DIENSTAG, 19. JULI 2016 KUNDENSERVICE 0 8 0 0 / 9 3 5 8 5 3 7 ** D 2,50 E URO V INTERVIEWS SPORT Ilie Nastase: Lasst die Tennisprofis doch wieder fluchen Seite 19 POLITIK Katja Suding: So kommt die FDP zurück in den Bundestag Seite 6 POLITIK Woody Allen: USA zahlen immer noch den Preis für die Sklaverei Seite 8 PANORAMA Flirtexperte Kai Dröge: In Algorithmen allein verliebt sich niemand Seite 23 DAX Kaum verändert Seite 15 Dax Schluss Euro EZB-Kurs Dow Jones 17.40 Uhr 10.063,13 1,1053 18.547,50 Punkte US-$ Punkte –0,04% ↘ –0,67% ↘ +0,17% ↗ ANZEIGE Super Pit – Australiens größte Goldmine Heute um 21.05 Uhr Wir twittern Diskutieren live aus dem Sie mit uns Newsroom: auf Facebook: twitter.com/welt facebook.com/welt „Die Welt“ digital Lesen Sie „Die Welt“ digital auf allen Kanälen – mit der „Welt“-App auf dem Smartphone oder Tablet. Attraktive Angebote finden Sie auf welt.de/digital oder auch mit den neuesten Tablets auf welt.de/bundle Nr. 167 KOMMENTAR Zippert zappt Gekommen, um zu gehen Vor zwei Wochen lag Boris Johnsons Karriere in Trümmern. Er hatte die Brexit-Kampagne zum Erfolg geführt – ohne einen Plan zu haben, wie es weitergehen soll. Doch nun erlebt er ein Comeback. Als neuer britischer Außenminister hatte er gestern seinen ersten Auftritt mit seinen EU-Amtskollegen in Brüssel. Selbst eine Flugzeugpanne konnte ihn nicht stoppen. Der Empfang fiel freundlich aus. Und auch der 52-Jährige (auf dem Foto links mit dem niederländischen Außenminister Bert Koenders) präsentierte sich von seiner liebenswürdigen Seite. Das Ergebnis des Referendums „bedeutet in keiner Weise, dass wir Europa verlassen“, erklärte er. Seine EU-Mission ist dennoch begrenzt. Schade eigentlich. Seite 7 DPA/LAURENT DUBRULE; GETTY IMAGES/GRAHAM WOOD/EVENING STANDARD/HULTON ARCHIVE ierzehn Jahre nach Einführung des Euros sind in Deutschland noch immer Milliarden D-Mark im Umlauf. Es wäre jederzeit möglich, zur alten Währung zurückzukehren, erklärte ein Sprecher der Bundesbank. Deshalb wird das alte Geld nicht umgetauscht: Die Menschen rechnen jederzeit damit, dass der ganze Euro-Schwindel sich in Luft auflöst. Der Bundesinnenminister warnte davor, dass sich eine gefährliche Parallelgesellschaft gebildet habe, in der die Realität verleugnet wird und man längst überwunden geglaubten Idealen hinterherläuft. In dieser Parallelgesellschaft wird nicht nur mit dem alten Geld bezahlt, man benutzt auch die alte Rechtschreibung und teilweise sogar die ganz alte Rechtschreibung. Und man lebt natürlich auch in den alten Grenzen der Bundesrepublik. Wer mit der D-Mark zahlt, für den hat die Wiedervereinigung niemals stattgefunden, „Twix“ heißt noch „Raider“ und VW und die Deutsche Bank sind solide Unternehmen. Experten befürchten, dass in dieser Parallelgesellschaft inzwischen mehr Menschen leben als im realen Deutschland und dem Staat damit Milliarden an Steuereinnahmen entgehen. B Merkel erklärt Todesstrafe in der Türkei zur roten Linie D Hinrichtungen würden Ende der EU-Beitrittsgespräche bedeuten. Kanzlerin fordert Erdogan in Telefonat zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit auf. EU-Kommissar: Listen für Festnahmewelle waren vorbereitet ie Türkei gerät wegen ihres massiven Vorgehens gegen mutmaßliche Unterstützer des Putschversuches zunehmend unter internationalen Druck. Beim EU-Außenministertreffen in Brüssel zeigten sich etliche Teilnehmer am Montag tief besorgt über die Entwicklungen in dem Land, das auch EU-Beitrittskandidat ist. Die EUKommission warf der Staatsführung um Präsident Recep Tayyip Erdogan Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vor. Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Erdogan in einem Telefongespräch dazu auf, sich nach dem gescheiterten Putsch an rechtsstaatliche Prinzipien zu halten. Die Welle von Verhaftungen und Entlassungen in Armee, Polizei, und Justiz gebe „Anlass zu großer Sorge“. Die Bundesregierung schloss eine Aufnahme der Türkei in die EU aus, sollte Ankara die Todesstrafe wieder einführen. Regierungssprecher Steffen Seibert bezeichnete Überlegungen Erdogans für eine Rückkehr zu Hinrichtungen als besorgniserregend: „Wir lehnen die Todesstrafe kategorisch ab. Ein Land, das die Todes- B strafe hat, kann nicht Mitglied der Europäischen Union sein.“ Die Todesstrafe wurde in der Türkei seit 1984 nicht mehr vollstreckt, seit 2004 ist sie abgeschafft. Auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini stellte klar: „Kein Land kann Mitgliedstaat der EU werden, wenn es die Todesstrafe einführt.“ Der Putschversuch sei keine Entschuldigung, die es erlaube, Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien zu missachten. Seibert verwies zudem darauf, dass sich die Türkei über Zusatzprotokolle zur Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet habe, keine Hinrichtungen mehr zu vollstrecken. Führende Unionspolitiker meldeten große Bedenken gegen eine EU-Annäherung an. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) sagte: „Ernsthaft kann man mit so einem Land jetzt keine Beitrittsverhandlungen führen.“ Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) meinte: „Mehr Erdogan, weniger Rechtsstaat – das ist meine Befürchtung.“ Wegen der Festnahmewelle in der Türkei gibt es in Berlin zunehmend Befürchtungen, dass Erdogan künftig noch autoritärer regieren will. Seit dem Putschversuch wurden nach Angaben der türkischen Regierung mehr als 7500 Verdächtige festgenommen, darunter Soldaten, Polizisten, Richter und Staatsanwälte. Mehr als 13.000 Staatsbedienstete wur- Kerry fordert Beweise statt Anschuldigungen US-Außenminister John Kerry hat von der türkischen Regierung Belege für die angebliche Verstrickung des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen in den Putschversuch verlangt. Er habe seinen türkischen Amtskollegen aufgefordert, in „jeder Angelegenheit Beweise und nicht Unterstellungen vorzulegen“, sagte Kerry in Brüssel. Erdogan sieht seinen Erzfeind Gülen als Drahtzieher des Putschversuchs und hatte von den USA dessen Auslieferung verlangt. den suspendiert, unter ihnen fast 9000 Bedienstete des Innenministeriums – vor allem Polizisten und Gendarmen – sowie 2745 Justizbeamte. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn zeigte sich speziell über die Festnahme von Richtern beunruhigt. „Das ist genau das, was wir befürchtet haben“, sagte er in Brüssel. Er äußerte die Vermutung, dass die türkische Regierung ein Vorgehen gegen Gegner bereits länger geplant hatte. Dass die Listen für Verhaftungen direkt nach dem Putsch verfügbar gewesen seien, „weist darauf hin, dass es vorbereitet war und sie zu einem bestimmten Zeitpunkt genutzt werden sollten“. Der französische Außenminister JeanMarc Ayrault warnte vor der Gefahr einer Kehrtwende in der Türkei: „Wir müssen aufpassen, dass die türkischen Behörden kein System einrichten, das sich von der Demokratie abwendet.“ In Deutschland wird zudem mit Sorge beobachtet, dass auch der Ton zwischen Anhängern und Gegnern Erdogans in der Bundesrepublik härter wird. Siehe Kommentar, Seiten 4, 5, 13, 21 Sag mir, wo du stehst K ULF POSCHARDT napp 60 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland haben bei den Parlamentswahlen 2015 in der Türkei für die Regierungspartei AKP gestimmt. Zehn Prozent mehr als in der Türkei selbst und dreimal so viel wie in Großbritannien. Erdogan hat bei keinem seiner Deutschland-Besuche versäumt, seine stillen Reserven zu aktivieren. Er warnte sie vor Assimilation und versicherte sich emotional ihrer Treue. Wie man sah, funktioniert das auch in Putschsituationen. Eine SMS, und Tausende stehen vor der Botschaft in Berlin. Als Cem Özdemir die Armenien-Resolution durch den Bundestag brachte, wurden deutsch-türkische Parlamentarier von Ankara aus unter Druck gesetzt. Sie erhielten Todesdrohungen und brauchten Polizeischutz, weil die AKP-Groupies in Erdogans Feinden auch ihre sahen. Das ist ein Problem. Mehr noch: Das ist so nicht hinnehmbar. Gerade angesichts der Herausforderungen durch die Flüchtlingskrise und die nun in ganz anderer Dringlichkeit gestellten Integrationsversäumnisse ist die Instrumentalisierung von Hunderttausenden von türkischstämmigen Deutschen durch Ditib und UETD eine schwere Hypothek. Hatte man lange hingenommen, dass sich Teile der türkischen Community vom freiheitlichsäkularen Pluralismus entfernen, um sich religiös wie nationalistisch zu radikalisieren, so ahnen Multikulturalisten nun, wie naiv und bequem der Irrglaube war, dass die Integration nur eine Frage der Zeit sei. Teile der dritten Generation der Einwanderer sind von einer bundesrepublikanischen Identität weiter entfernt denn je. Gekontert wird diese Zahl von urbanen, liberalen, auch politisch in hiesigen Parteien engagierten Deutschtürken, die trotz emotionaler Verbundenheit mit der Türkei ihre Loyalitäten für Deutschland, dessen Grundgesetz und unsere freie Art zu leben klar geordnet haben. Sie sind mit ihrer bikulturellen Identität Leuchttürme und Vorbilder. Verkörpern sie doch mit ihrem Ehrgeiz und ihrem Aufstiegswillen jene Migration, die als Dünger gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse gilt. Wer will, dass Deutschland ein tolerantes und offenes Zuwanderungsland wird, muss klarer definieren, was sich die aufnehmende Gesellschaft von ihren Neubürgern und Gästen erwartet. Geschmacklose AKP-Propaganda oder gar Randale, die deutlich machen, dass Erdogan nicht nur Präsident, sondern auch geistiges Oberhaupt vieler Deutschtürken ist, vergrößert die spürbar gewordene Kluft. Die Erdogan-Begeisterung für dessen Säuberungen steht nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Sie ist inakzeptabel. [email protected] Ich sehe was, was du nicht hörst In Berlin haben Forscher untersucht, wie die optische Wahrnehmung eines Konzertsaals unser Klangerlebnis beeinflusst erührt uns ein Konzert wirklich nur mit dem, was wir hören, oder auch mit dem, was wir sehen? Hängt unser musikalisches Urteil vielleicht von mehr ab als nur von der Meisterschaft der Interpreten, nämlich auch von Raumoptik und Raumakustik? Also: Klingt eine, sagen wir, Beethoven-Sinfonie im Leipziger Gewandhaus besser als im Berliner Konzerthaus? Diese Fragen zur audiovisuellen Raumwahrnehmung versucht das Staatliche Institut für Musikforschung derzeit mit einem neuen Forschungsprojekt zu beantworten. Dabei experimentieren die Forscher mit einer digitalen Simulationsumgebung, die real existierende Räume sowohl optisch als auch akustisch in 3 D nachstellt: Dank spezieller Sensoren an den Kopfhörern hören Probanden eingespielte Musik so, als würde sie wirklich vorne auf einer virtuell sichtbaren Bühne entstehen, selbst wenn sie sich mit den Kopfhörern im Raum bewegen oder den Kopf drehen. Am Montag wurden erste Forschungsergebnisse im Musikinstrumenten-Museum Berlin vorgestellt. Demnach ist unsere Wahrnehmung schwerer zu korrumpieren als bisher angenommen. Zwischen Hören und Sehen finden, entgegen verbreiteten Vorstellungen, keine bedeutenden Interaktionen oder übergreifenden Effekte statt. Das heißt, dass uns zum Beispiel Musik in einem hellen Raum nicht fröhlicher und in einer Kirche nicht halliger erscheint als in anderen Räumen. Andersherum gilt das Gleiche: Wenn sich die musikalische Darbietung ändert, ändert sich die optische Wahrnehmung nicht. Stattdessen hören wir immer nur das, was uns als akustische Information gegeben ist, und sehen immer nur das, was auf optischen Informationen beruht. Wenn Konzertbetreiber bisher gehofft haben, Besucher mit visueller Ästhetik in eine bestimmte Richtung der auditiven Wahrnehmung lenken oder gar von schlechter Musik ablenken zu können, haben sie sich getäuscht. Das heißt allerdings nicht, dass es egal ist, wo eine BeethovenSinfonie erklingt. Natürlich hat die Beschaffenheit des jeweiligen Raumes große Auswirkungen auf das Hörerlebnis – aber eben nicht DIE WELT, Axel-Springer-Straße 65, 10888 Berlin, Redaktion: Brieffach 2410 Täglich weltweit in über 130 Ländern verbreitet. Pflichtblatt an allen deutschen Wertpapierbörsen. Telefon 030 / 25 91 0 Fax 030 / 25 91 71 606 E-Mail [email protected] Anzeigen 030 / 58 58 90 Fax 030 / 58 58 91 E-Mail [email protected] Kundenservice DIE WELT, Brieffach 2440, 10867 Berlin Telefon 0800 / 93 58 537 Fax 0800 / 93 58 737 E-Mail [email protected] A 3,40 & / B 3,40 & / CH 5,00 CHF / CZ 96 CZK / CY 3,40 & / DK 26 DKR / E 3,40 & / I.C. 3,40 & / F 3,40 & / GB 3,20 GBP / GR 3,50 & / I 3,40 & / IRL 3,20 & / L 3,40 & / MLT 3,20 & / NL 3,40 & / P 3,40 & (Cont.) / PL 15 PLN / SK 3,40 € + © Alle Rechte vorbehalten - Axel Springer SE, Berlin - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.axelspringer-syndication.de/lizenzierung DW-2016-07-19-zgb-ekz- 86446c3d162bc5c6bf7abc48e2ce84df durch eine schöne Tapetenfarbe oder ein ungewöhnliches Fußbodenmuster, sondern ausschließlich über die akustischen Gegebenheiten. Die wiederum, auch das eine Erkenntnis des Forschungsprojekts, werden nicht nur mit den Ohren wahrgenommen, sondern auch mit den Augen gewissermaßen vorausgeahnt: Der Hörer antizipiert zum Beispiel unwillkürlich, dass es in einem großen, leeren Raum viel Nachhall geben müsste. Die Forscher spielten den Testpersonen Streichquartett-Aufnahmen vor, die an unterschiedlichen Orten entstanden waren, etwa in einem Konzertsaal und einer Klosterkirche. Manchmal wurde den Probanden dabei optisch die 3-D-Simulation der Umgebung angezeigt, in der die Aufnahme auch wirklich entstanden war, manchmal eine andere. Passte die Aufnahme nicht zum erwarteten Klang und bekam der Proband zum Beispiel visuell den Konzertsaal simuliert und hörte dazu die Aufnahme aus der Kirche, bemerkte er es. Für Beethoven-Sinfonien gilt also bis auf Weiteres: egal wo, aber Hauptsache, kein Playback. MARIE-LUISE GOLDMANN ISSN 0173-8437 167-29 ZKZ 7109
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