DIE WELT - Die Onleihe

DIENSTAG, 19. JULI 2016
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INTERVIEWS
SPORT
Ilie Nastase: Lasst
die Tennisprofis doch
wieder fluchen
Seite 19
POLITIK
Katja Suding: So
kommt die FDP zurück
in den Bundestag
Seite 6
POLITIK
Woody Allen: USA
zahlen immer noch den
Preis für die Sklaverei
Seite 8
PANORAMA
Flirtexperte Kai Dröge:
In Algorithmen allein
verliebt sich niemand
Seite 23
DAX
Kaum verändert
Seite 15
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Nr. 167
KOMMENTAR
Zippert zappt
Gekommen,
um zu gehen
Vor zwei Wochen lag Boris Johnsons
Karriere in Trümmern. Er hatte die
Brexit-Kampagne zum Erfolg geführt – ohne einen Plan zu haben,
wie es weitergehen soll. Doch nun
erlebt er ein Comeback. Als neuer
britischer Außenminister hatte er
gestern seinen ersten Auftritt mit
seinen EU-Amtskollegen in Brüssel.
Selbst eine Flugzeugpanne konnte
ihn nicht stoppen. Der Empfang
fiel freundlich aus. Und auch der
52-Jährige (auf dem Foto links mit
dem niederländischen Außenminister Bert Koenders) präsentierte sich von seiner liebenswürdigen
Seite. Das Ergebnis des Referendums „bedeutet in keiner Weise,
dass wir Europa verlassen“, erklärte
er. Seine EU-Mission ist dennoch
begrenzt. Schade eigentlich. Seite 7
DPA/LAURENT DUBRULE; GETTY IMAGES/GRAHAM WOOD/EVENING STANDARD/HULTON ARCHIVE
ierzehn Jahre nach Einführung des Euros sind in
Deutschland noch immer
Milliarden D-Mark im Umlauf. Es
wäre jederzeit möglich, zur alten
Währung zurückzukehren, erklärte ein Sprecher der Bundesbank. Deshalb wird das alte Geld
nicht umgetauscht: Die Menschen rechnen jederzeit damit,
dass der ganze Euro-Schwindel
sich in Luft auflöst. Der Bundesinnenminister warnte davor, dass
sich eine gefährliche Parallelgesellschaft gebildet habe, in der
die Realität verleugnet wird und
man längst überwunden geglaubten Idealen hinterherläuft. In
dieser Parallelgesellschaft wird
nicht nur mit dem alten Geld
bezahlt, man benutzt auch die
alte Rechtschreibung und teilweise sogar die ganz alte Rechtschreibung. Und man lebt natürlich auch in den alten Grenzen
der Bundesrepublik. Wer mit der
D-Mark zahlt, für den hat die
Wiedervereinigung niemals stattgefunden, „Twix“ heißt noch
„Raider“ und VW und die Deutsche Bank sind solide Unternehmen. Experten befürchten, dass
in dieser Parallelgesellschaft
inzwischen mehr Menschen
leben als im realen Deutschland
und dem Staat damit Milliarden
an Steuereinnahmen entgehen.
B
Merkel erklärt Todesstrafe
in der Türkei zur roten Linie
D
Hinrichtungen würden Ende der EU-Beitrittsgespräche bedeuten. Kanzlerin fordert Erdogan in Telefonat
zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit auf. EU-Kommissar: Listen für Festnahmewelle waren vorbereitet
ie Türkei gerät wegen ihres
massiven Vorgehens gegen
mutmaßliche Unterstützer
des Putschversuches zunehmend unter internationalen Druck. Beim EU-Außenministertreffen in Brüssel zeigten sich etliche
Teilnehmer am Montag tief besorgt über
die Entwicklungen in dem Land, das
auch EU-Beitrittskandidat ist. Die EUKommission warf der Staatsführung um
Präsident Recep Tayyip Erdogan Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit vor.
Bundeskanzlerin Angela Merkel forderte Erdogan in einem Telefongespräch
dazu auf, sich nach dem gescheiterten
Putsch an rechtsstaatliche Prinzipien zu
halten. Die Welle von Verhaftungen und
Entlassungen in Armee, Polizei, und Justiz gebe „Anlass zu großer Sorge“. Die
Bundesregierung schloss eine Aufnahme
der Türkei in die EU aus, sollte Ankara
die Todesstrafe wieder einführen. Regierungssprecher Steffen Seibert bezeichnete Überlegungen Erdogans für eine
Rückkehr zu Hinrichtungen als besorgniserregend: „Wir lehnen die Todesstrafe
kategorisch ab. Ein Land, das die Todes-
B
strafe hat, kann nicht Mitglied der Europäischen Union sein.“ Die Todesstrafe
wurde in der Türkei seit 1984 nicht mehr
vollstreckt, seit 2004 ist sie abgeschafft.
Auch die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini stellte klar: „Kein Land
kann Mitgliedstaat der EU werden, wenn
es die Todesstrafe einführt.“ Der Putschversuch sei keine Entschuldigung, die es
erlaube, Grundrechte und rechtsstaatliche Prinzipien zu missachten. Seibert
verwies zudem darauf, dass sich die Türkei über Zusatzprotokolle zur Europäischen Menschenrechtskonvention verpflichtet habe, keine Hinrichtungen
mehr zu vollstrecken. Führende Unionspolitiker meldeten große Bedenken gegen eine EU-Annäherung an. Der hessische Ministerpräsident Volker Bouffier
(CDU) sagte: „Ernsthaft kann man mit
so einem Land jetzt keine Beitrittsverhandlungen führen.“ Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) meinte:
„Mehr Erdogan, weniger Rechtsstaat –
das ist meine Befürchtung.“
Wegen der Festnahmewelle in der Türkei gibt es in Berlin zunehmend Befürchtungen, dass Erdogan künftig noch autoritärer regieren will. Seit dem Putschversuch wurden nach Angaben der türkischen Regierung mehr als 7500 Verdächtige festgenommen, darunter Soldaten,
Polizisten, Richter und Staatsanwälte.
Mehr als 13.000 Staatsbedienstete wur-
Kerry fordert Beweise
statt Anschuldigungen
US-Außenminister John Kerry
hat von der türkischen Regierung
Belege für die angebliche Verstrickung des in den USA lebenden
islamischen Predigers Fethullah
Gülen in den Putschversuch verlangt. Er habe seinen türkischen
Amtskollegen aufgefordert, in
„jeder Angelegenheit Beweise und
nicht Unterstellungen vorzulegen“,
sagte Kerry in Brüssel. Erdogan
sieht seinen Erzfeind Gülen als
Drahtzieher des Putschversuchs
und hatte von den USA dessen
Auslieferung verlangt.
den suspendiert, unter ihnen fast 9000
Bedienstete des Innenministeriums – vor
allem Polizisten und Gendarmen – sowie
2745 Justizbeamte.
EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn zeigte sich speziell über die
Festnahme von Richtern beunruhigt.
„Das ist genau das, was wir befürchtet
haben“, sagte er in Brüssel. Er äußerte
die Vermutung, dass die türkische Regierung ein Vorgehen gegen Gegner bereits
länger geplant hatte. Dass die Listen für
Verhaftungen direkt nach dem Putsch
verfügbar gewesen seien, „weist darauf
hin, dass es vorbereitet war und sie zu
einem bestimmten Zeitpunkt genutzt
werden sollten“.
Der französische Außenminister JeanMarc Ayrault warnte vor der Gefahr einer Kehrtwende in der Türkei: „Wir müssen aufpassen, dass die türkischen Behörden kein System einrichten, das sich
von der Demokratie abwendet.“ In
Deutschland wird zudem mit Sorge beobachtet, dass auch der Ton zwischen
Anhängern und Gegnern Erdogans in der
Bundesrepublik härter wird.
Siehe Kommentar, Seiten 4, 5, 13, 21
Sag mir,
wo du stehst
K
ULF POSCHARDT
napp 60 Prozent der türkischen Wähler in Deutschland
haben bei den Parlamentswahlen 2015 in der Türkei für die Regierungspartei AKP gestimmt. Zehn
Prozent mehr als in der Türkei selbst
und dreimal so viel wie in Großbritannien. Erdogan hat bei keinem seiner Deutschland-Besuche versäumt,
seine stillen Reserven zu aktivieren.
Er warnte sie vor Assimilation und
versicherte sich emotional ihrer
Treue. Wie man sah, funktioniert das
auch in Putschsituationen. Eine SMS,
und Tausende stehen vor der Botschaft in Berlin. Als Cem Özdemir die
Armenien-Resolution durch den Bundestag brachte, wurden deutsch-türkische Parlamentarier von Ankara
aus unter Druck gesetzt. Sie erhielten
Todesdrohungen und brauchten Polizeischutz, weil die AKP-Groupies in
Erdogans Feinden auch ihre sahen.
Das ist ein Problem. Mehr noch: Das
ist so nicht hinnehmbar. Gerade angesichts der Herausforderungen durch
die Flüchtlingskrise und die nun in
ganz anderer Dringlichkeit gestellten
Integrationsversäumnisse ist die Instrumentalisierung von Hunderttausenden von türkischstämmigen Deutschen durch Ditib und UETD eine
schwere Hypothek. Hatte man lange
hingenommen, dass sich Teile der türkischen Community vom freiheitlichsäkularen Pluralismus entfernen, um
sich religiös wie nationalistisch zu radikalisieren, so ahnen Multikulturalisten nun, wie naiv und bequem der Irrglaube war, dass die Integration nur eine Frage der Zeit sei. Teile der dritten
Generation der Einwanderer sind von
einer bundesrepublikanischen Identität weiter entfernt denn je.
Gekontert wird diese Zahl von
urbanen, liberalen, auch politisch
in hiesigen Parteien engagierten
Deutschtürken, die trotz emotionaler
Verbundenheit mit der Türkei ihre
Loyalitäten für Deutschland, dessen
Grundgesetz und unsere freie Art zu
leben klar geordnet haben. Sie sind
mit ihrer bikulturellen Identität
Leuchttürme und Vorbilder. Verkörpern sie doch mit ihrem Ehrgeiz und
ihrem Aufstiegswillen jene Migration, die als Dünger gesellschaftlicher
Modernisierungsprozesse gilt.
Wer will, dass Deutschland ein tolerantes und offenes Zuwanderungsland wird, muss klarer definieren,
was sich die aufnehmende Gesellschaft von ihren Neubürgern und
Gästen erwartet. Geschmacklose
AKP-Propaganda oder gar Randale,
die deutlich machen, dass Erdogan
nicht nur Präsident, sondern auch
geistiges Oberhaupt vieler Deutschtürken ist, vergrößert die spürbar gewordene Kluft. Die Erdogan-Begeisterung für dessen Säuberungen steht
nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Sie ist inakzeptabel.
[email protected]
Ich sehe was, was du nicht hörst
In Berlin haben Forscher untersucht, wie die optische Wahrnehmung eines Konzertsaals unser Klangerlebnis beeinflusst
erührt uns ein Konzert wirklich nur mit dem, was wir hören,
oder auch mit dem, was wir sehen? Hängt unser musikalisches
Urteil vielleicht von mehr ab als nur von der Meisterschaft der
Interpreten, nämlich auch von Raumoptik und Raumakustik? Also:
Klingt eine, sagen wir, Beethoven-Sinfonie im Leipziger Gewandhaus
besser als im Berliner Konzerthaus?
Diese Fragen zur audiovisuellen Raumwahrnehmung versucht das
Staatliche Institut für Musikforschung derzeit mit einem neuen Forschungsprojekt zu beantworten. Dabei experimentieren die Forscher
mit einer digitalen Simulationsumgebung, die real existierende Räume sowohl optisch als auch akustisch in 3 D nachstellt: Dank spezieller Sensoren an den Kopfhörern hören Probanden eingespielte Musik
so, als würde sie wirklich vorne auf einer virtuell sichtbaren Bühne
entstehen, selbst wenn sie sich mit den Kopfhörern im Raum bewegen oder den Kopf drehen. Am Montag wurden erste Forschungsergebnisse im Musikinstrumenten-Museum Berlin vorgestellt.
Demnach ist unsere Wahrnehmung schwerer zu korrumpieren als
bisher angenommen. Zwischen Hören und Sehen finden, entgegen
verbreiteten Vorstellungen, keine bedeutenden Interaktionen oder
übergreifenden Effekte statt. Das heißt, dass uns zum Beispiel Musik
in einem hellen Raum nicht fröhlicher und in einer Kirche nicht halliger erscheint als in anderen Räumen. Andersherum gilt das Gleiche:
Wenn sich die musikalische Darbietung ändert, ändert sich die optische Wahrnehmung nicht. Stattdessen hören wir immer nur das, was
uns als akustische Information gegeben ist, und sehen immer nur
das, was auf optischen Informationen beruht. Wenn Konzertbetreiber bisher gehofft haben, Besucher mit visueller Ästhetik in eine
bestimmte Richtung der auditiven Wahrnehmung lenken oder gar
von schlechter Musik ablenken zu können, haben sie sich getäuscht.
Das heißt allerdings nicht, dass es egal ist, wo eine BeethovenSinfonie erklingt. Natürlich hat die Beschaffenheit des jeweiligen
Raumes große Auswirkungen auf das Hörerlebnis – aber eben nicht
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durch eine schöne Tapetenfarbe oder ein ungewöhnliches Fußbodenmuster, sondern ausschließlich über die akustischen Gegebenheiten.
Die wiederum, auch das eine Erkenntnis des Forschungsprojekts,
werden nicht nur mit den Ohren wahrgenommen, sondern auch mit
den Augen gewissermaßen vorausgeahnt: Der Hörer antizipiert zum
Beispiel unwillkürlich, dass es in einem großen, leeren Raum viel
Nachhall geben müsste. Die Forscher spielten den Testpersonen
Streichquartett-Aufnahmen vor, die an unterschiedlichen Orten entstanden waren, etwa in einem Konzertsaal und einer Klosterkirche.
Manchmal wurde den Probanden dabei optisch die 3-D-Simulation
der Umgebung angezeigt, in der die Aufnahme auch wirklich entstanden war, manchmal eine andere. Passte die Aufnahme nicht zum
erwarteten Klang und bekam der Proband zum Beispiel visuell den
Konzertsaal simuliert und hörte dazu die Aufnahme aus der Kirche,
bemerkte er es. Für Beethoven-Sinfonien gilt also bis auf Weiteres:
egal wo, aber Hauptsache, kein Playback.
MARIE-LUISE GOLDMANN
ISSN 0173-8437
167-29
ZKZ 7109