Ohne Stimme PICTURE ALLIANCE Indonesien streitet über das Blutbad an Kommunisten vor 50 Jahren. Die Überlebenden werden von der Regierung nur zögerlich unterstützt, die Günstlinge der Diktatur reagieren darauf aber aggressiv. Von Anett Keller SEITEN 12/13 GEGRÜNDET 1947 · FREITAG, 3. JUNI 2016 · NR. 127 · 1,50 EURO (DE), 1,70 EURO (AT), 2,20 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT WWW.JUNGEWELT.DE Selbst erbaut Nicht bezahlbar Fast ausgeschlossen Wenig begeistert 3 5 7 9 Studie: Bei Mietsteigerungen ist Berlin Venezuela bleibt vorläufig Mitglied der unter 20 Großstädten SpitzenreiOrganisation Amerikanischer ter. Von Jana Frielinghaus Staaten. Von André Scheer Bundesregierung will Übernahme von Roboterproduzent Kuka durch China verhindern Aufklärung als Affront Erdogan zieht Botschafter aus Berlin ab: Fast einstimmig beschließt Bundestag Resolution zum Völkermord an Armeniern. Von Nick Brauns und Michael Merz REUTERS D ie Armenier nennen es Aghet (»Katastrophe«), die deutschen Parlamenta rier seit gestern Völkermord. Bis zu 1,5 Millionen Menschen verloren unter Verantwortung der jungtürki schen Regierung des Osmanischen Reiches in den Jahren 1915 und 1916 ihr Leben. Auf die Charakterisierung der damaligen Todesmärsche und Massaker als Genozid verständigte sich der Bundestag am Donnerstag mit großer Mehrheit. Es gab eine Gegenstimme und eine Enthaltung zum entsprechenden Antrag. Bun destagspräsident Norbert Lammert (CDU) erklärte in der vorangegange nen Debatte, das Parlament sei keine Historikerkommission und kein Ge richt. Es wolle aber »unbequemen Fragen und Antworten nicht aus dem Weg gehen«, auch weil das Deutsche Reich als Bündnispartner Mitschuld auf sich geladen habe. Der Linke-Abgeordnete Gregor Gysi betonte, es gehe darum, die Geschehnisse »endlich als das (zu) benennen, was es war«. Kritik üb te er an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Vizekanzler Sigmar Gabriel und Außenminister FrankWalter Steinmeier (beide SPD), die der Abstimmung demonstrativ fern blieben. »Nicht besonders mutig«, kommentierte Gysi und machte zu dem deutlich, dass CDU und CSU einen gemeinsamen Antrag mit der Linksfraktion für die Resolution verhindert hätten. Sevim Dagdelen, Linke-Sprecherin für internationale Beziehungen, erklärte, die Anerken nung als Völkermord sei »ein Sieg der Gerechtigkeit, ein Sieg der Auf klärung«. Für die türkische Regierung ist die Resolution hingegen ein Affront. Späte Genugtuung: Vertreter der armenischen Gemeinde in Deutschland am Donnerstag auf der Besuchertribüne des Bundestags in Berlin »Die Entscheidung, die das deutsche Parlament soeben getroffen hat, ist eine Entscheidung, die die Beziehun gen zwischen Deutschland und der Türkei ernsthaft beeinflussen wird«, drohte Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan am Nachmittag. Umgehend beorderte er den Botschafter aus Berlin zu Konsultationen in die Tür kei. Der Geschäftsträger der deut schen Botschaft in Ankara wurde zu dem ins dortige Außenministerium zitiert. Noch am Mittwoch abend hatten vor dem Brandenburger Tor rund 5.000 türkische Nationalisten ge gen die Charakterisierung der Mas senmorde als Genozid protestiert. Das Spektrum reichte von ErdoganAnhängern über die faschistischen Graue Wölfe, Personen aus dem salafistischen Spektrum bis hin zu Muslimbrüdern aus Syrien und Ägypten. Auffällig war zudem eine große Gruppe des rockerähnlichen »Osmanen Germania Boxclubs«. »In der Türkei hat es niemals einen Völkermord gegeben«, erklärte der bekannte türkische Geschichtsrevi sionist Ali Söylemezoglu. Es habe sich bei den »Umsiedlungen« der Armenier um Vaterlandsverteidi gung gehandelt. Die Verein Türkische Gemeinde Hamburg und Umgebung trat mit ei nem von 25 Mitgliedsverbänden un terzeichneten Schreiben an die Ab geordneten des Bundestages heran, in dem sie sich gegen den Beschluss aussprachen. Doch offenbar waren mehrere Verbände zuvor von der Ge meindevorsitzenden Nebahat Güclü gar nicht als Unterzeichner angefragt worden. Dies bestätigten Vertreter von Sport-, Rentner- und Musikver einen gegenüber dem Hamburger Nachrichtenportal Avrupa Postasi. Einige überlegen nun, aus der TGH auszutreten, da der Aufruf zu der Genozidleugnerkundgebung nicht ihrem Selbstverständnis entspreche. Die TGH-Vorsitzende Nebahat Gü clü war bereits im Frühjahr 2015 in die Schlagzeilen geraten, als sie – noch als Bürgerschaftsabgeordnete der Hamburger Grünen – auf einer Veranstaltung der zu den Grauen Wölfen gehörenden Türkischen Fö deration auftrat. Siehe Kommentar Seite 8 Uber und Co. sind jetzt die Guten EU-Kommission stärkt kreativen Marktzerstörern der sogenannten Sharing Economy den Rücken B rüssel prescht wieder einmal vor: Die EU-Kommission will Unternehmen der soge nannten Sharing Economy – wie die US-Plattformen Uber oder Airbnb – den Rücken stärken. Sie ruft die Mitgliedsstaaten dazu auf, die Chan cen dieser neuen Geschäftsmodelle zu nutzen, deren Basis die vermeint lich kreative Zerstörung bestehender Dienstleistungsstrukturen ist und die dabei zahllosen (Schein-)Selbständi gen das Arbeiten bzw. das unterneh merische Risiko überlässt. »Die Sharing Economy ist eine Chance für Verbraucher, Einzelunter nehmer und Unternehmen – wenn wir die richtigen Maßnahmen ergreifen«, teilte EU-Binnenmarktkommissarin Elzbieta Bienkowska am Donnerstag in Brüssel mit. Die Kommission ver öffentlichte einen Leitlinienkatalog, in dem die bereits bestehenden EUGesetze für den Umgang mit Firmen dieser Art aufgelistet sind. Dadurch soll ein einheitliches Vorgehen in al len Mitgliedsstaaten erreicht werden. Die Brüsseler Superbehörde fühl te sich zum Handeln berufen, weil nationale und lokale Zuständige mit einem »Flickenteppich verschiedener Regulierungsmaßnahmen« auf den schnell wachsenden Markt der Sha ring Economy reagiert hätten. Diese »uneinheitliche Behandlung neuer Geschäftsmodelle« schaffe Unsicher heit für herkömmliche Unternehmen, neue Dienstleistungsanbieter und die Verbraucher. Außerdem könne sie Innovationen, die Entstehung von Arbeitsplätzen und Wachstum behin dern. »Wir bieten jetzt Behörden und Marktteilnehmern rechtliche Orien tierungshilfen für die ausgewogene und nachhaltige Entwicklung die ser neuen Geschäftsmodelle«, teilte Bienkowska mit. Die Kommission rät unter anderem dazu, keine eigenen Genehmigungsoder Zulassungspflichten für die Sha ring Economy anzuwenden. Beifall kam vom Lager der deutschen Unter nehmerlobby: »Die Initiative der EU ist generell wichtig und richtig«, hieß es vom Institut der deutschen Wirt schaft Köln. (AFP/jW) Steinmeier in Argentinien eingetroffen ENRIQUE MARCARIAN/REUTERS Vom Flüchtlingslager zur Stadt: Reportage aus dem kurdischen Machmur im Nordirak Buenos Aires. Zum Auftakt einer einwöchigen Lateinamerikareise ist der deutsche Außenminister FrankWalter Steinmeier am Donnerstag in Argentinien eingetroffen. Dort will er sich unter anderem mit dem neu gewählten neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri treffen. Steinmeier will sich in der Hauptstadt Buenos Aires auch mit Familien von Opfern der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983) zusammenkommen. Unter den bis zu 30.000 Menschen, die damals getötet wurden, waren auch mehrere Dutzend Deutsche und Deutschstämmige. Vertreter von Überlebenden und Hinterbliebenen forderten von Steinmeier klare Wor te zur deutschen Haltung. Der Opfer anwalt Wolfgang Kaleck appellierte an den Außenminister, das Thema in den Gesprächen mit Macri nicht auszusparen. Er erwarte zudem, dass das Auswärtige Amt seine damalige Rolle aufarbeiten lasse. (dpa/jW) Karlsruhe bleibt Antwort schuldig Karlsruhe. Sind Leistungskürzungen bei Hartz-IV-Bezieher geeignet, die Betroffenen in ihren Grundrechten zu verletzen? Diese Frage hatte das Sozialgericht Gotha 2015 dem Bundesverfassungsgericht gestellt. Dort bleibt man eine Antwort in der Sache schuldig. Die höchsten Richter lehnten in einem Beschluss vom 6. Mai, der am Donnerstag veröffentlicht wurde, die Vorlage aus formalen Gründen ab. Das Sozialgericht hatte über die Klage eines Arbeitslosen zu ent scheiden, dem das Jobcenter Erfurt 2014 seine Leistungen zunächst um 30 Prozent des Regelsatzes von damals 391 Euro und später noch einmal um 60 Prozent gekürzt hat te. Er habe einmal verhindert, dass ein zumutbares Beschäftigungs verhältnis zustande kam, und trotz Belehrung bei einem Arbeitgeber einen Aktivierungs- und Vermitt lungsgutschein nicht eingelöst, hat te ihm das Amt vorgeworfen. (Az. 1 BvL 7/15) (jW) wird herausgegeben von 1.841 Genossinnen und Genossen (Stand 2.6.2016) n www.jungewelt.de/lpg
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