Angst beherrscht man nicht, ohne Furcht zu kennen

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Natur und Wissenschaft
F R A N K F U RT E R A L LG E M E I N E Z E I T U N G
rapie zeigt sich in der relativ hohen Rückfallrate. Rückfälle erklären sich vor allem
daraus, dass die Therapie – wie für die Extinktion von Furcht beschrieben – einen
Prozess des Umlernens bewirkt, ohne
dass das Furchtgedächtnis gelöscht wird.
Das Extinktionsgedächtnis ist an denjenigen Kontext gebunden, in dem das Umlernen erfolgte. Dies erklärt, warum sich bei
verblassender Erinnerung an diesen Kontext das Rückfallrisiko erhöht. In dieser
Problematik bietet die in den vergangenen Jahren erreichte Detailkenntnis der
neuronalen Furchtmatrix und ihrer kognitiven Komponenten ein wertvolles Potential für Vorhersagen von Therapien. Ein
Beispiel ist D-Cycloserin, ein Modulator
an einem lernrelevanten Rezeptor des
Transmitters Glutamat.
Die Applikation dieser Substanz bewirkt eine Dämpfung von Furchtantworten, allerdings nur in Verbindung mit einem Training zur Extinktion von Furcht.
Nur zwei Jahre nach Beschreibung der
tierexperimentellen Befunde wurde die
erfolgreiche klinische Anwendung unter
Beweis gestellt. Der oft schwierige Schritt
vom Tierexperiment zur klinischen Anwendung wurde hier durch die bereits etablierte Verwendung von D-Cycloserin als
Antituberkulosemittel erleichtert. Weitere Beispiele einer erfolgreichen Translation von Grundlagenergebnissen in die Anwendung stellen Beta-Blocker und
L-Dopa dar. Eine Behandlung mit
L-Dopa, das auch bei der Parkinson-Erkrankung angewendet wird, grenzt kontextabhängige Rückfälle des Furchtgedächtnisses ein. Beta-Blocker wirken am
ß-Rezeptor der Transmitter Noradrenalin
und Adrenalin finden in der Behandlung
von Bluthochdruck Anwendung. In der
Furchtmatrix beeinträchtigt diese Wirkung die Stabilisierung des Furchtgedächtnisses, mit der Folge der „Löschung“ ohne Rückfallrisiko. Dabei wird
die faktische Erinnerung an das kritische
Erlebnis nicht beeinträchtigt – ein wichtiger Befund, der die Existenz spezifischer
Schaltkreise des Gehirns für faktische
und emotionale Komponenten des Gedächtnisses verdeutlicht und die Möglichkeit eines gezielten Eingriffs andeutet.
Festzustellen ist, dass diese Studien in gesunden Probanden durchgeführt wurden
und der Nachweis ihrer Wirksamkeit in
Angstpatienten noch aussteht.
Angst beherrscht
man nicht, ohne
Furcht zu kennen
Wo viel Gefühl ist, da ist auch viel Leid. Nirgends
gilt Leonardo da Vincis Wort so unmittelbar wie bei
der konkreten Furcht und der diffusen Angst. Die
Hirnforschung ist den Wurzeln dieser Emotionen
immer näher gerückt. Doch die Befunde sind so
unvollendet wie die Therapien. Vor allem wenn es
um die Kontrolle über unsere Ängste geht, stehen
wir noch am Anfang. Von Hans-Christian Pape
reude und Traurigkeit, Liebe
und Hass, Wut und Angst gehören zu den Grundgefühlen, die
das Wesen jeder menschlichen
Existenz bestimmen. Derartige
Gefühle oder Emotionen üben einen starken Einfluss auf unser Verhalten aus, sie
sind interessant und wichtig. Doch was genau ist eine Emotion oder ein Gefühl?
Können physiologische oder neurobiologische Grundlagen identifiziert werden?
Wie kommt es zu einer wenig kontrollierbaren Emotion, unter Umständen gar zu
einer psychischen Störung?
Bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mehrten sich Hinweise, dass an
Emotionen spezialisierte Schaltkreise des
Gehirns beteiligt sind, die in der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Säugetiere weitgehend erhalten blieben. Allerdings litt das Thema Emotion jahrzehntelang unter dem Vorwurf der Subjektivität,
insofern als die Mehrzahl der wissenschaftlichen Ansätze nur unzureichend
zwischen den Reaktionen unterschied,
die auftreten, wenn unser Gehirn für unser Leben oder Wohlergehen bedeutsame
Reize detektiert (unserer Emotion), und
den Prozessen der bewussten Wahrnehmung dieser Vorgänge (unserem Gefühl).
Eine konzeptuelle Trennung, die zum Beispiel die Kognitionswissenschaft von Anfang an vollzog. Auch waren trotz zunehmender Zahl untersuchter emotionaler
Leistungen die zugrundeliegenden neurobiologischen Prinzipien kaum ableitbar.
Einen Paradigmenwechsel markiert die
Fokussierung auf das sogenannte „Furchtsystem“ im abklingenden 20. Jahrhundert, als mit der Operationalisierung von
Furcht diese Emotion systematisch experimentell fassbar wurde.
F
Operationalisierung
von Furcht – ein Erfolgsmodell
Im täglichen Sprachgebrauch wird oft
nicht zwischen Furcht und Angst unterschieden, obwohl es sich um zwei Entitäten handelt. Angst ist ein unbestimmtes
Gefühl der Beklemmung oder Besorgnis,
ausgehend von wenig spezifizierbaren
Einflüssen, die als potentiell bedrohlich
wahrgenommen werden. Furcht hingegen
wird durch konkrete Reize, Objekte oder
Situationen, ausgelöst und resultiert in einer Furcht- oder Alarmreaktion. Demzufolge wurden Studien entwickelt, die sich
neben Äußerungen über den (subjektiv
empfundenen) Gemütszustand auf die
Messung quantifizierbarer Größen kaprizierten. Steigerung von Blutdruck und
Atemfrequenz, Freisetzung von Stresshormonen, Kampf oder Flucht sind bekannte
Beispiele. Aus biologischer Sicht sind diese Reaktionen wichtige Komponenten unANZEIGE
N AT U R U N D
WISSENSCHAFT ONLINE.
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PRO JAHR
seres Verhaltens: Sie schützen uns vor Einflüssen, die unangenehm oder sogar
schädlich sind. So lernt jeder durch Beobachtung, Instruktion oder schmerzvolle
Erfahrung, bestimmte Verhaltensweisen
zu vermeiden, aus Angst davor, verletzt
zu werden. Der stammesgeschichtlich
alte Ursprung dieser Reaktionen und deren positive Selektion im Verlauf der Evolution sind leicht nachvollziehbar: Individuen, die in einer gefährlichen Umwelt
furchtsam reagieren, überleben besser. So
ist der bei uns negativ konnotierte Angsthase in der chinesischen Mythologie das
Sinnbild der Langlebigkeit. Oder andersherum: Die Mutigen sterben zuerst.
Aus
wissenschaftlich-konzeptueller
Sicht erwies sich die stammesgeschichtliche Konservierung dieser Reaktionen in
Säugetieren, einschließlich des Menschen, als Vorteil. Zum einen werden speziesübergreifende Ansätze und Interpretationen erleichtert und damit die Prinzipien deutlich, die diese Emotion begründen. Zum anderen können Teilergebnis-
se, die auf den verschiedenen Ebenen der
wissenschaftlichen Analyse erzielt werden, verknüpft und daraus Kenntnisse
der Systemzusammenhänge („vom Molekül zum Verhalten“) entwickelt werden,
wobei die konzeptuelle Verbindung der
Ebenen eine fortwährende Herausforderung darstellt und nicht immer gelingt.
Individuelle Unterschiede von Furcht
und Angst resultieren aus einem Wechselspiel zwischen genetischer Veranlagung,
autobiographischen Spezifika und neurobiologischen Prozessen. Dabei können extreme Erfahrungen exzessive Reaktionen
zur Folge haben. Die Erfahrung eines gewalttätigen Angriffs oder eines schweren
Unfalls kann zu einer Posttraumatischen
Belastungsstörung (PTBS) führen, verbunden mit Phasen des Wiedererlebens des
problematischen Ereignisses und Gefühlen extremer Angst. Andere Beispiele sind
Phobien und Panikstörungen, die durch
Vermeidung bestimmter Situationen oder
Objekte beziehungsweise plötzliche Attacken intensiver Angst gekennzeichnet
sind. Für den Betroffenen sind diese Zustände kaum erträglich, für den Außenstehenden sind sie kaum erklärlich.
Die Zahl Angsterkrankter ist besorgniserregend. Die Wahrscheinlichkeit, im Verlaufe des Lebens an einer Angststörung
zu erkranken, liegt bei etwa zwanzig Prozent. Der durchschnittliche Beginn der Erkrankung liegt bei elf Jahren. Damit zählen Angsterkrankungen nicht nur zu den
häufigsten psychischen Störungen, sondern auch zu denjenigen mit frühestem
Krankheitsbeginn. Die Krankheit führt
zu erheblichen Beeinträchtigungen von
Lebensqualität, Lernvermögen, Arbeitsund Berufstätigkeit. Aus klinischer Sicht
ist die Entwicklung von verbesserten Therapien und Maßnahmen zur Vorbeugung
von herausragender Bedeutung. Aus wissenschaftlicher Sicht ist die Aufklärung
des Wechselspiels von Genen, Umwelt
und neurobiologischen Prozessen die entscheidende Grundlage.
In der Domäne Furcht zeigt sich ein hohes Maß an Homologie beteiligter Hirnregionen im Menschen und in verschiedenen Säugetierspezies, insbesondere in
den gutuntersuchten Nagetieren. Dieser
Hinweis ist in Anbetracht der stammesgeschichtlichen Konservierung dieser Reaktionen nicht überraschend. Er unterstreicht andererseits den Wert artübergreifender Ansätze. So kartieren Methoden der nichtinvasiven Bildgebung im
menschlichen Gehirn die großen Organisationseinheiten und Verbindungen. Sie
zeigen, dass eine Trias von Hirnregionen
unsere Furchtreaktionen reguliert. Der
Mandelkern (Amygdala) ist von zentraler
Bedeutung für die emotionalen Komponenten unserer Erinnerung an ein unangenehmes Ereignis, das sogenannte
Furchtgedächtnis. Der Hippocampus steuert komplexe Informationen über den
Kontext bei, in dem das Ereignis stattfindet. Der Präfrontalcortex fungiert als
eine Art übergeordnete Instanz, die das
Ereignis bewertet, mit Erfahrungswerten
abstimmt und gegebenenfalls ein Umlernen vermittelt, wodurch das Furchtgedächtnis aktiv unterdrückt werden kann.
Dieser Prozess wird als Extinktion von
Furcht bezeichnet. Aus dem gemeinsamen Beitrag dieser Regionen resultiert
die individuelle Ausprägung einer Furchtreaktion. Allerdings fungieren die genannten Regionen nicht als Entitäten – eine
Einsicht, die mit modernen hochauflösenden Analysen in tierexperimentellen Ansätzen erreicht wurde. Methoden der
Elektrophysiologie und Optogenetik erlauben heute die Registrierung der Aktivität einzelner Nervenzellen (Neuronen)
und deren Bedeutung für Furchtreaktionen. Die Ergebnisse dokumentieren eine
unerwartet hohe Diversität von Neuronen, ihrer Botenstoffe (Transmitter) und
ihrer Kontakte (Synapsen), mit zum Teil
hoher funktioneller Spezialisierung. So
wurden „Furchtneuronen“ und „Extinktionsneuronen“ identifiziert. Diese Neuronen bilden räumlich verteilte Netzwerke
in den relevanten Hirnregionen. Die Zusammensetzung dieser Ensembles variiert funktionsabhängig, und die Einbindung der einzelnen Mitglieder erfolgt
durch die zeitlich-rhythmische Taktung ihrer elektrischen Aktivität.
Die neuronale Furchtmatrix besteht
demzufolge aus zeitlich getakteten Aktivitätsmustern räumlich verteilter Neuronen im Gehirn, wobei die genannte Trias
von Regionen zwar notwendige, aber
nicht alle Knotenpunkte der Netzwerke
darstellt. Kritisch wird es, wenn diese
Hirnregionen fehlreguliert werden. Zum
Gibt es künftig die
personalisierte Furchttherapie?
Zwei Hirnboten aus dem Furchtkomplex: Kristallisiertes Adrenalin (oben) und Noradrenalin unter dem Mikroskop
Beispiel zeigen Traumapatienten hyperaktive Antworten der Amygdala bei gleichzeitig reduzierter Aktivität im Präfrontalcortex. Die hieraus resultierende Dysbalance der Hirntrias geht mit extremen
Furchtreaktionen einher. Während klinische Befunde demzufolge „hot spots“ der
Erkrankung im Gehirn auf makroskopischer Ebene anzeigen, weisen neurobiologische Erkenntnisse auf kleinere pathophysiologische Einheiten im Bereich der
involvierten Netzwerke hin. Sie zeigen
zum einen Veränderungen in erregenden
und hemmenden Botensystemen, die
Furcht- und Extinktionsneurone kontrollieren, zum anderen charakteristisch veränderte Zeitstrukturen der Aktivität neuronaler Ensembles der Furchtmatrix. Mit
derartig verbesserter Detailkenntnis gelingt es zunehmend, die pathophysiologischen Einzelbefunde in die klinisch identifizierten „hot spots“ im Gehirn zu integrieren und damit ein wertvolles Potential für Vorhersagen einer gezielten therapeutischen Intervention zu schaffen.
Erbe und Umwelt –
vom Genom zur Ursache?
Angsterkrankungen entstehen durch das
komplexe Zusammenwirken von genetischen Faktoren und Faktoren der Umwelt. Genomweite Assoziationsstudien
haben risikoerhöhende genetische Faktoren identifiziert. Vielversprechende Kandidaten sind Gene der Signalwege und
Transmittersysteme der neuronalen
Furchtmatrix. Dabei wäre es naiv, anzunehmen, dass die Veränderung eines einzelnen genetischen Faktors oder eine
Handvoll Gene die Ursachen der Krankheit erklärt. Vielmehr scheint sich der
Verhaltensphänotyp – gesund oder
krank – durch die Akkumulation kleiner
Effekte aus zahlreichen Variablen zu manifestieren. Diese Wechselwirkungen
und das Zusammenspiel mit risikoerhöhenden Lebensereignissen sind allenfalls im Ansatz verstanden. Dabei können kritische Lebensereignisse sowohl in
frühen Phasen der Entwicklung als auch
in späteren Lebensphasen das Erkrankungsrisiko erhöhen.
Wichtig sind dabei die Stresshormone
(etwa Kortisol) und deren Einfluss auf
die neuronale Furchtmatrix. Eine extreme Stressexposition kann die Transmitterbalance beeinflussen, mit der Folge verän-
derter Teilfunktionen in Amygdala sowie
Präfrontalcortex und den Konsequenzen
einer verschlechterten Furchtkontrolle.
Zum Beispiel wurde ein interaktiver Effekt zwischen belastenden Lebensereignissen und einer Genvariante des Transporters für den Botenstoff Serotonin mit
Bedeutung für die Entstehung von Angsterkrankungen im Menschen gefunden
und in nichthumanen Primaten und Nagetieren bestätigt.
Trotz solcher vielversprechender Befunde ist zu konstatieren, dass die bislang
identifizierten Faktoren den Anteil der
Vererbung, der bei 30 bis 60 Prozent liegt,
nur zu wenigen Prozentpunkten erklären
können. Diese Nachweislücke wird in Teilen der Existenz epigenetischer Prozesse
zugeschrieben. Derartige Prozesse wirken direkt an der Schnittstelle von Genen
und Umwelt, indem sie die Aktivität von
Genen oder ganzen Chromosomenabschnitten in Folge von Umwelteinflüssen
verändern. Die Aufklärung dieser Mechanismen bei der Entstehung von komplexgenetischen Erkrankungen ist eine der faszinierenden Aufgaben der Grundlagenforschung. Insgesamt bleibt festzuhalten,
dass die aktuell vorliegenden genetischen
Befunde zu Angsterkrankungen punktu-
Fotos Heinz G. Beer
ell sind. Ihr diagnostischer Wert ist gering, ebenso wie die Möglichkeit, krankhaft ängstliches Verhalten vorhersagen
zu können.
Die Therapie der Wahl bei Angsterkrankungen enthält die Applikation von
Pharmaka mit angstlösender (anxiolytischer) beziehungsweise antidepressiver
Wirkung. Beispiele sind Benzodiazepine
oder selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Diese Substanzen wirken
über die Transmittersysteme: Aminobuttersäure und Serotonin. Sie sind Teil der
Furchtmatrix des Gehirns, allerdings oft
nicht mit der notwendigen Spezifität und
Wirksamkeit – etwa 30 Prozent der Patienten sprechen auf die initiale Therapie
nicht an. Zahlreiche Angststörungen –
Phobien, Panikstörung, PTBS – sind mit
übermäßigen Furchtreaktionen verbunden, deren Symptomatik mit erfahrungsabhängigen Prozessen verwoben ist. Kognitive Verhaltenstherapien setzen auf
Prozesse des Wahrnehmens, der Erkenntnis und des Bewertens. In der Expositionstherapie wird der Patient nach kognitiver
Vorbereitung wiederholt mit den furchtauslösenden Stimuli und Erinnerungen
konfrontiert, mit dem Ziel einer Neubewertung. Ein Problem der Expositionsthe-
Prof. Dr. Hans-Christian Pape
Die Vortragsreihe
Der Autor ist seit
2004 Professor für
Physiologie an der
Medizinischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er
ist Mitglied des Wissenschaftsrats und
der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, und er war als
Senator der Deutschen Forschungsgemeinschaft tätig. Nach dem Studium
in Bochum führten Forschungstätigkeiten ihn nach New York, Stanford
und Yale. Seine Forschungsinteressen
sind Furcht, Angst und Angsterkrankungen, die er in einem Sonderforschungsbereich als Sprecher vertritt.
Die Erwartungen an die Neurowissenschaften, aber auch die Versprechungen der Hirnforschung selbst sind
hoch. Aber was kann sie wirklich? In
dieser Artikelserie stellen wir die Frage nach Erfolgen und Möglichkeiten,
aber auch Rückschlägen und Grenzen
der modernen Neurowissenschaften in
gesellschaftlich interessierenden Bereichen. Basierend auf einer Vortragsreihe, die in Frankfurt von der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung als größtem
privaten Förderer der Hirnforschung
organisiert wird, publizieren wir in losen Abständen Beiträge führender
Hirnforscher zu den Themen Sprache,
Technik, Wirtschaft, Krankheit, Kunst,
Denken, Musik, Bewusstsein, Gefühle,
Schule, Gedächtnis und Psyche.
Eine Initiative der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Trotzdem sind diese Ergebnisse ermutigend, zumal sie auf die Verwendung klinisch etablierter Substanzen zurückgehen. Sie zeigen zudem die Bedeutung
kombinierter, über die Einzelebene hinausgehender Behandlungsstrategien –
eine in Anbetracht der Komplexität der
Erkrankungen nachvollziehbare Schlussfolgerung. Jüngst zeigen auch Methoden
zur Manipulation der Aktivität der neuronalen Furchtmatrix, zum Beispiel durch
Tiefenhirnstimulation oder transkranielle Magnetstimulation, erste Erfolge. Festzuhalten bleibt, dass die hier beschriebenen Konzepte vorwiegend aus Modellen
von Angststörungen und einem Spektrum
von Krankheiten resultieren, die furchtbezogene Symptome beinhalten. In Zukunft
werden diese Konzepte auf breiter Basis
zu prüfen sein. Dabei wird auch zu klären
sein, inwieweit genetische Profile hinsichtlich des Ansprechens der anxiolytischen Therapie einbezogen und damit
eine individuell angepasste Behandlungsstrategie mit rascherem Behandlungserfolg angestrebt werden kann. Die strikte
Wahrung der Grundsätze von Ethik, Vertraulichkeit und Datenschutz ist hierbei
unabdingbar.
Der Hirnforschung ist es in den vergangenen Dekaden also gelungen, wichtige
Prinzipien der Furchtmatrix im Gehirn sowie Mechanismen einzelner Gen-Umwelt-Interaktionen zu charakterisieren.
Die Therapieentwicklungen sind ermutigend. Trotz dieser Erfolge ist zu konstatieren, dass unser heutiges Verständnis zum
überwiegenden Teil auf reduktionistischen Modellen basiert, die den Begriff
Furcht auf die bewusste Erfahrung der
Konfrontation mit einer Bedrohung reduzieren. Wenig verstanden bleiben die Prozesse, die verschiedene Arten der Furcht
(vor der Spinne, dem öffentlichen Vortrag, der Fahrt mit der U-Bahn, der Panikattacke, dem Tod), die Einbeziehung reflexiver und kognitiver Komponenten sowie schlussendlich das subjektive Gefühl
Angst bestimmen. Hier wirken Funktionskreise unseres Gehirns und Teilsysteme
unseres Organismus zusammen – einschließlich Furchtmatrix, Aufmerksamkeitssystemen, Systemen der Homöostase, des Gedächtnisses und der Prädiktion.
Sie können nicht als ein integriertes System verstanden werden, sondern als eine
Ansammlung vieler Subsysteme mit Interaktionen in wechselnden Kombinationen
und Aktivitäten, in Abhängigkeit zum Beispiel von der individuellen Situation und
der individuell verfolgten Strategie. Deren Kombinatorik zu erfassen, dabei
nicht nur das Prinzip der Funktionen, sondern auch die Mechanismen von Variabilität und Individualität zu charakterisieren,
wird eine der dringenden Aufgaben der
Hirnforschung sein.
Es kommt immer mehr darauf an, einzelne Module in den Netzwerken zu verstehen und deren Bedeutung im System
zu erfassen. In der Domäne Furcht, einer
den Ursprung aller Phänotypen von
Angst und Angststörungen markierenden
Emotion, besteht eine realistische Chance, diese systemischen Ansätze zu vollziehen und psychiatrische Syndrome innerhalb der Gruppe psychischer Störungen
als eine der ersten auf einer mechanistischen Ebene zu erklären. Hieraus ergeben sich vielversprechende Perspektiven
für frühe therapeutische Intervention und
gezieltere Maßnahmen der Prävention.