Uber und Co. sind jetzt die Guten

Ohne Stimme
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Indonesien streitet über das Blutbad
an Kommunisten vor 50 Jahren.
Die Überlebenden werden von der
Regierung nur zögerlich unterstützt,
die Günstlinge der Diktatur reagieren
darauf aber aggressiv.
Von Anett Keller
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Studie: Bei Mietsteigerungen ist Berlin Venezuela bleibt vorläufig Mitglied der
unter 20 Großstädten SpitzenreiOrganisation Amerikanischer
ter. Von Jana Frielinghaus
Staaten. Von André Scheer
Bundesregierung will Übernahme von
Roboterproduzent Kuka durch
China verhindern
Aufklärung als Affront
Erdogan zieht Botschafter aus Berlin ab: Fast einstimmig beschließt Bundestag
Resolution zum Völkermord an Armeniern. Von Nick Brauns und Michael Merz
REUTERS
D
ie Armenier nennen es
Aghet (»Katastrophe«),
die deutschen Parlamenta­
rier seit gestern Völkermord. Bis zu
1,5 Millionen Menschen verloren
unter Verantwortung der jungtürki­
schen Regierung des Osmanischen
Reiches in den Jahren 1915 und 1916
ihr Leben. Auf die Charakterisierung
der damaligen Todesmärsche und
Massaker als Genozid verständigte
sich der Bundestag am Donnerstag
mit großer Mehrheit. Es gab eine
Gegenstimme und eine Enthaltung
zum entsprechenden Antrag. Bun­
destagspräsident Norbert Lammert
(CDU) erklärte in der vorangegange­
nen Debatte, das Parlament sei keine
Historikerkommission und kein Ge­
richt. Es wolle aber »unbequemen
Fragen und Antworten nicht aus dem
Weg gehen«, auch weil das Deutsche
Reich als Bündnispartner Mitschuld
auf sich geladen habe.
Der Linke-Abgeordnete Gregor
Gysi betonte, es gehe darum, die
Geschehnisse »endlich als das (zu)
benennen, was es war«. Kritik üb­
te er an Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU), Vizekanzler Sigmar
Gabriel und Außenminister FrankWalter Steinmeier (beide SPD), die
der Abstimmung demonstrativ fern­
blieben. »Nicht besonders mutig«,
kommentierte Gysi und machte zu­
dem deutlich, dass CDU und CSU
einen gemeinsamen Antrag mit der
Linksfraktion für die Resolution
verhindert hätten. Sevim Dagdelen,
Linke-Sprecherin für internationale
Beziehungen, erklärte, die Anerken­
nung als Völkermord sei »ein Sieg
der Gerechtigkeit, ein Sieg der Auf­
klärung«.
Für die türkische Regierung ist
die Resolution hingegen ein Affront.
Späte Genugtuung: Vertreter der armenischen Gemeinde in Deutschland am Donnerstag auf der Besuchertribüne des
Bundestags in Berlin
»Die Entscheidung, die das deutsche
Parlament soeben getroffen hat, ist
eine Entscheidung, die die Beziehun­
gen zwischen Deutschland und der
Türkei ernsthaft beeinflussen wird«,
drohte Staatspräsident Recep Tayyip
Erdogan am Nachmittag. Umgehend
beorderte er den Botschafter aus
Berlin zu Konsultationen in die Tür­
kei. Der Geschäftsträger der deut­
schen Botschaft in Ankara wurde zu­
dem ins dortige Außenministerium
zitiert.
Noch am Mittwoch abend hatten
vor dem Brandenburger Tor rund
5.000 türkische Nationalisten ge­
gen die Charakterisierung der Mas­
senmorde als Genozid protestiert.
Das Spektrum reichte von ErdoganAnhängern über die faschistischen
Graue Wölfe, Personen aus dem
salafistischen Spektrum bis hin
zu Muslimbrüdern aus Syrien und
Ägypten. Auffällig war zudem eine
große Gruppe des rockerähnlichen
»Osmanen Germania Boxclubs«.
»In der Türkei hat es niemals einen
Völkermord gegeben«, erklärte der
bekannte türkische Geschichtsrevi­
sionist Ali Söylemezoglu. Es habe
sich bei den »Umsiedlungen« der
Armenier um Vaterlandsverteidi­
gung gehandelt.
Die Verein Türkische Gemeinde
Hamburg und Umgebung trat mit ei­
nem von 25 Mitgliedsverbänden un­
terzeichneten Schreiben an die Ab­
geordneten des Bundestages heran,
in dem sie sich gegen den Beschluss
aussprachen. Doch offenbar waren
mehrere Verbände zuvor von der Ge­
meindevorsitzenden Nebahat Güclü
gar nicht als Unterzeichner angefragt
worden. Dies bestätigten Vertreter
von Sport-, Rentner- und Musikver­
einen gegenüber dem Hamburger
Nachrichtenportal Avrupa Postasi.
Einige überlegen nun, aus der TGH
auszutreten, da der Aufruf zu der
Genozidleugnerkundgebung nicht
ihrem Selbstverständnis entspreche.
Die TGH-Vorsitzende Nebahat Gü­
clü war bereits im Frühjahr 2015 in
die Schlagzeilen geraten, als sie –
noch als Bürgerschaftsabgeordnete
der Hamburger Grünen – auf einer
Veranstaltung der zu den Grauen
Wölfen gehörenden Türkischen Fö­
deration auftrat.
Siehe Kommentar Seite 8
Uber und Co. sind jetzt die Guten
EU-Kommission stärkt kreativen Marktzerstörern der sogenannten Sharing Economy den Rücken
B
rüssel prescht wieder einmal
vor: Die EU-Kommission
will Unternehmen der soge­
nannten Sharing Economy – wie die
US-Plattformen Uber oder Airbnb
– den Rücken stärken. Sie ruft die
Mitgliedsstaaten dazu auf, die Chan­
cen dieser neuen Geschäftsmodelle
zu nutzen, deren Basis die vermeint­
lich kreative Zerstörung bestehender
Dienstleistungsstrukturen ist und die
dabei zahllosen (Schein-)Selbständi­
gen das Arbeiten bzw. das unterneh­
merische Risiko überlässt.
»Die Sharing Economy ist eine
Chance für Verbraucher, Einzelunter­
nehmer und Unternehmen – wenn wir
die richtigen Maßnahmen ergreifen«,
teilte EU-Binnenmarktkommissarin
Elzbieta Bienkowska am Donnerstag
in Brüssel mit. Die Kommission ver­
öffentlichte einen Leitlinienkatalog,
in dem die bereits bestehenden EUGesetze für den Umgang mit Firmen
dieser Art aufgelistet sind. Dadurch
soll ein einheitliches Vorgehen in al­
len Mitgliedsstaaten erreicht werden.
Die Brüsseler Superbehörde fühl­
te sich zum Handeln berufen, weil
nationale und lokale Zuständige mit
einem »Flickenteppich verschiedener
Regulierungsmaßnahmen« auf den
schnell wachsenden Markt der Sha­
ring Economy reagiert hätten. Diese
»uneinheitliche Behandlung neuer
Geschäftsmodelle« schaffe Unsicher­
heit für herkömmliche Unternehmen,
neue Dienstleistungsanbieter und die
Verbraucher. Außerdem könne sie
Innovationen, die Entstehung von
Arbeitsplätzen und Wachstum behin­
dern. »Wir bieten jetzt Behörden und
Marktteilnehmern rechtliche Orien­
tierungshilfen für die ausgewogene
und nachhaltige Entwicklung die­
ser neuen Geschäftsmodelle«, teilte
Bienkowska mit.
Die Kommission rät unter anderem
dazu, keine eigenen Genehmigungsoder Zulassungspflichten für die Sha­
ring Economy anzuwenden. Beifall
kam vom Lager der deutschen Unter­
nehmerlobby: »Die Initiative der EU
ist generell wichtig und richtig«, hieß
es vom Institut der deutschen Wirt­
schaft Köln. (AFP/jW)
Steinmeier in Argentinien
eingetroffen
ENRIQUE MARCARIAN/REUTERS
Vom Flüchtlingslager zur Stadt:
Reportage aus dem kurdischen
Machmur im Nordirak
Buenos Aires. Zum Auftakt einer
einwöchigen Lateinamerikareise ist
der deutsche Außenminister FrankWalter Steinmeier am Donnerstag in
Argentinien eingetroffen. Dort will
er sich unter anderem mit dem neu­
gewählten neoliberalen Präsidenten
Mauricio Macri treffen. Steinmeier
will sich in der Hauptstadt Buenos
Aires auch mit Familien von Opfern
der argentinischen Militärdiktatur
(1976–1983) zusammenkommen.
Unter den bis zu 30.000 Menschen,
die damals getötet wurden, waren
auch mehrere Dutzend Deutsche
und Deutschstämmige. Vertreter von
Überlebenden und Hinterbliebenen
forderten von Steinmeier klare Wor­
te zur deutschen Haltung. Der Opfer­
anwalt Wolfgang Kaleck appellierte
an den Außenminister, das Thema
in den Gesprächen mit Macri nicht
auszusparen. Er erwarte zudem, dass
das Auswärtige Amt seine damalige
Rolle aufarbeiten lasse. (dpa/jW)
Karlsruhe bleibt
Antwort schuldig
Karlsruhe. Sind Leistungskürzungen
bei Hartz-IV-Bezieher geeignet, die
Betroffenen in ihren Grundrechten
zu verletzen? Diese Frage hatte
das Sozialgericht Gotha 2015 dem
Bundesverfassungsgericht gestellt.
Dort bleibt man eine Antwort in
der Sache schuldig. Die höchsten
Richter lehnten in einem Beschluss
vom 6. Mai, der am Donnerstag
veröffentlicht wurde, die Vorlage
aus formalen Gründen ab.
Das Sozialgericht hatte über die
Klage eines Arbeitslosen zu ent­
scheiden, dem das Jobcenter Erfurt
2014 seine Leistungen zunächst
um 30 Prozent des Regelsatzes von
damals 391 Euro und später noch
einmal um 60 Prozent gekürzt hat­
te. Er habe einmal verhindert, dass
ein zumutbares Beschäftigungs­
verhältnis zustande kam, und trotz
Belehrung bei einem Arbeitgeber
einen Aktivierungs- und Vermitt­
lungsgutschein nicht eingelöst, hat­
te ihm das Amt vorgeworfen. (Az. 1
BvL 7/15) (jW)
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