faulheit & arbeit Sonnabend/Sonntag, 30./31. Juli 2016, Nr. 176 n Drucksachen n Schwarzer Kanal n Reportage n ABC-Waffen Vor Beginn der Olympischen Spiele am 1. August 1936 veröffentlichte die illegale KPD ein Flugblatt zur Sportpolitik der Nazis Apokalypse im Spiegel: Die globalen Kräfteverhältnisse werden neu gemischt. Das bedroht den Westen und seine Kriege Ein Institut auf den Philippinen sorgt sich um die globale Ernährungssicherheit in Zeiten des Klimawandels. Von Thomas Berger Selbstmord ist keine Lösung. Und auch zu anstrengend. Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie. Von Klaus Bittermann KAYHAN OZER/PRESIDENTIAL PALACE/HANDOUT VIA REUTERS »Erdogan hat die Gunst der Stunde genutzt« or zwei Wochen sollte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan von türkischen Militärs aus dem Amt geputscht werden. Wie haben Sie die Nacht vom 15. auf den 16. Juli erlebt? Der misslungene Staatsstreich hatte, wie auch aus einer von den Putschisten im Staatsfernsehen verlesenen Erklärung zu entnehmen war, primär Erdogan und die unter seinem Joch agierende AKP-Regierung zum Ziel. Aktuell gibt es noch eine rege Debatte darüber, aus welchen Segmenten des Militärs die Putschisten nun wirklich kommen. Eine der ordentlichsten Analysen dazu stammt von Metin Gürcan, der als ehemaliger Major der Spezialeinsatzkräfte innerhalb der türkischen Streitkräfte deren innere Strukturen sehr gut kennt. In seinem Artikel »Die Anatomie eines Putschversuchs« klassifiziert Gürcan die der, wie sie offiziell genannt wird, »Fethullah-Gülen-Terrororganisation« oder FETÖ zuge- Siehe Seite 16 Gespräch Mit Fatih Polat. Über die Etablierung einer Einmanndiktatur in der Türkei, die Knebelung der oppositionellen Medien und den fortgesetzten Krieg Ankaras gegen die Kurden EVRENSEL.NET V Fatih Polat … ist Chefredakteur der linken türkischen Tageszeitung Evrensel hörigen Offiziere als steuernde Kraft des Umsturzversuchs. Aus der Liste der Verhafteten geht auch hervor, dass zudem extrem laizistische und regierungskritische Offiziere beteiligt waren. Hinzu kommen diejenigen, die sich aus karrieristischem und persönlichem Interesse der Junta angeschlossen haben. Wenn die Prozesse gegen die Militärs beginnen, werden wir sehen, dass sie kemalistische, auf den Grundsteinen der Republik basierende laizistische westliche und moderne Positionen vertreten. Wie konnte der Coup so rasch niedergeschlagen werden? Wesentlich dafür waren sicher die militanten AKP-Anhänger, die dem Aufruf von Präsident Erdogan folgten, auf die Straßen zu gehen. Mit Slogans wie »Ja Allah«, »Bismillah«, »Allahu akbar« – bei Gott, im Namen Gottes, Gott ist größer – oder mit Erdogan lobpreisenden Sprüchen sind sie durch die Straßen gezogen. Auch wenn keine demokratischen Forderungen zu hören waren, haben sie ihren Repräsentanten, also denjenigen, dem sie bei den Wahlen ihre Stimme gegeben haben, verteidigt, auch auf die Gefahr hin, ihr Leben zu lassen. Auf der anderen Seite haben die übrigen 50 Prozent, die der AKP nicht ihre Stimme gegeben haben, die Entwicklungen in der ersten Nacht mit Besorgnis verfolgt. Dennoch haben sie sich gegen den Versuch der Putschisten gesträubt, alle fortschrittlichen Kräfte unter sich gegen Erdogan und die AKP-Regierung, gegen deren Amtsvergehen und unterdrückerische Politik zu vereinen. Keiner hat vergessen, dass es die fortschrittlichen Kräfte der Türkei waren, die am meisten unter dem Militärputsch vom 12. September 1980 zu leiden hatten. Deshalb bin ich überzeugt, dass beim Scheitern des Putsches neben den AKP-Anhängern auf den Straßen auch diejenigen eine wichtige Rolle spielten, die Haltung gezeigt Kriegsrat mit Präsident Recep Tayyip Erdogan (Mitte) und Premierminister Binali Yildirim (8. v. l.) im Präsidentenpalast in Ankara (28.7.2016) Einmanndiktatur Gespräch mit Fatih Polat, Chefredakteur der linken türkischen Tageszeitung Evrensel. Über die Ausschaltung der Opposition nach Erdogans Putsch und Ankaras fortgesetzten Krieg gegen die Kurden. Außerdem: Endzeitstimmung beim Spiegel. Schwarzer Kanal von Arnold Schölzel n Fortsetzung auf Seite zwei ACHT SEITEN EXTRA GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 31./31. JULI 2016 · NR. 176 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Bilanzieren Sanktionieren Umtaufen Putschen 3 5 7 15 Über die politische Situation in der Mit der Hartz-IV-Reform wird der Ukraine. Ein Interview mit ExminiDatenschutz von Beziehern sterpräsident Nikolai Asarow geschleift. Von Susan Bonath Die islamistische Al-Nusra-Front sagt sich von Al-Qaida los, verfolgt aber weiterhin die gleichen Ziele Vor 80 Jahren übernahm Ioannis Metaxas mit kaltem Staatsstreich die Macht in Griechenland Ankara: Juristen sollen enteignet werden Erdogans langer Arm UMIT BEKTAS/REUTERS Richterbund lehnt Auslieferung von türkischen Regimegegnern »auf bloßen Zuruf« ab. Verteidiger im Münchner Kommunistenprozess fürchten Einflussnahme. Von Claudia Wangerin Istanbul. Nach dem Putschversuch will die türkische Staatsanwaltschaft die Privatvermögen von mehr als 3.000 suspendierten Richtern und Staatsanwälten beschlagnahmen lassen. Die Juristen seien bereits vom Dienst freigestellt, und ihre Festnahme sei bereits angeordnet worden, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Donnerstag abend. Nach Angaben des Innenministeriums saßen am Mittwoch schon mehr als 1.600 von ihnen in Untersuchungshaft. Beschlagnahmt werden sollen unter anderem Immobilien, Bankkonten und Fahrzeuge. Den Betroffenen wird vorgeworfen, Verbindungen zur Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen zu haben. Die AKP-Regierung beschuldigt die Bewegung, den Staat unterwandert zu haben und für den Putschversuch verantwortlich zu sein. (dpa/jW) Siehe Kommentar Seite 8 Der türkische Präsident Erdogan und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem Weg zu einer Pressekonferenz im Jahr 2010 Donnerstag dem Sender CNN Türk gesagt. An der Unabhängigkeit der deutschen Justiz zweifelt Rechtsanwalt Yunus Ziyal, Verteidiger im Prozess im Münchner Prozess gegen zehn türkische Linke, denen die Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vorgeworfen wird. »Es drängt sich der Verdacht auf, dass es hier nicht um Recht, sondern um Politik geht«, sagte Ziyal laut einem Bericht von Spiegel online am Freitag. Die Angeklagten sitzen seit mehr als einem Jahr in bayerischen Gefängnissen. Konkrete Gewalttaten werden den mutmaßlichen Mitgliedern der Kommunistischen Partei der Türkei/Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML) nicht vorgeworfen, sondern zum Beispiel das Sammeln von Spenden. Die Organisation ist in Deutschland nicht einmal verboten und findet sich auch nicht auf internationalen Terrorlisten. »Allein die Türkei deklariert sie als terroristische Organisation«, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der 19 Verteidiger im TKP/ML-Prozess vom 22. Juli. Grundlage des Strafverfahrens sei eine außenpolitische Entscheidung – die Erteilung der Verfolgungsermächtigung durch das Bundesjustizministerium. Eine Strafverfolgung hängt in solchen Fällen davon ab, ob sie den Interessen der Bundesrepublik Deutschland entspricht. Nach dem Gesetz soll dafür aber auch maßgeblich sein, ob sich die Ziele der betroffenen Organisation gegen einen ausländischen Staat richten, der die Würde des Menschen achtet. Die Anwälte verweisen daher auf den in letzten Wochen verschärften Kurs des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Seit dem Mitte des Monats gescheiterten Militärputsch befinde sich die Türkei »auf dem Weg zu einem offen diktatorisch agierenden Staat«. Erdogan selbst hatte mit Blick auf eine Wiedereinführung der Todesstrafe in einem am Montag ausgestrahlten ARD-Interview erklärt, man müsse »das Volk anhören«. Am Sonntag wollen in Köln sowohl Anhänger als auch Gegner Erdogans demonstrieren. Beim Aufmarsch des AKP-Lagers werden bis zu 30.000 Teilnehmer erwartet. Der größte Dachverband kurdischer Vereine in Deutschland, Nav-Dem, ruft zur Gegendemonstration auf. »Es sind faschistische, rassistische und islamistische Gruppierungen, die am Sonntag für die Diktatur Erdogans auf die Straße gehen«, erklärte NavDem am Donnerstag. Separat haben allerdings auch extrem rechte deutsche Gruppen wie »Pro NRW« Proteste gegen den AKP-Aufmarsch angemeldet. Kölns Polizeipräsident Jürgen Mathies sagte am Freitag: »Wir sind auf besondere Gewaltformen vorbereitet.« 2.300 Polizisten würden in Köln zusammengezogen und acht Wasserwerfer bereitgehalten. Koalitionsstreit wegen Bundeswehr Union für Militäreinsätze im Inland, SPD gegen Grundgesetzänderung D ie große Koalition aus Unionsparteien und SPD streitet über einen erweiterten Einsatz der Bundeswehr im Inland zur Terrorabwehr. Außenminister FrankWalter Steinmeier (SPD) erteilte Forderungen der Union nach einer Änderung des Grundgesetzes eine Absage. Dafür gebe es keinen vernünftigen Anlass, sagte er der Passauer Neuen Presse (Freitagausgabe). »Die Vorfälle am Wochenende haben die Schnelligkeit und das hohe Maß an Professionalität der Polizeikräfte gezeigt«, sagte Steinmeier mit Blick auf einen Amoklauf in München. Die CSU hält eine Grundgesetzänderung dagegen für notwendig. Der Unionsfraktionschef im Bundestag, Volker Kauder, modifizierte die Forderung allerdings. Der CDU-Politiker sprach sich ebenfalls in einem Interview mit der Passauer Neuen Presse (Samstagausgabe) für eine gesetzliche Klarstellung aus. »Eine Grundgesetzänderung brauchen wir im Prinzip nicht. Dennoch wäre aber wahrscheinlich eine gesetzliche Klarstellung hilfreich, um die Einsatzbedingungen rechtssicherer zu formulieren.« Der SPD-Verteidigungsexperte Rainer Arnold lehnte hingegen eine Änderung des Grundgesetzes ab. Er kritisierte den Streit über einen erweiterten Einsatz der Bundeswehr im Inland als »Scheindebatte«. Arnold sagte am Freitag der Nachrichtenagentur dpa: »Was die CSU verlangt, führt nur zu scheinbarer Sicherheit – es bringt nicht mehr Sicherheit, wenn Soldaten mit der Waffe im Anschlag auf dem Bahnhof stehen.« Seit 2012 gibt es eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nach der auch ein Terroranschlag ein »besonders schwerer Unglücksfall« nach Artikel 35 des Grundgesetzes sein kann, bei dem der Einsatz von Soldaten zur Unterstützung der Polizei erlaubt wäre. Im gerade erst verabschiedeten »Weißbuch« zur Sicherheitspolitik hatten sich die Koalitionspartner auf den Kompromiss verständigt, dass die Bundeswehr bei größeren Terroranschlägen ohne Grundgesetzänderung eingesetzt werden kann. (dpa/Reuters/jW) Solidarität mit den Verhafteten in der Türkei EPA/SEDAT SUNA (C) DPA-BILDFUNK D er Deutsche Richterbund hat die türkische Forderung nach der Auslieferung mutmaßlicher Putschisten, die in Deutschland Schutz suchen, am Freitag nicht pauschal zurückgewiesen. Es werde aber keine Auslieferung »auf bloßen Zuruf« der Regierung in Ankara ohne konkrete Beweise geben, erklärte der Vorsitzende des Richterbundes, Jens Gnisa, gegenüber der Nachrichtenagentur AFP. Er hielt der Türkei aber ein »grob rechtsstaatswidriges Vorgehen« vor. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu hatte die Überstellung von türkischen Richtern und Staatsanwälten verlangt, die dem Prediger Fethullah Gülen nahestehen. Der im US-Exil lebende Imam und seine Anhänger im türkischen Staatsapparat werden für den Putschversuch vom 15. Juli verantwortlich gemacht. »Deutschland muss die Richter und Staatsanwälte dieses Parallelstaates ausliefern«, hatte Cavusoglu am Berlin. Deutsche Juristen, Wissenschaftler und Journalisten haben sich in einem gemeinsamen Appell mit ihren von Entlassung oder Verhaftung betroffenen Kollegen in der Türkei solidarisiert. »Die Bundesregierung und die Europäische Kommission dürfen nicht zuschauen, wie der Rechtsstaat in der Türkei abgewickelt wird«, heißt es in dem am Freitag veröffentlichten Aufruf des Deutschen Journalistenverbandes, des Deutschen Hochschulverbandes, des Deutschen Richterbundes und des Deutschen Anwaltvereins. »Juristen, Wissenschaftler und Medienschaffende in der Türkei lieben ihr Land und setzen sich für eine freiheitliche Gesellschaft ein«, erklärten die Verbände. Zu ihrem Berufsethos gehöre es nicht, immer mit Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner Regierung einer Meinung zu sein. »Es muss klargestellt werden, dass kritisches oder oppositionelles Denken kein Verbrechen ist«, heißt es in dem Appell. (AFP/jW) wird herausgegeben von 1.862 Genossinnen und Genossen (Stand 4.7.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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