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Ansprache Seiner Majestät
Willem-Alexander König der
Niederlande bei seinem Besuch im
Europäischen Parlament, Brüssel,
25. Mai 2016
Herr Präsident, meine Damen und Herren
Abgeordnete des Europäischen Parlaments!
Es ist für mich etwas Besonderes, während der
niederländischen Präsidentschaft des Rates der
Europäischen Union in Ihrer Mitte zu sein. Sie
vertreten die Bürger der Union auf europäischer
Ebene. Ihre Wünsche und Erwartungen, aber auch
ihre Sorgen und ihre Ängste. Ihre Ideale und ihre
Hoffnungen, aber auch ihre Enttäuschungen und
ihren Zorn. Alles, was die europäischen Wähler
bewegt, kommt hier zusammen und darf hier
gesagt und gehört werden.
Sie haben eine wichtige Aufgabe. Auch eine
schwierige Aufgabe. Gerade jetzt. Es weht ein
rauher Wind durch Europa. Viel von dem, was uns
Europäern am Herzen liegt, steht unter Druck.
Vor zwei Monaten wurde diese Stadt, wurde
dieser Bezirk von extremistischen Anschlägen
getroffen, bei denen 32 Menschen aus
verschiedenen Ländern ums Leben kamen. Wir
denken heute an die Hinterbliebenen, die fürs
Leben gezeichnet sind durch Schmerz und
Kummer, und an die Verwundeten, die alle Kraft
darauf verwenden, wieder gesund zu werden.
Brüssel – die Stadt, in der die europäischen Fäden
zusammenlaufen – wurde ins Herz getroffen.
Ebenso wie Paris im vergangenen Jahr. Und so
viele andere Städte in Ländern benachbarter
Regionen. Ich nenne Ankara, Aleppo, Beirut,
Bagdad, Sousse, Lahore.
Gewalt und Unterdrückung beherrschen das Leben
von Millionen Menschen im Umfeld Europas.
Ganze Gesellschaften sind aus den Fugen geraten.
Viele wissen sich keinen Rat mehr und sehen sich
zur Flucht gezwungen. Das verlangt den Ländern,
die die größten Flüchtlingsströme aufnehmen, viel
ab: dem Libanon, Jordanien, der Türkei und einer
Reihe von Ländern in Afrika. Auch die
Mitgliedstaaten der Europäischen Union
bekommen die Folgen der Flüchtlingskrise zu
spüren, einige mehr als andere. Die soziale
Belastbarkeit der Mitgliedstaaten und die
Solidarität innerhalb der Union werden dadurch
auf die Probe gestellt.
Menschen haben das Bedürfnis nach Schutz, nach
einem Ort, an dem sie sich wirklich zu Hause
fühlen können. Oder wie der deutsche Philosoph
Rüdiger Safranski schrieb: »Wir können global
kommunizieren und reisen, wir können aber nicht
im Globalen wohnen. Wohnen können wir nur hier
oder dort.«
Es gilt, sich dieses menschliche Verlangen nach
einem eigenen Platz in der Welt stets vor Augen
zu halten. Für viele Europäer ist das eigene Land
dabei ein wichtiger Fixpunkt, mit seiner
Geschichte, seiner Tradition und seinem
Brauchtum, die sie als etwas ihnen Eigenes
empfinden.
Das gilt auch für die 17 Millionen Einwohner des
europäischen Teils des Königreichs der
Niederlande. Niederländer lieben ihr Land und
sind stolz auf das Erbe Erasmus’, Hugo Grotius’,
Spinozas, Rembrandts, van Goghs, Cornelis Lelys
und Johan Cruyffs.
Doch bei aller Bindung und Liebe zum eigenen
Land dürfen wir niemals vergessen, was wir der
breiteren europäischen Zivilisation und den
Völkern und Kulturen um uns herum zu verdanken
haben. Darunter nicht unbedeutende Werte.
Es waren die Griechen, die das Fundament für die
demokratische Staatsform legten, die uns heute
so wichtig ist.
Die Italiener schenkten uns die Renaissance, eine
sprudelnde Quelle der Erneuerung in Kultur und
Wissenschaft.
Es war der französische Einwanderer Christophe
Plantin, der am Ende des sechzehnten
Jahrhunderts die allerersten Wörterbücher der
niederländischen Sprache herausgab.
Deutsche und französische Denker wie Leibniz
und Voltaire schufen die Grundlagen für unsere
Aufklärung.
Und es waren unsere britischen und unsere
polnischen Verbündeten, die unter großen Opfern
1944 und 1945 die Freiheit der Niederlande
erkämpften.
Errungenschaften sind selten rein nationalen
Ursprungs. Je tiefer man gräbt, umso stärker sind
die Wurzelwerke unserer Länder und Kulturen
miteinander verflochten und verwachsen. Ein
Territorium kann man abgrenzen, eine Kultur nicht.
Europa steht auch für ein Zivilisationsideal von
persönlicher Freiheit und Menschenwürde, von
Gleichberechtigung und Mitmenschlichkeit.
Zweimal hat meine Mutter vor diesem Plenum
gesprochen: 1984 und 2004. Sie erinnerte an die
hohen Erwartungen, die viele junge Menschen
Anfang der sechziger Jahre an Europa hegten. Sie
sagte: »Was mit so prosaischen Bausteinen wie
Kohle und Stahl begonnen hatte, wuchs zu einer
Bewegung heran, die die Trennmauern in Europa
beseitigen, den Frieden wahren und unserem
Kontinent neue Dynamik und Energie verleihen
sollte.«
Ich wurde 1967 geboren. Ein prägender Moment
für meine Generation war 1989, als Trennmauern
zwischen Ost- und Westeuropa, die unantastbar
schienen, ins Wanken gerieten und einstürzten.
Das Ende des Kalten Krieges war der Beginn eines
neuen Zeitalters. Neue Verbindungen wurden
möglich. Und es wurde deutlich, dass die Länder
Europas eine gemeinsame Verantwortung haben.
Nach und nach kam noch eine andere Erkenntnis
hinzu. Die Stellung Europas in der Welt hat sich
innerhalb weniger Generationen verändert.
Europa gibt nicht mehr automatisch den Ton im
Denken an. Wir sind nicht mehr das Zentrum der
Welt, weder wirtschaftlich noch geopolitisch noch
kulturell. Die Werte, die wir als universell erachten,
werden nicht überall für selbstverständlich
gehalten und sind an vielen Orten in Bedrängnis.
Gerade weil wir an diese Werte und an unsere
gemeinsame Tradition glauben, ist unsere
Zusammenarbeit so wichtig. Sie ist nicht mehr ein
Gebot der Vergangenheit, sondern der Zukunft.
In diesen Zeiten müssen wir uns fragen: Was für
ein Europa wollen wir? Worauf wagen wir noch
stolz zu sein?
Oft haben wir die Neigung, vor allem die Probleme,
die Defizite und die Sorgen zu sehen. Aber diese
Sorgen – so groß und berechtigt sie auch sein
mögen – müssen im Kontext dessen betrachtet
werden, was auch dank der europäischen
Zusammenarbeit erreicht worden ist.
An nichts gewöhnt man sich so schnell wie an den
Frieden. Seit dem Schuman-Plan hat kein einziger
Mitgliedstaat mehr einen Schuss auf einen
anderen abgegeben. In unserer Union sind
Machtverhältnisse in Rechtsverhältnisse
eingebettet. Ich gehöre zur ersten Generation von
Europäern in der Geschichte, denen dieses Glück
zuteil wird. Und ich wünsche kommenden
Generationen dasselbe Glück.
Die Entscheidung für die europäische Integration
war eine Entscheidung für die gemeinsame
Verankerung der freien und offenen Gesellschaft
in einer gemeinschaftlichen Rechtsordnung. 500
Millionen Europäer haben in einer Union
gemeinsamer Werte zueinandergefunden.
Deren Verwirklichung und Wahrung geht bis heute
mit vielen Diskussionen und Emotionen einher.
Die Wogen schlagen mitunter hoch, auch in Ihrem
Hause. Über die Umsetzung abstrakter Werte in
konkrete Gesetze, Regeln und Pläne wird heftig
debattiert. Dabei können die Meinungen weit
auseinandergehen. Gelegentlich wird dies als
Beweis für die Schwäche Europas angesehen. Es
ist aber ein Beweis seiner Stärke. Kritische
Reflexion, Meinungsfreiheit, Diskussion und
demokratische Kontrolle in aller Offenheit sind ein
Teil von uns. Nur in Diktaturen gibt es keine
öffentliche Debatte.
Warum ist es wichtig, dass wir weiter gemeinsam
voranschreiten? Die Antwort auf diese Frage
geben wir jeden Tag selbst. Bei fast allen großen
Aufgaben, vor die wir gestellt sind, ertönt der Ruf
nach besserer Zusammenarbeit. Bewältigung von
Flüchtlingsströmen. Bekämpfung von
Menschenhandel, Terrorismus und Kriminalität.
Verbesserung unserer Energieversorgung.
Beherrschung des Klimawandels. Ermöglichung
von Wirtschaftswachstum und neuer
Beschäftigung für die über 22 Millionen Europäer,
die keine Arbeit haben. Und auch: Stärkung
unserer Position als moralisches Bollwerk gegen
die Mächte, die die Freiheit bedrohen. Bei all
diesen Aufgaben sind wir aufeinander angewiesen.
Vor 500 Jahren schrieb Erasmus: »Nichts ist
einfacher, als die zu besiegen, die uneins sind.«
Europa ist in seiner Vielfalt geeint. Jeder leistet
einen unentbehrlichen Beitrag zum Ganzen. Der
europäische Blumenstrauß ist unvollständig ohne
die spanische Nelke, die französische Lilie, den
griechischen Akanthus, die dänische Margerite,
die deutsche Kornblume, das österreichische
Edelweiß, die kroatische Iris und die holländischen
und ungarischen Tulpen. Und ohne die englische
Rose.
Die Europäische Union kann der Welt erhobenen
Hauptes entgegentreten. Aber das enthebt uns
nicht von der Pflicht, offen zu sein für Kritik und
uns auch selbst kritisch zu betrachten.
Oft gehen wir drängende gemeinsame Fragen erst
an, wenn die Not so groß ist, dass es keine
Alternativen mehr gibt. So war es bei der
Bankenkrise und jüngst bei der humanitären Krise
infolge der Flüchtlingsströme aus Syrien und
anderen Konfliktgebieten. Vorausschauendes
Handeln ist keine besondere Stärke Europas.
Denn Europa kann sich immer nur so schnell
bewegen, wie die Mitgliedstaaten es zulassen. Die
Interaktion zwischen der Union und den
Mitgliedstaaten, etwa zwischen diesem Parlament
und den nationalen Parlamenten, bei neuen
Herausforderungen und Problemen, die am
Horizont erscheinen, ist daher wichtiger denn je.
Zugleich ergeben sich hieraus auch
Anforderungen an die Arbeitsweise der EU.
Dies gilt auch, wenn es um die Stärkung unserer
Wirtschaft geht. Unsere Jugend ist unser
Zukunftskapital. Tun wir genug, um ihr gute
Zukunftsperspektiven zu bieten? Man hat das
ungenutzte Potential unseres Binnenmarkts auf
1,25 Billionen Euro geschätzt. Sechzig Jahre nach
der Schaffung des gemeinsamen Marktes muss
das zu denken geben.
Wirtschaftliche und soziale Perspektiven für alle
sind von wesentlicher Bedeutung. Daran zu
arbeiten umfasst viel mehr als die Förderung von
wirtschaftlichem Wachstum durch den
Binnenmarkt. Unsere gemeinschaftliche
Rechtsordnung ist schließlich auch eine soziale
Rechtsordnung. Es geht auch um
Chancengleichheit.
Das Recht, in einem anderen Mitgliedstaat zu
studieren, zu arbeiten, unternehmerisch tätig zu
sein und Leistungen in Anspruch zu nehmen, ist
eine phantastische Errungenschaft. Aber wir
dürfen niemals die Perspektive der
Daheimgebliebenen vergessen. Nach ihrem
Empfinden kommen nicht so sehr neue
Möglichkeiten hinzu, sondern nur neue
Konkurrenten. Europa, das bedeutet heute für
einige Entfaltung, für andere Einengung.
Die Sorge vieler Menschen über dieses Europa
mischt sich leicht mit Unbehagen an der Art und
Weise, wie die Europäische Union regiert wird. Für
manche ist Brüssel eher ein Buhmann und ein
Synonym für ständige Einmischung als ein
Verbündeter.
Lange hat man versucht, an einem Idealbild von
Europa festzuhalten. Das Bild eines immer weiter
fortschreitenden Ausbaus des europäischen
Bauwerks. Doch wie beim Bau einer stabilen
Brücke muss man auch hier auf die
Materialgesetze von Spannung und Dehnung und
auf die Verankerung im Fundament achten, um
einen Bruch zu vermeiden.
Diese Notwendigkeit zur Stärkung des Tragwerks
wird in den europäischen Institutionen, und auch
im Europäischen Parlament, anerkannt. Die
Antwort lautet: nicht mehr Regeln, sondern
Regeln, die besser funktionieren. Konzentration
Europas auf die wesentlichen Aufgaben, die
wirklich gemeinsames Handeln erfordern.
Möglichst bürgernahe Entscheidungen.
Das stärkt nicht nur die Effektivität der EU,
sondern trägt auch der Befürchtung der Bürger
Rechnung, die Kontrolle über Entwicklungen zu
verlieren und ihre kulturelle Identität einzubüßen.
Zu europäischen Bürgern können sie nur dann
werden, wenn sie sich weiterhin im eigenen Land,
in der eigenen Stadt oder im eigenen Dorf
heimisch fühlen. Europa beginnt in der Wohnstube.
Ein stolzer Europäer ist – und muss auch sein –
ein stolzer Finne, Franzose, Pole, Portugiese, Brite,
Bulgare, Grieche, Deutscher oder Niederländer.
Keine politische Ordnung kommt ohne enges Band
zu den Bürgern aus. Die Europäische Union darf
kein Eliteprojekt sein; alle Bürger der
Mitgliedstaaten müssen sich in der Union zu
Hause fühlen können. Denn die Europäische Union
gehört uns allen. Dem Professor. Dem
Lastwagenfahrer. Dem Kleinunternehmer. Dem
Arbeitssuchenden. Dem Rentner. Dem Flüchtling
mit einer Aufenthaltserlaubnis. Dem
Schulabgänger.
Jahr für Jahr besucht jeder dritte Europäer ein
anderes europäisches Land. Zwei Drittel tun dies
nicht. Die EU muss all diese Bürger mitnehmen.
Unsere Union ist für die Reiselustigen genauso da
wie für die Stubenhocker.
Als direkt gewähltes Organ der Europäischen
Union haben Sie dabei eine besondere
Verantwortung. Gegenüber Ihren Wählern, aber
auch gegenüber den vielen, deren Stimme in
Europa nur durch nationale Wahlen zum Ausdruck
kommt. Die Ergebnisse von Wahlen und
Referenden – auch in meinem Land – können
Entwicklungen auf europäischer Ebene kompliziert
machen. Aber die europäische Erzählung kann nur
gemeinsam geschrieben werden. Sie kann nur
dann fortgeschrieben werden, wenn Wähler und
Gewählte bereit sind, einander zuzuhören, in
Europa wie im eigenen Land.
Schon seit sechzig Jahren bauen wir mit der
europäischen Zusammenarbeit an einer Brücke in
die Zukunft. Anfangs war die Brücke schmal, doch
im Laufe der Jahre wurde das Fundament breiter,
wurden die Anforderungen größer, reichten die
Ambitionen weiter. Ob uns die Konstruktion
weiterhin tragen kann, liegt an uns. Alles hängt
davon ab, inwieweit es uns gelingt, die
Verbindungen stark und das Bauwerk stabil zu
halten. Dabei kommt Ihnen, als Vertretern der
Bürger Europas, in all ihrer Vielfalt, eine
wesentliche Bedeutung zu.
Doch so groß die Vielfalt auch ist und sosehr wir
uns auch voneinander unterscheiden – es gibt
mehr, viel mehr, was uns eint.
Ich wünsche Ihnen allen von ganzem Herzen
Erfolg bei Ihrer wichtigen Arbeit.