- und
Konstruktionsprozesses und der ist heute weithin medial beeinflusst. Ohne schon die
Auswirkungen des Internets im Näheren einschätzen zu können, hat der bekannte
Systemtheoretiker Niklas Luhmann, diese konstruktivistische Sicht schon vor zwei
Jahrzehnten mediensoziologisch auf die Spitze getrieben, als er schrieb: „Was wir
über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch
die Massenmedien.“ In der Tat ist es „Die Realität der Massenmedien“ (Luhmann),
die historisch mehr denn je unser ‚Weltbild‘ prägt.
Mit möglichen gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen dieser Entwicklung
haben sich die Sozialwissenschaften intensiv beschäftigt und dabei auf die
Bedeutung von politischer Inszenierung, von symbolischer Politik (Sarcinelli), von
Politainment (Dörner), wie ganz generell auf stimmungsdemokratische Tendenzen
aufmerksam gemacht; zunächst mit Blick auf das Fernsehen, auf Talkshows und auf
den politisch-medialen Unterhaltungsbetrieb; inzwischen mehr und mehr auf das
Internet und auf die sog. Sozialen Medien konzentriert.
Aber ist das alles wirklich so neu? Ist nicht die Auseinandersetzung über „Rituale der
Macht“ (Althoff/Stollberg-Rillinger), sind nicht die Debatten über
Wirklichkeitsdarstellung und Realitätstäuschung so alt wie die Beschäftigung mit
Politik? Ich erinnere an einen meiner Lieblingsklassiker. Zitat:
„Die Menschen urteilen im Allgemeinen mehr nach dem, was sie mit den Augen
sehen, als nach dem, was sie mit den Händen greifen; … Die Menschen sind ja so
einfältig und gehorchen so leicht den Bedürfnissen des Augenblicks, dass der, der
betrügen will, immer einen findet, der sich betrügen lässt… Denn der Pöbel hält sich
immer an den Schein; und in der Welt gibt es nur Pöbel“ (Machiavelli (1513) 1978).
Das ist keine Analyse zur Mediendemokratie in postfaktischen Zeiten, sondern eine
mehr als 500 Jahre alte Beschreibung zur Staatskunst in der Tradition
mittelalterlicher Fürstenspiegel. Das Zitat stammt aus Niccolò Machiavellis Schrift
„Der Fürst“.
Die Funktionslogik von Politik und Kommunikation, von Macht und Überredungskunst
ohne den normativ-religiösen Ballast mittelalterlicher Herrschaftsbegründung zu
denken, nüchtern und pragmatisch – und nur der Staatsräson folgend – das war und
das bleibt das Moderne an diesem Klassiker, auch wenn wir heute dessen
pessimistische Anthropologie nicht teilen mögen. Zu betonen bleibt allerdings, dass
es eine zweite Seite bei Machiavelli gibt. In seinen „Discorsi“ verteidigt er die
republikanische Ordnung und billigt dem Volk durchaus mehr Klugheit zu als dem
Alleinherrscher.
Was lernen wir daraus? Der Kampf um die Wirklichkeit, der Kampf um die
Deutungshoheit war und ist elementarer Bestandteil des Politischen. Inzwischen hat
dieser Kampf allerdings eine neue Dimension erreicht. Die Rede ist von
postfaktischen Zeiten. Postfaktisch wurde zum Wort des Jahres 2016. Die
Bundeskanzlerin verhalf „postfaktisch“ in Deutschland zu Kultstatus und prompt
wurde das Adjektiv zu einer Art Modebegriff: postfaktische Zeiten, so Merkel, das
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„soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sondern
folgen allein den Gefühlen“ (Merkel).
Der Präsidentschaftswahlkampf in den USA gilt dafür als politischer Großversuch, als
eine Art Referenzereignis. Überhaupt wird Amerika in Sachen Medien und politische
Kommunikation als Modernisierungsvorreiter betrachtet. Deutsche
Wahlkampfmanager und Polit-Strategen beobachten deshalb regelmäßig die
Election Campaigns in den USA. Es lohnt daher eine kurze Rückblende auf das
Postfaktische des Trump-Wahlkampfs, ganz abgesehen davon, dass sich der
Trump’sche Kommunikations- und Führungsstil in seiner bisherigen Amtsführung
fortzusetzen scheint.
Ein solcher Exkurs empfiehlt sich nicht zuletzt deshalb, weil in Deutschland eine
Debatte über die Frage in Gang gekommen ist, wie sich die
Kommunikationsverhältnisse im Superwahljahr 2017 entwickeln werden; eine Zeit, in
der es in besonderer Weise auf die Glaubwürdigkeit von Politik und Medien
ankommt. Es wäre besorgniserregend, wenn sich Trumps Kommunikationsstrategie
als eine Art Modernisierungsvorreiter erwiese.
Wir erinnern uns: Zunächst wurde Trumps Kandidatur in Teilen der amerikanischen
Öffentlichkeit und mehr noch in Europa nicht ernst genommen. Die Elitemedien
bewerteten sein Auftreten durchweg als eine Krawallkandidatur, eher einer
Bananenrepublik angemessen als der ältesten Demokratie. Und lange konnten die
professionellen Beobachter kaum glauben, was sie hörten und sahen;
ausgenommen die Trump-Medien, die schon seit Jahren his masters voice vertreten.
– Derb populistisch, geradezu clownesk und in der Sache ziemlich wirr. Alle
Konventionen und Schamgrenzen demonstrativ missachtend schien der
Präsidentschaftskandidat wie von einem anderen Stern; stillos, ohne jede politische
Erfahrung – eigentlich die abschreckend-ideale Verkörperung des Anti-Politikers;
zweifellos aber ein Medien-Talent mit eigener Fernseh-Show und hohen
Einschaltquoten. Sein Rezept: Provokation als Strategie, Lüge als Instrument,
Ressentiments statt nachvollziehbarer Begründungen, Gefühle statt Fakten. Und
auch dies: eine demonstrative Respektlosigkeit gegenüber demokratischen Werten,
Institutionen und Verfahren gepaart mit politischer Unerfahrenheit als Trumpf und als
Waffe gegen alles, was aus dem etablierten politischen Apparat kommt.
Vergeblich rieten die New York Times und andere führende Blätter ihren Lesern von
einer Wahl Donald Trumps ab: Der Mann sei getrieben von „gefährlichen Impulsen
und zynischer Anbiederung“; seine Kandidatur sei geprägt von „falschen und
unverschämten Behauptungen, persönlichen Beleidigungen, fremdenfeindlichem
Nationalismus, dreistem Sexismus“. Die Redaktion von „USA Tuday“ kritisierte
Trumps Spiel mit Vorurteilen, verwies auf seine zwielichtige Wirtschaftskarriere,
seinen Hang zur Lüge, seine polarisierende Wirkung und seine Untauglichkeit als
Oberbefehlshaber. Im Faktencheck der „Washington Post“ erhielt er für zwei Drittel
seiner Aussagen die Höchstbewertung von vier Pinocchios als unangefochtener
Lügenbaron. Indessen gilt Trump bei seinen Anhängern als der Mann, der
unangenehme Wahrheiten ausspricht.
Der Faktencheck der Mainstream-Medien hatte offenbar keine Wirkung. Eine virtuelle
Wahrheit habe sich breit gemacht, beklagte die Washington-Post. Lügen würden als
Tatsachen akzeptiert und Verschwörungstheorien schlügen Wurzeln auf dem
fruchtbaren Boden von Unwahrheiten. Bestimmte Teile der Gesellschaft lebten in
einer faktenfreien Welt. Ihnen sei egal, was die Tatsachen sind.
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Das Online-Tool Twitteraudit hat berechnet, von den 12,4 Millionen Followern von
Donald Trump auf Twitter waren 4,6 Millionen Fake-Accounts. Darunter befanden
sich viele Programme, die automatisch Content generieren und sog. Tweets
absetzen; wie gesagt: automatisch, ohne dass ein leibhaftiger Mensch die Finger im
Spiel hat. Das ist nur eine der vielen technischen Möglichkeiten der
Meinungsbeeinflussung unter Umgehung der traditionellen Massenmedien. Im
Übrigen: rund die Hälfte der Amerikaner bezieht ihre Nachrichten aus Facebook.
Eingesetzt wurden zudem sog. Wahl-Bots. Das sind automatisierte Skripte in Form
von Algorithmus gesteuerten Computerprogrammen zu Propagandazwecken. Neu
daran ist, dass der Algorithmus den Redakteur ersetzt. Wie Bots wirken, ist noch
kaum untersucht. Experten halten sie in Deutschland für überschätzt. Aber schon die
Annahme, dass sie wirken, hat Folgen. Kaum verwunderlich, dass Bots inzwischen
zum Arsenal ausländischer Geheimdienste gehören
Der Wahlkampf in den USA hat noch einmal deutlich gemacht: Mit der
Vervielfachung von Informationsquellen und Internetangeboten leben nicht wenige in
ihrer eigenen Wirklichkeit. Sie versorgen sich mit Informationen, die ihr eigenes
Weltbild bestätigen; der berühmte Echokammer-Effekt, im Englischen als Filter
Bubble bezeichnet. Das hat Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit von Politik und
Medien. In Frage gestellt wird die eigentliche Aufgabe des Journalismus. Der sieht
sich seiner Gatekeeperrolle, seiner Schleusenwärterfunktion beraubt. Denn erst die
professionelle Recherche, die Auswahl und Gewichtung verbürgt die Richtigkeit und
Qualität von Informationen, weil auch die Aufzählung einseitig ausgewählter und
nicht gewichteter Fakten ein verzerrtes Bild der Wirklichkeit ergibt. Man kann auch
lügen, obwohl alle Fakten stimmen.
Soweit der Exkurs zum amerikanischen Wahlkampf; zweifelsohne ein
Experimentierfeld zum digitalen Strukturwandel von Öffentlichkeit. Inzwischen, also
nach dem Amtsantritt des 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten, wird über
rechtliche und politische Elementaria diskutiert: über Vertrags- und Bündnistreue,
über die Geltung von nationalem und internationalem Recht, über Verlässlichkeit und
schlicht über Vertrauen in die westliche Führungsmacht; interessanterweise auch viel
über Charakter und Moral; alles Elemente, die für politische Glaubwürdigkeit
elementar sind.
Gilt Amerika in vieler Hinsicht als Vorreiter, so sind die Verhältnisse in Deutschland
und Europa noch erkennbar andere. Nach wie vor haben wir in Deutschland eine im
Vergleich zu Amerika durchaus noch plurale Medienlandschaft. Deren
Leistungsfähigkeit ist besser als ihr Ruf. Demoskopische Befunde zur
Glaubwürdigkeit der Medien in Deutschland zeichnen durchaus kein dramatisches
Bild. Das betrifft die Einstellungen zur Elitepresse, zur Berichterstattung öffentlichrechtlicher Sender und die Wertschätzung der Regionalzeitungen.
Postfaktische Tendenzen gibt es gleichwohl auch hierzulande. Dazu ein sehr
schlichtes Beispiel, das zunächst völlig unpolitisch daherkommt und zeigt, wie etwas
Dank der Sozialen Medien zum Politikum werden kann: Der Fall Lisa. Die Geschichte
ist in Wikipedia bereits detailliert dokumentiert. Was war geschehen? Eine 13-jährige
Russlanddeutsche Lisa F. aus Berlin-Marzahn verschwindet auf dem Weg zur
Schule, wird vermisst und taucht am folgenden Tag wieder auf. Sie berichtet
zunächst, von drei Unbekannten verschleppt, in einer Wohnung festgehalten und
vergewaltigt worden zu sein. Bei den Entführern handle es sich um „Südländer“. Die
Polizei ermittelt, überführt das Mädchen der Lüge. Ihre Handy-Daten ergeben, dass
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sie bei einem Freund übernachtet hat. Alles eigentlich kein politisches Thema!
Derweil hat eine unbedeutende Website für in Deutschland lebende Russen und
Russlanddeutsche den Fall aufgegriffen. Russische Staatsmedien übernehmen die
Falschmeldung mit der erfundenen Vergewaltigung und der russische
Propagandaapparat macht daraus eine Staatsaffäre. Lawrow, der russische
Außenminister, beschuldigt die deutschen Behörden, Deutschland könne die
Sicherheit der russischen „Landsleute“ nicht gewährleisten. Scharfe Reaktion der
Bundesregierung. Die Flüchtlingskrise hat die Gemüter aufgewühlt und
Landtagswahlen stehen an. Es gibt Demonstrationen in verschiedenen Städten, vor
allem von Russlanddeutschen – auch vor dem Kanzleramt. Die medial angetriebene
Erregungsmaschine läuft auf vollen Touren.
Sind Falschinformationen erst einmal in der Online-Welt, mutiert der Schwindel, der
„Fake“, zur Wahrheit für diejenigen, die sich ihre Bestätigung in den Foren
Gleichgesinnter suchen. Schnell wird dann das Internet, dieser grenzenlose und
weithin unregulierte Selbstbedienungsladen zu einem empörungsdemokratischen
Universalmedium. Das bietet Raum für Information und Desinformation, für Wissen
und Nichtwissen-Wollen. Der Schweizer Physiker und Philosoph Eduard Kaeser
spricht in diesem Zusammenhang von einer "Demokratie der
Nichtwissenwollengesellschaft", die als Folge der Informationsflut in der digitalen
Welt zentrale Standards wie Objektivität und Wahrheit auswäscht. Anstehende
Wahlen in den Niederlanden, in Frankreich und in Deutschland werden zeigen, wie
weit bisher gültige Standards auch in den europäischen Demokratien ausgewaschen
werden.
Vergleiche hinken bekanntlich. Dennoch drängt sich eine Parallele auf: So wie die
Kirchen ihr Wahrheitsmonopol verloren haben, so haben die traditionellen Medien
keine Monopolstellung mehr in Sachen Informationsvermittlung und
Meinungsbildung. Mehr denn je ist alles, aber auch alles deutungsabhängig – von
Ideologien, von Denkstilen und Symbolen, von Sehweisen und Stimmungen. Und
dafür stellt die multimediale Welt vielfältige Resonanzräume zur Verfügung, auf
Wunsch auch zur Bestätigung der eigenen Vorurteile. Gewachsen sind nicht nur die
Chancen zu Information und Aufklärung. Gewachsen sind auch die Chancen zu
täuschen und getäuscht zu werden bis hin zur ungenierten Deklarierung
offensichtlicher Lügen als alternative Fakten. Alternative facts, das war die
Wortschöpfung einer Sprecherin des amerikanischen Präsidenten bei dem Versuch,
den Publikumszuspruch bei Trumps Inauguration hochzulügen.
Die gar nicht mehr so „neue Unübersichtlichkeit“ (Habermas) in Politik und Medien
deutet auf politisch-tektonische Verschiebungen hin. Das betrifft im Kern, was der
Historiker Heinrich August Winkler als das „normative Projekt des Westens“
bezeichnet: Volkssouveränität, parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung,
Gewaltenkontrolle, Rechtsstaatlichkeit und all die mit 1776 und 1789 verbundenen
Freiheitsideen, darunter vor allem die Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit.
All dies scheint keineswegs mehr ganz selbstverständlich im Wertehorizont der euroatlantischen Welt verankert – trotz aller Sonntagsrhetorik. Zu beobachten ist eine
Berlusconisierung von Politik und Medien; eine Berlusconisierung mit frondeurhaften,
mit aufrührerischen und autoritären Zügen. Die gibt es in der russischen oder
türkischen, der ungarischen oder amerikanischen Variante und demnächst dann
hoffentlich nicht auch noch in französischer und niederländischer Ausgabe. Der
Umgang mit den Medien ist dafür ein wichtiger Prüfstein.
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Die Liste der Einschränkungen von Presse- und Meinungsfreiheit auch in der
westlichen Welt ist lang. Die internationale Rangliste zur Pressefreiheit vermerkt
Abstiege auch in der Europäischen Union. Besonders gravierend im Falle von
Bulgarien, Polen, Kroatien, Ungarn und selbst bei Frankreich. Diese Länder liegen
zwischen Platz 45 (FR) und Platz 113 (BG). Auch Deutschland hat 4 Punkte verloren
und landet auf dem 16. Rang. Die „Erosion der europäischen Vorreiterrolle bei der
Pressefreiheit“ habe sich fortgesetzt, heißt es denn auch im 2016er-Bericht von
Reporter ohne Grenzen.
Das hat weniger mit strukturellen Entwicklungen auf dem Medienmarkt, mit den
Konzentrationsprozessen, den redaktionellen Umstrukturierungen, den neuen
Geschäftsmodellen global operierender Unternehmen, den digitalen Plattformen
u.a.m. zu tun. Vielmehr ist es staatliche Gängelung, bis hin zu einer die
Pressefreiheit einschränkenden Gesetzgebung – wohl gemerkt auch in
demokratischen Ländern. Man denke an die Anstrengungen der polnischen
Regierung, die Eigenständigkeit der öffentlich-rechtlichen Medien zu beschneiden
und private Medien zu „repolonisieren“ oder an die politisch motivierten
Massenentlassungen von Journalisten der öffentlich-rechtlichen Medien in Ungarn.
Das ist der politische Druck von oben.
Druck gibt es hierzulande von unten, Stichwort „Lügenpresse“. Damit geben
radikalisierte Minderheiten ihrem generellen Misstrauen gegenüber Medien und
Politik Ausdruck. Bekanntlich ist „Lügenpresse“ ein Begriff, der im 19. Jahrhundert
gegen die bürgerlich-liberale Presse gerichtet war und nach dem Ersten Weltkrieg
von den Nazis für antisemitische Verschwörungstheorien und zur Diffamierung der
Kriegsgegner gebraucht wurde. – Dass in der Berichterstattung über die Kölner
Silvesternacht wie überhaupt beim Thema Flüchtlinge journalistisch-handwerkliche
Fehler gemacht wurden, dass man im Willkommensklima Sorgen, Kritik und Ängste
nicht immer ernst genommen hat, weil man fremdenfeindlichen Ressentiments nicht
in die Hände spielen wollte und dass seriöse Berichterstattung bisweilen mit
Fürsorge verwechselt wurde, das wird selbstkritisch diskutiert und ist inzwischen
empirisch gut belegt. All dies rechtfertigt jedoch nicht die Unterstellung, es gebe eine
Lügenpresse nach Art einer medial und politisch synchronisierten
Realitätstäuschung.
Die aufgeregte Debatte um die politische Berichterstattung, sollte nicht davon
ablenken, dass wir es mit fundamentalen Veränderungen zu tun haben; mit einem
digitalen Strukturwandel von Öffentlichkeit; einem längeren Prozess, mit dem sich
auch die Legitimationsbedingungen für demokratische Herrschaft ändern können und
ändern werden.
Wird die Digitalisierung die Politik in einen neuen Aggregatzustand verwandeln?
Führt der Weg in eine Art Demokratie 4.0? Befördern Internet, Social Media und die
ganze schöne neue Medienwelt eine positive Entwicklung von Gesellschaft und
Demokratie oder wirken sie eher destruktiv? Auf diese Fragen gibt es derzeit keine
allgemeingültigen Antworten. Wir können den Transformationsprozess in seinen
Folgen nicht – jedenfalls noch nicht – umfassend abschätzen. Das wird auch so
bleiben. Die wissenschaftliche Erforschung von gesellschaftlichen und politischen
Wirkungen hält mit den technologischen Innovationsschüben kaum Schritt.
Vermutlich müssen wir uns auf eine längere Phase evolutionärer Entwicklung mit
allseitigen Anpassungs- und Lernprozessen einstellen. Der internationale Vergleich
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zeigt allerdings, dass der Wandel nicht allein Technik determiniert ist, sondern auch
von institutionellen und politisch-kulturellen Faktoren abhängt; von einer wachen
Öffentlichkeit und nicht zuletzt von der politischen Entschlossenheit, dem scheinbar
Unregelbaren Regeln zu geben und Schranken zu setzen.
Von einer Epochenwende zu sprechen, ist jedenfalls nicht zu hoch gegriffen. Die
Phase, in der das Hochgeschwindigkeitsmedium Internet allzu schlichte
Vorstellungen von individueller Autonomie und Demokratisierung beflügelt hat, dürfte
vorbei sein. Es ist nicht zu übersehen, dass die „Kultur der Digitalität“ (Stadler)
anderen Gesetzen folgt als die herkömmliche „Kultur“ der Politik. Insofern wäre es
naiv zu meinen, der mediale Dauerbeschuss mit Tweets und Postings und die damit
verbundenen Reiz-Reaktions-Erwartungen hätten keine Folgen für demokratische
Willensbildung und Entscheidungsfindung sowie für die Praxis medienöffentlicher
Politikvermittlung.
Vielleicht liegt in dem Zusammenhang von „Beschleunigung und Entfremdung“
(Rosa) die größte Herausforderung für die Zukunft von Gesellschaft und Demokratie.
Deshalb verdient die Warnung vor einer „tiefgreifende(n) Desynchronisation
zwischen der Sphäre der Politik und der technologisch-ökonomischen Welt“ (Rosa)
ernst genommen zu werden.
Angesichts der skizzierten Entwicklungen einen Kommunikations- oder gar den
Demokratieinfarkt zu prognostizieren, schafft vielleicht kurzfristig Aufmerksamkeit.
Als Problemdiagnose ist solcher Alarmismus aber so wenig angemessen wie die
fatalistische Beschwörung postfaktischer Zeiten. Ebenso wenig helfen monokausale
Erklärungen und handliche politische Kochrezepte weiter.
Natürlich gibt es keinen Ausstieg mehr aus der digitalen Welt. Es sei denn, man zieht
sich in eine privatistische Nische zurück. Die klassische Mediendemokratie hat im
digitalen Zeitalter Konkurrenz bekommen. Das muss nicht zwangsläufig zu einer Art
Erregungsdemokratie führen. Um dies zu verhindern, bedarf es mehr denn je eines
professionellen, Recherche bewussten Journalismus, der sich nicht auf die
Bewirtschaftung von Aufmerksamkeit kapriziert, sondern mit geprüften Informationen
Öffentlichkeit herstellt, zur Aufklärung des Publikums beiträgt und damit der
demokratischen Meinungsbildung Raum schafft.
Es geht um die „offene Gesellschaft“ (Popper), um den Erhalt und die
Weiterentwicklung liberaler Verfassungsstaatlichkeit nicht gegen, sondern in und mit
der neuen Medienwelt. Es geht um Prinzipien und Verfahren freiheitlicher Ordnung,
um universelle Werte statt um eine verengte Weltsicht, die dem Dogma des
Homogenen und Völkischen das Wort redet. All dies gehört zum Glutkern der
Demokratie, den es mit glaubwürdigen Medien und mit einer glaubwürdigen Politik
offensiv zu verteidigen gilt.
Noch kommen die Angriffe auf die offene Gesellschaft von Minderheiten, die
vorgeben „das Volk“ zu sein. Alexis de Tocqueville, der Adlige aus dem Ancièn
Régime Frankreichs hat in seinen Betrachtungen „Über die Demokratie in Amerika“
vor der „Tyrannei der Mehrheit“ (Tocqueville) gewarnt. Das war im Jahr 1835 aktuell
und gilt heute auch noch. Im Blick auf die Gegenwart ist die Warnung vor der
‚Tyrannei der Minderheit‘ allerdings nicht weniger angebracht; einer lautstarken
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Minderheit, die dem Kult der Unmittelbarkeit huldigt – ohne den mühsamen Prozess
des Interessenausgleich im Wege parlamentarischer Repräsentation.
Die Demokratie aber verlangt mehr als Postings, Klicks und Likes und sie ist allemal
anspruchsvoller als die allzu schlichten Vorstellungen von einer „digitalen Polis“ (de
Saint Victor).
*****
Prof. em. Dr. Ulrich Sarcinelli, Jahrgang 1946, studierte Lehramt an Grund- und
Hauptschulen, absolvierte das 1. und 2. Staatsexamen, dann den Schuldienst von
1971 - 1975; es folgte ein Zweitstudium (gleichzeitig Wissenschaftlicher Mitarbeiter
an der EWH, Abt. Koblenz) der Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft, Soziologie
und Pädagogik, Magister Artium (M. A.) an der Universität Mainz 1977; dort auch
Promotion zum Dr. phil. 1978/79, Habilitation (1984) an der Universität KoblenzLandau, Abteilung Koblenz über "Symbolische Politik" 1988 - 1995 Professor für
Politikwissenschaft an der Universität Kiel sowie an der Pädagogischen Hochschule
Kiel. Seit WS 1995/96 ist Sarcinelli Professor für Politikwissenschaft an der
Universität Koblenz-Landau, Abt. Landau. 2002 Gastprofessur am Institut für
Publizistikwissenschaft und Medienforschung (IPMZ) der Universität Zürich/Schweiz.
2008 Wahl zum Vizepräsidenten der Universität.
Internetseite:
www.uni-koblenz-landau.de/de/landau/fb6/sowi/pw/abteilung/politische-systembrd/team/sarcinelli
Bücher (Auswahl):
- Politische Kommunikation in Deutschland. Zur Politikvermittlung im demokratischen
System (= Lehrbuch). VS Verlag für Sozialwissenschaften: Wiesbaden (3.,
erw. und überarb. Aufl.) 2011.
- Politik und Persönlichkeit. Fakultas Verlags- und Buchhandels AG. (Hrsg. und Autor
zus. mit Johannes Pollak, Fritz Sager, Annette Zimmer). 2008.
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