MEDIZIN DISKUSSION zu dem Beitrag Forensische Altersdiagnostik – Methoden, Aussagesicherheit, Rechtsfragen von Prof. Dr. med. Andreas Schmeling, Prof. Dr. med. Dr. jur. Reinhard Dettmeyer, Dr. med. Dr. phil. Ernst Rudolf, Dr. med. Volker Vieth, Prof. Dr. med. Gunther Geserick in Heft 4/2016 3. Mathews JD, Forsythe AV, Brady Z, et al.: Cancer risk in 680,000 people exposed to computed tomography scans in childhood or adolescence: data linkage study of 11 million Australians. BMJ 2013; 346: f2360. 4. Memon A, Godward S, Williams D, Siddique I, Al-Saleh K: Dental X-rays and the risk of thyroid cancer: a case-control study. Acta Oncol 2010; 49: 447–53. Dr. med. Winfrid Eisenberg Herford [email protected] Ohne ärztliche Indikation Zu begrüßen ist, dass die Verfasser das Ergebnis ihrer altersdiagnostischen Bemühungen korrekt als „Altersschätzung“, nicht als „Altersbestimmung“ bezeichnen (1). Ferner fällt das Eingeständnis auf, dass die im Rahmen forensischer Altersdiagnostik veranlassten Röntgenuntersuchungen „ohne medizinische Indikation“ stattfinden. Damit ist die zentrale Forderung der Röntgenverordnung: „Die rechtfertigende Indikation erfordert die Feststellung, dass der gesundheitliche Nutzen der Anwendung am Menschen gegenüber dem Strahlenrisiko überwiegt“ (§ 23, 1 RöV), nicht erfüllt. Um die Anwendung von Röntgenstrahlen dennoch zu ermöglichen, werden „gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen“ beschrieben. Die diesbezügliche Rechtsprechung ist außerordentlich kontrovers. Einen angeblichen „Nutzen für die Allgemeinheit“ ins Spiel zu bringen, ist eine fragwürdige Konstruktion, die durch die ärztliche Berufsordnung nicht gedeckt ist. Unsere ureigene ärztliche Verantwortung für den Einsatz ionisierender Strahlen sollten wir auf keinen Fall an fachunkundige Juristen abtreten. Röntgenuntersuchungen sind nicht so harmlos wie dargestellt. Vergleiche mit der „natürlichen effektiven Dosis“ oder gar mit „Alltagsrisiken wie der Teilnahme am Straßenverkehr“ führen in die Irre. Die Hintergrundstrahlung als krankmachender Faktor ist keineswegs belanglos (2). Zusätzliche Strahlenbelastungen müssen wir möglichst vermeiden, besonders bei Kindern und Jugendlichen („Minimierungsgebot“, [§ 25, 2 RöV]). Studien aus aller Welt belegen, dass computertomographische Untersuchungen im Kindes- und Jugendalter zu einem erhöhten Krebs-, besonders Leukämierisiko führen (3); nach zahnmedizinischen Röntgenuntersuchungen ist eine erhöhte Schilddrüsenkarzinomrate beschrieben (4). Röntgenuntersuchungen im Zusammenhang mit Altersdiagnostik sind zu unterlassen, weil sie gefährlich sind, keine ärztliche Indikation haben und die entscheidende Frage „unter oder über 18“ nicht klären können. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0486a LITERATUR 1. Schmeling A, Dettmeyer R, Rudolf E, Vieth V, Geserick G: Forensic age estimation—methods, certainty, and the law. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 44–50. 2. Gefahren ionisierender Strahlung – Ergebnisse des Ulmer Expertentreffens (IPPNW-Information). www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/ Atomenergie/Ulmer_Expertentreffen_-_Gefahren_ionisierender _Strahlung.pdf (last accessed on 22 April 2016). 486 Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht. Mindestalterkonzept mit Tücken Den Autoren ist zu danken, dass sie das Mindestalterkonzept bei der Altersschätzung junger Flüchtlinge darstellen (1), denn viele Altersgutachter ignorieren dieses Prinzip. Allein der Abschluss der Handskelettentwicklung (laut Schmeling möglich ab 16,1 Jahren) oder der Weisheitszahnmineralisation (ab 17,3 Jahren) reicht für viele Gutachter aus, um Volljährigkeit zu attestieren. Einige sind der Meinung, der Flüchtling müsse seine Minderjährigkeit beweisen, was falsch ist. Gutachter und Ämter sind gehalten, ein Alter von über 18 Jahren nachzuweisen; gelingt dies nicht zweifelsfrei, so ist rechtlich von Minderjährigkeit auszugehen. Doch auch das Mindestalterkonzept hat seine Tücken. Es basiert darauf, dass der jüngste Proband in Referenzstudien die Untergrenze für ein bestimmtes Merkmal markiert. Oft ist im relevanten Altersbereich die Fallzahl gering. In Schmelings Beispiel liegt das Ossifikationsstadium 3a der medialen Claviculaepiphyse vor. Als Referenz dient eine Studie mit nur 24 männlichen Probanden (2). Glück für den begutachteten jungen Somali, dass zwei Minderjährige darunter waren. Auch die in Gutachten regelmäßig zitierte Referenzstudie von Kellinghaus hat wegen geringer Fallzahl im kritischen Altersbereich statistische Mängel (3). Eine große Studie (4) dokumentierte hingegen 17-Jährige mit dem höchsten Ossifikationsstadium 5. Ein Befund, der das Untersuchungsverfahren ad absurdum führt, wenn das Mindestalterkonzept Anwendung finden soll. Diese Ergebnisse bestätigen Folgendes: Es gibt eine enorme Variabilität im Verlauf der Pubertätsstadien und der Knochen- und Zahnentwicklung. Die Volljährigkeit ist durch den Nachweis somatischer Reife nicht beweisbar. Daher, und aus medizinethischen und rechtlichen Erwägungen, sollten keine Genital- und Röntgenuntersuchungen ohne medizinische Indikation durchgeführt werden. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0486b LITERATUR 1. Schmeling A, Dettmeyer R, Rudolf E, Vieth V, Geserick G: Forensic age estimation—methods, certainty, and the law. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 44–50. 2. Wittschieber D, Schmidt S, Vieth V, et al.: Subclassification of clavicular substage 3a is useful for diagnosing the age of 17 years. Rechtsmedizin 2014; 24: 485–8. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 27–28 | 11. Juli 2016 MEDIZIN 3. Ponocny I, Ponocny-Seliger E: Biometrische Stellungnahme zu den Referenzpublikationen von Kellinghaus et al. (2010a, 2010b). http://umf.asyl.at/files/DOK53BiometrischeStellungnahme.pdf (last accessed on 31 January 2016). 4. Bassed RB, Drummer OH, Briggs C, et al.: Age estimation and the medial clavicular epiphysis: analysis of the age of majority in an Australian population using computed tomography. Forensic Sci Med Pathol 2011; 7: 148–54. Dr. med. Thomas Nowotny Stephanskirchen, [email protected] Interessenkonflikt Dr. Nowotny setzt sich als Kinder- und Jugendarzt für die Grundrechte junger Flüchtlinge ein. Einseitige Übersicht der Problematik Es ist erschreckend, dass im gesamten Artikel eine psychologische Begutachtung der geflüchteten Minderjährigen mit keinem Wort erwähnt wird (1). Dabei ist der psychologische Entwicklungsstand wesentlich bei der Reifeeinschätzung eines jungen Menschen. Bezeichnend, dass die Autoren „politische und ethische Aspekte der Altersdiagnostik“ ausklammern – aus medizinethischer Sicht ein sehr verkürztes Herangehen. Bei den Röntgenuntersuchungen ohne medizinische Indikation wird argumentiert, dass „nicht zwangsläufig ein gesundheitlicher Nutzen für den Einzelnen vorliegen (muss), sondern auch der von dem jeweiligen Gesetz erwartete Nutzen für die Allgemeinheit“ zu berücksichtigen sei. Eine gefährliche Argumentation, weil in unserem Rechtssystem die Autonomie des Individuums einen hohen Stellenwert einnimmt. Mehrfach haben sich Ärztetage gegen Röntgenaufnahmen zur Altersfeststellung ausgesprochen. Im Artikel heißt es, das seien „standespolitische Meinungsäußerungen und [...] (sind) rechtlich nicht verbindlich“. Selbstverständlich können Ärztetagsbeschlüsse berufsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen und haben sich die Delegierten des 113. Deutschen Ärztetages Gedanken gemacht, wenn sie im Beschluss V93 feststellen: „Aufgrund mehrfacher weiterer Altersfeststellungen bei minderjährigen Flüchtlingen durch Röntgen der Handwurzelknochen wird nochmals an die Ärztetagsbeschlüsse von 1995 und 2007 erinnert. Danach ist die Beteiligung von Ärztinnen und Ärzten zur Feststellung des Alters mit aller Entschiedenheit abzulehnen.“ und: „Ausländerrechtliche Fragestellungen können auf keinen Fall medizinische Indikationen von den Körper belastenden Verfahren wie zum Beispiel Röntgen legitimieren.“ Darüber kann man sich nicht einfach pauschal hinwegsetzen. Dieser Übersichtsartikel vermittelt nur eine eingeschränkte und einseitige Übersicht der Problematik. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0487a LITERATUR 1. Schmeling A, Dettmeyer R, Rudolf E, Vieth V, Geserick G: Forensic age estimation—methods, certainty, and the law. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 44–50. Absolute Raritäten Die Autoren weisen daraufhin, dass abweichende ethnische Zugehörigkeit, sozioökonomischer Status und Akzelerationsstand neben seltenen Erkrankungen für die gutachterliche Beurteilung zu berücksichtigen sind (1). Da für juristische Entscheidungen ein vollendetes Lebensalter von 18 Jahren von großer Bedeutung ist, wäre ein eindeutiger Nachweis auf der Basis biologischer Merkmale sicher hilfreich, um Minderjährigkeit zu beweisen oder auszuschließen. Alle von den Autoren genannten Methoden beziehen sich auf biologische Reifemerkmale und damit auf gleiche physiologische Mechanismen, die genetisch, hormonell und durch die genannten äußeren Einflüsse geregelt werden. Bei gesunden Personen beginnt die Pubertät in einem Lebensalter X und endet nach einem Zeitraum Y mit dem Erreichen des Erwachsenenalters. Beide Parameter sind sehr variabel und für die hier diskutierte Gruppe gibt es, anders als behauptet, keine evidenzbasierten Studien, das heißt in einer statistisch ausreichend großen Kohorte mit dokumentiertem Lebensalter und Reifemerkmalen. Die in der Publikationsliste erwähnten Arbeiten erfüllen diesen Standard nicht. In Deutschland wurden dazu in der KIGGS-Studie (2) Daten publiziert, die zeigen, dass das Vertrauensintervall für die 3. bis 97. Perzentile der verschiedenen Reifemerkmale gesunder Jugendlicher bei etwa 5–6 Jahren liegt. Diese Zahlen liegen jedoch für afrikanische Jugendliche nur als Stichproben vor, die einen um zwei Jahre abweichenden Reifebeginn nahelegen (3, 4). Ohne diese Daten erscheint die Festlegung eines „Mindestalters“ willkürlich auch wenn es für den Gutachter angenehmn wäre. „Ergeben die unterschiedlichen Diagnoseinstrumente divergierende Altersschätzungen, ist dies als Hinweis auf eine mögliche endokrine Störung zu werten“. Das ist grundsätzlich möglich, aber aus persönlichen Erfahrung handelt es sich bei den in Betracht kommenden Störungen um absolute Raritäten, während die erhebliche physiologische Variabilität der sexuellen Reife gesunder Jugendlicher für den pädiatrischen Endokrinologen alltäglich ist. DOI: 10.3238/arztebl.2016.0487b LITERATUR 1. Schmeling A, Dettmeyer R, Rudolf E, Vieth V, Geserick G: Forensic age estimation—methods, certainty, and the law. Dtsch Arztebl Int 2016; 113: 44–50. 2. Kahl H, Schaffrath Rosario A, Schlaud M: [Sexual maturation of children and adolescents in Germany. Results of the German Health Interview and Examination Survey for Children and Adolescents (KiGGS)]. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 2007; 50: 677–85. 3. Zegeye DT, Megabiaw B, Mulu A: Age at menarche and the menstrual pattern of secondary school adolescents in northwest Ethiopia. BMC Womens Health 2009; 9: 29. 4. Sun SS, Schubert CM, Chumlea WC, et al.: National estimates of the timing of sexual maturation and racial differences among US children. Pediatrics 2002; 110: 911–9. Prof. Dr. med. Wulf Dietrich Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte [email protected] Prof. Dr. med. Klaus Mohnike Bereich Pädiatrische Endokrinologie und Stoffwechsel Otto-von-Guericke Universität, Magdeburg [email protected] Interessenkonflikt Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht. Interessenkonflikt Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt besteht. Deutsches Ärzteblatt | Jg. 113 | Heft 27–28 | 11. Juli 2016 487
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