taz.die tageszeitung

US-Wahlkampf: Jetzt geht’s erst richtig los
Kann Hillary Clinton gewinnen? Und ist Donald Trump wirklich ein Faschist? ▶ Seite 2, 3
AUSGABE BERLIN | NR. 11039 | 23. WOCHE | 38. JAHRGANG
DONNERSTAG, 9. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
H EUTE I N DER TAZ
Schock vor der EM:
Alle disqualifiziert
KRISE Am Freitag soll die Fußball-EM beginnen – als Fest des friedlichen und gemeinsamen Europas.
Doch der taz-Länder-Check ergab: Kein Staat hat es verdient, da mitzumachen. Die schlimmsten
Verfehlungen der 24 EM-Teilnehmer auf Sammelbildern zum Ausschneiden und Einkleben auf ▶ SEITE 13
ÖSTERREICH Verlierer:
FPÖ ficht das Ergebnis
der Bundespräsidentenwahl an ▶ SEITE 10, 12
HERKUNFTSLÄNDER
Folter in Tunesien und
Eritrea ▶ SEITE 6, 10
STALKING Warum
strengere Gesetze nötig
sind ▶ SEITE 4, 12
BERLIN Was ein Polizei-
beauftragter bewirken
kann ▶ SEITE 21
Foto oben: reuters
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Nach der Disqualifikation sämtlicher 24 EM-Teilnehmer wegen Boshaftigkeit hat verboten
folgende Mannschaften nachnominiert, deren ausreichende
Harmlosigkeit hinreichend bewiesen ist, weil sie weder einer
Fliege was zuleide tun noch jemals beim Fußball was gewinnen können:
1. Schottland
2. Franken
3. Leverkusen und natürlich
Holland.
Im EM-Ländertest durchgefallen: Wie konnte das passieren? Enttäuschung in ganz Europa. Warum auch Italien ausgeschieden ist, erfahren Sie auf Seite 10 und 13 Foto: David Klammer/laif
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KOMMENTAR VON JÜRN KRUSE ZUM KRISENEUROPA VOR DER EM
E
rdoğan, AfD, Brexit, Idomeni, Eurorettung, Terrorismus, Rechtsruck, Flüchtlinge – Europa 2016 im
Schnelldurchlauf. Und nun kommt die
Fußball-EM. Seit dem Ende des Kalten
Kriegs war kein kontinentales Sportereignis mit mehr Problemen belastet als
diese Europameisterschaft in Frankreich,
wo derzeit ja auch heftig protestiert wird.
Das Turnier wird übrigens von einem
Verband namens Uefa veranstaltet, dessen letzter Präsident Michel Platini „für
sämtliche nationalen und internationalen Fußballtätigkeiten (administrativ,
sportlich und anderweitig) gesperrt“ ist
(O-Ton Ethikkommission). Seitdem ist
der Posten unbesetzt.
Ein bisschen Flucht muss sein
Krise trifft auf Krise trifft auf Krise.
Ja, es gibt gute Gründe, sich von diesem Turnier abzuwenden. Und es ist
mit Sicherheit kein Zufall, dass noch am
Mittwoch – also zwei Tage vor dem Eröffnungsspiel – für eben jenes Match noch
Eintrittskarten erhältlich sind. Oder dass
der Trikotverkauf bislang schleppend
laufen soll. Und es ist nicht schön, dass
Nationalspieler jetzt schon ankündigen,
aus Sorge um ihre Familien diese nicht
mitnehmen zu wollen zu den Spielen.
Doch was brächte es, sich die Ohren
zuzustopfen, die Augen zuzuhalten und
sich von Fernsehern, Zeitungen, Internet
und größeren Menschenansammlungen
fernzuhalten? Nichts. Stattdessen müs-
sen wir die großen Unterhaltungsshows
in Europa – zu denen neben dem Fußball eigentlich nur noch der Eurovision
Song Contest zählt – als das nutzen, was
sie sind: extrem krisenfeste Bastionen.
Hier kam Europa schon zusammen, als
die eine Hälfte mit der anderen Hälfte
eigentlich nicht zusammenkommen
durfte. Hier schauen wir auf Länder, auf
die wir sonst nie schauen (Albanien).
Eskapismus mitten in
Europas größter Krise –
es gibt Schlimmeres
Zugegeben, das sind auch die Argumente der Verbände, um jede Kritik an
deren Vergabepraxis (WM 2018 in Russland, WM 2022 in Katar) zu unterdrücken. Aber: Anders als es Uefa, Fifa und
IOC wollen, muss die Einlassung auf ein
Turnier nicht bedeuten, dass man zum
­völlig unkritischen Jubelkonsumvieh
wird.
Nein, man muss ja nicht gleich sein gesamtes Hirn für einen Monat auf Standby schalten – aber ein bisschen Eskapismus powered by Uefa EURO 2016, da
gibt’s wahrlich Schlimmeres. Und, mal
ehrlich: Wem tun ein paar Wochen Auszeit von der europäischen Dauerkrise
nicht ganz gut?
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
Schwerpunkt
DON N ERSTAG, 9. JU N I 2016
US-Vorwahlkampf
NACH RICHTEN
Neuer Anschlag
in der Türkei
Ines Pohl wird Chefredakteurin der
Deutschen Welle Foto: Anja Weber
Welcome
home!
I
nes Pohl in der taz vorzustellen ist ungefähr so, wie Fußballfans zu erklären, wer Philipp Lahm ist. Sie war bis 2015
Chefredakteurin dieser Zeitung.
Das waren sechs gute Jahre für
die taz, die allerdings nicht immun gegen die Zeitungskrise
war. Aber wenn man auf die gesamte Bilanz mit Kombiabos
schaut, hat die taz unter Ines
Pohl sogar Abos gewonnen. Das
ist angesichts der allgemeinen
Depression in der Branche ein
vorzeigbares Ergebnis.
Es gibt einen als modern
geltenden Führungsstil, der
möglichst geräuscharm alle
Konflikte schon im Vorfeld zu
besänftigen sucht. Als prominentestes Beispiel dafür gilt Angela Merkel, die das Sowohl-alsauch perfektioniert hat.
Ines Pohl pflegt eine etwas andere Art: kooperativ und offen,
aber auch direkt, klar, entschieden. Wenn sie in der taz journalistische oder moralische Standards verletzt sah, ging sie keinem Streit aus dem Weg. Dass
andere Blätter, meist überdramatisiert, über Konflikte in der
taz berichteten, nahm sie sportlich und mit jenem leicht anarchischen, schwer berechenbaren Humor, der sie auszeichnet.
Sie verfügt zudem über eine Eigenschaft, die in Chefetagen
eher selten ist: Selbstironie.
Im Juli 2015 kündigte sie bei
der taz und ging für die Deutsche
Welle als Korrespondentin in die
USA. Eine unverhofft glückliche
Wahl. Damals war kaum zu ahnen, dass dort einer der aufregendsten Vorwahlkämpfe folgen würde, den sie mit frischer
Neugier verfolgte. In einem Videoblog fragte sie normale USBürger: „What America do you
want?“ (Follow #What­America.)
In die USA ging sie auch, weil in
Washington ihre Frau lebt, die
als Reporterin bei der Washington Post arbeitet.
Am Mittwoch wurde bekannt,
dass sie im März 2017 nach
Deutschland
zurückkehren
und Chefredakteurin der Deutschen Welle wird, deren Redaktion in Berlin und Bonn beheimatet ist. Beides ging schneller
als erwartet – die Rückkehr und
der Aufstieg bei dem Sender.
„Ich freue mich auf die großartige neue Aufgabe, gemeinsam
mit den Kolleginnen und Kollegen die DW als digitales Medienhaus stark zu machen“, sagt
sie. Und schwärmt von Möglichkeiten der DW als globales Kommunikationsmedium. Welcome
home, Ines. STEFAN REINECKE
ISTANBUL | Einen Tag nach dem
Attentat auf Polizisten in Istanbul sind bei einem Autobombenanschlag auf eine Polizeiwache im kurdisch geprägten
Südosten der Türkei mindestens drei Menschen getötet und
30 weitere verletzt worden. Ministerpräsident Binali Yıldırım
machte die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) für
den Anschlag verantwortlich.
Er nahm am Mittwoch an einer Trauerfeier für die Polizisten teil, die bei dem Anschlag
in Istanbul am Tag zuvor getötet worden waren. Die Explosion
einer Autobombe am Dienstag hatte einen Bus mit Bereitschaftspolizisten zerrissen. Elf
Menschen wurden getötet. (afp)
Halbe Millionen
Syrer erwartet
BERLIN | Die Bundesregierung
rechnet im Rahmen der Familienzusammenführung
mit
der Ankunft weiterer Hunderttausender Syrer in Deutschland
und mahnt zugleich zu Gelassenheit. „Es gibt keinen Grund
für Hysterie und Panikmache
in Sachen Nachzug“, sagte der
Sprecher des Auswärtigen Amts,
Martin Schäfer, am Mittwoch in
Berlin. In einem der Nachrichtenagentur Reuters vorliegenden Papier des Bundesamts
für Migration und Flüchtlinge
(BAMF) geht die Behörde davon
aus, dass pro Syrer im Schnitt
eine Person nachkommen wird.
2015 sind 428.000 Syrer eingereist, in diesem Jahr bisher weitere 72.000. (rtr)
Als erste Frau kandidiert Hillary
­Clinton für das Präsidentenamt
Duell mit dem Schulhoftyrannen
DEMOKRATEN Hillary Clinton muss sich auf einen schmutzigen Wahlkampf gegen
Donald Trump gefasst machen. Senator Bernie Sanders pokert bis zum Schluss
AUS WASHINGTON
FRANK HERRMANN
Von Dorothy Rodham wird
noch oft zu hören sein in diesem Wahlkampf. In der Nacht,
in der Hillary Clinton ihren
Sieg im Wettlauf um die Präsidentschaftskandidatur der Demokraten feierte und ihre Partei auf das anstehende Duell gegen Donald Trump einstimmte,
spielte sie jedenfalls eine markante Rolle. Von ihrer Mutter,
rief Clinton ihren Anhängern
auf einer Wahlparty in Brooklyn zu, habe sie gelernt, niemals zurückzuweichen vor einem Schulhoftyrannen. „Sie
hat mich gelehrt, niemals einzuknicken vor einem Bully, was,
wie sich herausstellt, ein ziemlich guter Rat war.“ Gemeint ist
Donald Trump.
Kriminelle gegen Hasardeur
Clinton gegen Trump: Alles deutet auf einen Zweikampf, der als
der haarigste, im Ton raueste in
die Wahlchronik der USA eingehen könnte. Kaum ein Tag
vergeht, an dem der Bauunternehmer die frühere Außenministerin nicht mit Vokabeln beschreibt, die hässlicher sind als
alles, was bisher in der gewiss
nicht zimperlichen amerikani-
dem er das Land spalte, indem er
Ängste schüre und Salz in Wunden streue. Dann wieder sprach
sie von einem Meilenstein der
Geschichte, von dem Moment,
in dem eine der beiden großen
Parteien der Vereinigten Staaten zum ersten Mal eine Frau
ins Rennen ums Weiße Haus
schickt.
Offiziell ist dies zwar erst
besiegelt, wenn die Delegierten des Wahlparteitags im Juli
in Philadelphia über die Kandidatur entscheiden. In Wahrheit aber ist das Rennen gelaufen, auch wenn Bernie Sanders,
der überraschend starke Kontrahent der Favoritin, noch nicht
bereit ist, es für beendet zu erklären. Clinton hat nicht nur die
Vorwahlen in New Jersey, New
Mexico und South Dakota gewonnen, sondern auch in Kalifornien, wo Sanders mit einem
Sieg seine Position für die Debatten des Wahlkonvents hatte
stärken wollen.
Dass Clinton das Duell im bevölkerungsreichsten Bundesstaat mit 56 Prozent der Stimmen gewann, klarer als erwartet,
wirkt wie eine kalte Dusche für
den Senator aus Vermont. Sanders ging zwar in Montana und
North Dakota als Erster durchs
Ziel, was aber an der aus seiner
Sicht ernüchternden Bilanz des
Wahldienstags kaum etwas änderte. Ans Aufgeben will er dennoch nicht denken. Er werde
weiterhin um jede Stimme
kämpfen, kündigte der 74-Jährige an, als es an seiner Niederlage nichts mehr zu rütteln
gab. Zumindest rhetorisch hofft
er noch immer auf ein kleines
Wunder im Juli, darauf, dass die
Superdelegierten des Parteitags
reihenweise zu ihm überlaufen
und das Blatt damit wenden.
Theoretisch haben es die
715 Superdelegierten, Abgeordnete und Parteifunktionäre, die
nicht an das Votum der Vorwahlen gebunden sind, noch immer
in der Hand, die Karten neu zu
mischen. Praktisch haben die
meisten von ihnen aber schon
jetzt Hillary Clinton ihre Unterstützung zugesichert. Dass sie
auf einmal umschwenken und
den bei den Primaries Zweitplatzierten zum Sieger erklären,
steht nicht zu erwarten.
Sanders Trumpf
Was Sanders mit seinem Poker tatsächlich zu erreichen
versucht, ist wohl, dass er in
prominenter Rolle mitbasteln
kann an der Agenda, mit der die
­Demokraten ins herbstliche Finale ziehen. Seine Trumpfkarte
sind junge Wähler, die in Clinton eine Symbolfigur jenes politischen Establishments sehen, von dem sie sich im Stich
gelassen fühlen. Vor allem bei
ihnen konnte der Veteran damit punkten, dass er kostenlosen Collegebesuch, bezahlbare
Krankenversicherungen und
eine zurückhaltende Außenpolitik versprach.
Hinzu kommen Unabhängige, die sich auf keine Parteifarbe festlegen und in dem kantigen Veteranen einen grundehrlichen Politiker sehen, der
felsenfest zu seinen Überzeugungen steht. Clinton braucht
diese Wählergruppen, will sie
Trump im Herbst bezwingen.
Ein Schulterschluss mit Sanders ist die Voraussetzung dafür.
Ferienwohnung
bleibt verboten
BERLIN | Das in Berlin geltende
Verbot der Zweckentfremdung
von Wohnungen ist verfassungsgemäß. Das hat das Verwaltungsgericht Berlin entschieden. Damit kann die Berliner Verwaltung Eigentümern
von Wohnungen weiterhin untersagen, diese komplett über
Onlineportale wie Wimdu oder
Airbnb an Touristen zu vermieten. Vier Wohnungsbesitzer hatten gegen die seit Anfang Mai
geltende strenge Regelung geklagt. Sie sei nicht verhältnismäßig, weil sie den Wohnraummangel in der Hauptstadt
kaum ausgleichen könne. Zudem sei ihre Berufsfreiheit eingeschränkt. Das Gericht folgte
den Klägern jedoch nicht. (taz)
Razzia bei
Kontaktbörse
DRESDEN dpa | Wegen Betrugs-
verdachts bei der Internetkontaktbörse Lovoo hat die Polizei Firmenräume und Wohnungen in Dresden, Berlin und
Nürnberg durchsucht. Zwei Verdächtige wurden verhaftet, teilten die Behörden mit. Die Firma
soll mit gefälschten Frauenprofilen Männer angelockt und von
ihnen Gebühren für die Nutzung der Smartphone-App kassiert haben. Den drei Geschäftsführern und neun weiteren
Mitarbeitern wird gewerbsmäßiger Betrug vorgeworfen. Die
Fachzeitschrift c’t hatte im September berichtet, dass ihr zugespielte Daten auf eine groß angelegte Fälschung weiblicher
Profile schließen lasse.
Echte Freude oder wieder eine Maske? Hillary Clinton hat endlich mal gewonnen Foto: Lucas Jackson/reuters
schen Politik zu hören war. Mal
legt er ihr in krasser Wortwahl
die außerehelichen Affären ihres Ehemanns Bill zur Last, mal
beschimpft er sie als Kriminelle, die ins Gefängnis gehöre,
nicht ins Weiße Haus. Die Clintons, wetterte er in der Nacht zu
Mittwoch, hätten persönliche
Bereicherung zu einer wahren
Kunstform entwickelt: „Wir können unsere Probleme nicht lösen, wenn wir auf Politiker zählen, die diese Probleme erst geschaffen haben.“
Die Demokratin konterte
mit der Warnung, es wäre viel
zu riskant, einem charakterlich
so labilen, so unberechenbaren Mann wie Trump den Koffer mit dem Atombomben-Freigabecode zu überlassen. Dieser
Hasardeur wolle gewinnen, in-
Die „Superdelegierten“ der Demokraten
■■ Superdelegierte (englisch:
superdelegates) sind in den
Vereinigten Staaten von Amerika
Funktionäre und Amtsträger der
Demokratischen Partei, die bei
Nominierungsparteitagen frei
und unabhängig vom Vorwahl­
ergebnis in ihrem Bundesstaat
entscheiden dürfen, für welchen
Präsidentschaftskandidaten sie
stimmen. Etwas Vergleichbares
gibt es bei der republikanischen
Konkurrenz nicht.
■■ Momentan wollen 571
Superdelegierte Hillary Clinton
ihre Stimme geben, 48 sind für
Bernie Sanders – und 95 noch
unentschlossen.
■■ Sanders hat also nur noch
dann eine Chance, als demokra­
tischer Präsidentschaftskandidat
aufgestellt zu werden, wenn
beim demokratischen Nominie­
rungsparteitag im Juli in Phila­
delphia sehr viele Superdele­
gierte von Clinton umschwenken
und Sanders wählen. (rr)
Schwerpunkt
US-Vorwahlen
DON N ERSTAG, 9. JU N I 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
Früher taugte Donald Trump zur Belustigung. Angesichts seines
Erfolgs bei den Vorwahlen ist vielen das Lachen vergangen
Bedrohliches
Phänomen
AUS NEW YORK ROBERT O. PAXTON
Donald Trump ist ein Mann
ohne Regierungserfahrung mit
Tendenz zu erstaunlichen öffentlichen Aussagen. Sein überraschender Aufstieg zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten lässt Beobachter
rätseln: Ist er ein Faschist?
Tatsächlich setzt Trump freimütig faschistische Themen
bei seinen von Gebrüll gekennzeichneten
Wahlkampfveranstaltungen. Er reitet auf einem Abstieg Amerikas herum,
für den er Obamas angebliche
Schwäche und Einwanderer verantwortlich macht. Er schlägt
drastische Lösungen vor: eine
Mauer an der Grenze zu Mexiko,
für die das Nachbarland selbst
zahlen soll; Einreiseverbote für
Muslime; die gewaltsame Ausweisung von Millionen illegalen
Einwanderern.
Solch rassistische Pläne sind
nicht mit dem Rechtsstaat vereinbar. Trump verspottet Journalisten und friedliche Demonstranten und scheint Gewalt gegen sie zu billigen. Auch im Stil
erinnert er an den Faschismus:
Theatralische Ankünfte mit dem
Flugzeug sind Hitlers Erfindung.
Auch Trump bekommt Massen
problemlos in den Griff, rüttelt
sie mit einschüchterndem Ton
und Beleidigungen auf. Sein
hervorstehender Unterkiefer
erinnert an Mussolini.
Fast zwangsläufig wird er als
Faschist bezeichnet. Doch wir
sollten dieses Etikett nur dann
vergeben, wenn es zum besseren Verständnis beiträgt. Obwohl Trumps Themen und Techniken oberflächlich betrachtet
faschistisch wirken, sind die gesellschaftliche Dynamiken hinter seinem Aufstieg andere.
Hitler und Mussolini wollten ihre Länder wieder zu alter
Größe führen, indem sie den
Einzelnen der Gemeinschaft
und einem starken Staat unterordneten. Trumps Unterstützer
wollen den Einfluss des Staates
einschränken und die Steuern,
die die Reichen zahlen müssen,
weiter senken. Die Plutokratie,
die sie anstreben, ist eine klar als
amerikanisch erkennbare Perversion von Demokratie. Auch
das historische Umfeld ist weniger unberechenbar als in Europa nach 1918 mit seinen Niederlagen, Wirtschaftskrisen und
aufstrebendem Kommunismus.
Vor nicht allzu langer Zeit erregte Trump als zügelloser Playboy Belustigung. Sein erstaunlicher politischer Erfolg beruht
auf mehreren politischen und
kulturellen Prozessen, die sich
von denen zu Zeiten Hitlers
und Mussolinis unterscheiden.
Trump einen Faschisten zu nennen hindert uns daran, diese
Prozesse wahrzunehmen und
weise mit ihnen umzugehen.
Eine Entwicklung machte
den Präsidenten der Vereinigen
Staaten von einer fähigen Führungskraft zu einem Promi. So
wurde die US-Präsidentenwahl
zu einer Show, ein bisschen vergleichbar mit der Wahl der Miss
Amerika. Die Fähigkeit eines
Kandidaten, Situationen einzuschätzen, sein Wissen, seine Er-
03
Konservative
distanzieren sich mehr
und mehr von Trump
DEBATTE
BERLIN taz | Noch im vergange-
nen Sommer nahm die breite
Öffentlichkeit Donald Trump
als vorübergehendes Phänomen
wahr. Eine bizarre Sommerunterhaltung, die hohe Einschaltquoten bescherte und weitere
Skurrilitäten in Aussicht stellte.
Doch Donald Trump ging nicht
vorüber.
Stattdessen ist er nun Kandidat der Republikaner geworden
und wird von Teilen der US-Gesellschaft als ernstzunehmende
Bedrohung gesehen. Unter anderem Reporterlegende Carl
Bernstein hat diese Diskussion
aus linken und intellektuellen
„Trump hat eine
Herrschaft des Mobs
angestoßen“
ROBERT KAGAN, EXREGIERUNGSBERATER
Was geht in diesem Kopf vor? Will man vielleicht gar nicht so genau wissen. Zumindest kommt nichts Gutes raus Foto: Mark Peterson/Redux/laif
Egozentrisch, impulsiv. Faschist?
REPUBLIKANER Donald Trump hat faschistische Tendenzen. Dennoch sollte man
dieses Etikett nicht leichtfertig vergeben, meint der US-Historiker Robert O. Paxton
fahrung und seine Führungsqualitäten sind für viele Wähler weniger wichtig als seine
Anziehungskraft – ein trivialisiertes Echo des Charismas faschistischer Führer.
Das Fernsehen hat wesentlich
dazu beigetragen, US-Präsidentschaftswahlen in Beliebtheitswettbewerbe zu verwandeln.
John F. Kennedy wurde 1960 unter anderem Präsident, weil er
vor Kameras gut ankam – anders
als der paranoide, schwitzende
Nixon. Ronald Reagan wurde
1980 zumindest teilweise wegen seines selbstbewussten Lachens gewählt.
Vor den 1970er Jahren wurden US-Präsidentschaftskandidaten von ein paar Parteihonoratioren quasi im Raucherzimmer bestimmt. Erst nach den
Jugendprotesten der 1960er
spielten die Bürger eine größere Rolle bei der Kandidatenauswahl. Dazu haben die Bundesstaaten ganz verschiedene
Prozeduren eingeführt, etwa
Vorwahlen (wie in New Ham­
shire) oder Stadtversammlungen (wie in Iowa).
Doch in allen Fällen wird tendenziell der Kandidat gewählt,
den die normalen Bürger persönlich „mögen“. So wanderte
die Kontrolle darüber, wer als
Präsidentschaftskandidat aufgestellt wird, von den Führern
der Parteien zu den militantesten Aktivisten. Davon profitierten Außenseiter wie der Demokrat Bernie Sanders und der Republikaner Donald Trump.
Der Abstieg der unteren Mittelklasse, bekannt aus der klassischen Soziologie des Faschismus, wird im Amerika des 21.
Jahrhunderts wieder aufgelegt.
Anstelle der allgemeinen Krise
ist der Grund nun aber die wirtschaftliche Erholung seit 2008,
die bei den Mittel- und Unterschichten nicht ankommt. So
wachsen nebeneinander neue
Vermögen – und Armut.
Während Dienstleistungen
und die Finanzbranche gedeihen, leben ganze Mittelklassesegmente schlechter als ihre
Eltern, eine Erniedrigung, mit
der niemand in den USA gerechnet hatte. Die Opfer sind
weiß, männlich, schlecht ausgebildet, wirtschaftlich frus­
triert – und unvorbereitet darauf, an der von Technologie angetriebenen wirtschaftlichen
Gesundung teilzunehmen. Sie
glauben, dass Faulenzer in Barack Obamas Amerika ungerechte Vorteile genießen. Ihr unbestimmter, aber bitterer Hass
auf Schwarze, Frauen, Schwule
und alle, die „politisch korrekt“
sind, verbindet sie mit Trump.
Trumps Anhänger „mögen“
ihn also aus Gründen, die für
seine Eignung zum Präsidentschaftsamt irrelevant sind. Sie
wollen einen Anti-Obama, der
das Werk des derzeitigen Präsidenten rücksichtslos zerstört, statt Konsens zu suchen.
Trumps Eitelkeit, seine persönliche Grobheit, seine Angeberei
zeigt ihnen nur, dass er als Präsident kühn zuschlagen würde.
Sie haben weder die Fähigkeit noch den Wunsch, zu verstehen, wie sehr ein Präsident
Trump ihrem wirtschaftlichem
Wohlergehen schaden könnte.
Sie sehen ihn als Retter, nicht
als potenziellen Diktator. Deshalb sind sie sich nicht der Gefahr bewusst, die es bedeutet,
die immense Macht eines USPräsidenten einem derart impulsiven und egozentrischen
Menschen in die Hand zu geben.
Ausschlaggebend sind die sozialen Medien: Trump ist ein ab-
soluter Meister auf Twitter, Face­
book und dergleichen. Seine
Partei ist eine virtuelle Partei
elektronischer Fans. Er ist ein
Virtuose der Medienexplosion
des 21. Jahrhunderts.
Wenn Trump Präsident wird,
wird dieser dünnhäutige Mann,
der keine Opposition erträgt,
wahrscheinlich mit dem Kongress, der Presse und den Gerichten
aneinandergeraten.
Würde er dann versuchen, Diktator zu werden – und uns zwingen, unsere Etikettierung zu
überdenken?
Deutsch von Rüdiger Rossig
■■ Robert O. Paxton, geboren
1932, emeritierter Geschichtsprofessor der Columbia University,
ist Experte für Faschismus
Warum Trump wählen?
■■Izabela Biel (46, New Jersey)
stimmte bei den Vorwahlen für
Trump, obwohl er für sie nicht
der ideale Kandidat ist. Aber er
sei ihr lieber als die demokratischen Kandidaten, die „alle
gleichmachen wollen,“ sagte
die im kommunistischen Polen
Aufgewachsene.
■■Paul Westendorf (53, South
Dakota) hat Trump gewählt, weil
er strikt gegen Abtreibungen ist.
Zwar kenne er die Haltung des
Kandidaten zu Schwangerschaftsabbrüchen nicht. Aber er ist
sicher, dass Trump Experten um
sich scharen und ein gutes Team
an den Start bringen kann. (ap)
Zirkeln, in der sie schon seit vergangenem Jahr geführt wurde,
herausgeholt. Er bezeichnete
Trump im März dieses Jahres
in einer Wahlsendung als „eine
neue Art Faschist“. Seine Politik sei autoritär-demagogisch
und führe zu Despotismus. Die
US- Öffentlichkeit müsse die faschistoiden Tendenzen Trumps
endlich diskutieren.
Die Debatte wird nun geführt, und zwar intensiv. In einem Beitrag für die Washington Post schrieb Robert Kagan,
profilierter Neokonservativer,
einen Meinungsbeitrag unter
dem Titel „So kommt der Faschismus nach Amerika“. Darin schreibt er, das Phänomen
Trump habe sich längst von der
Partei, die ihn nominieren wird,
abgelöst. Diese fungiere höchstens noch als Wegbereiter „dieser einzigartigen Bedrohung für
unsere Demokratie“. Das Phänomen Trump sei inzwischen sogar größer als Trump selbst. Und
gefährlicher. Trump habe eine
„Herrschaft des Mobs“ angestoßen. So etwas sei in anderen
Staaten im vergangenen Jahrhundert aufgekommen „und
wurde im Allgemeinen Faschismus genannt“, schreibt Kagan.
Die Republikaner beteiligen
sich nicht an der Debatte. Aber
diese entfaltet dennoch auch
unter ihnen Wirkung. Nach den
jüngsten rassistischen Ausfällen
Trumps gegen einen Richter lateinamerikanischer Abstammung distanzierte sich eine
Reihe von Republikanern von
ihm. Der Sprecher des Repräsentantenhauses und formell
ranghöchste Republikaner Paul
Ryan bescheinigte Trump „rassistische“ Worte.
Im Senat sind prominente
Absetzbewegungen zu beobachten. Senator Bob Corker etwa,
sagte, es könne sein, dass er
seine Unterstützung für Trump
zurückziehe, wenn der voraussichtliche Kandidat eine gewisse
Linie überschreite. Senator Lindsey Graham, auch er ein politisches Schwergewicht, rief seine
Kollegen bereits dazu auf, ihre
Unterstützung zu revidieren. „Es
wird eine Zeit kommen“, zitieren
ihn US-Medien, „wenn die Liebe
zum Land den Hass auf Hillary
übertrumpft.“ BARBARA JUNGE