Musikstunde: Geigenbauer I

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Die andere Moderne
Stars and Stripes (3)
Von Bernd Künzig
Sendung:
Donnerstag, 19. Mai 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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SWR2 Musikstunde mit Bernd Künzig
Die andere Moderne, Stars and Stripes Teil 3
Signet Musikstunde
mit Bernd Künzig, der zum dritten Teil der anderen Moderne begrüßt, in dem wir
den Blick über den großen Teich werfen: Stars and Stripes.
Musikstunden-Indikativ ca. 0„20
Die amerikanischen Weiten: das ist der Mythos des wilden Westens, der vor allem
durch das Massenmedium der Moderne bekannt wurde: den Western. Wir
assoziieren gerne mit diesem Genre einen bestimmten Musikstil und können ihn
auch scheinbar in Aaron Coplands Westernballett „Rodeo“ aus dem Jahr 1942
wieder erkennen, als der filmische Western also längst etabliert war.
Musik: Aaron Copland: “Hoe-Down” aus Rodeo (1942)
(Baltimore Symphony Orchestra; David Zinman, Dirigent –
Decca 4 78 4585 LC00171) (4:28)
Das Baltimore Symphony Orchestra spielte unter der Leitung von David Zinman
den “Hoe-Down” aus Aaron Coplands Ballettmusik “Rodeo”. Heute hören wir
Coplands Musik als typische Westernmusik. Hinter der Leinwand tönt sie vor allem
in filmischen Meisterwerken aus der Ära des sogenannten Spätwesterns seit den
1970ger Jahren. Musikalisch empfinden wir Coplands Stil als nicht sonderlich
modern: zu tonal, zu folkloristisch. Doch so einfach ist die Sache gar nicht. Die
typische Westernmelodie des Hoe-Down wurde nämlich nicht von Copland
erfunden, sondern ist ein Zitat aus einem Musiktheaterwerk Virgil Thomsons, mit
dem er triumphal seine Rückkehr nach Amerika Ende der 1920er Jahre feiern
konnte. Nach Studienjahren in Paris kehrte der Komponist damit in seine Heimat
zurück. Die Ursprünge dieses „Four saints in three acts” genannten Musiktheaters
sind durch und durch europäisch. Das Libretto zu diesem den heiligen Ignatius
und die heilige Teresa umkreisenden Stück stammt von der Grande Dame der
Pariser Avantgarde: von Gertrude Stein. Im zweiten Akt, dieses einige Tendenzen
des Musiktheaters von Robert Wilson vorwegnehmenden Werkes, findet sich eine
kleine Ballettszene. Ausgerechnet diesem Tanz der Engel entnimmt Copland die
vorgebliche Hill-Billy-Melodie seines Hoe-Down.
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Musik: Virgil Thomson „Four saints in three acts – Dance of the angels”.
(1928) (Commère: Betty Allen; St. Teresa
I: Clamma Dale; St. Teresa II: Florence Quivar; St. Lawrence: Lloyod
Thompkins; Chorus; Orchestra of Our Time; Joel Thome, Dirigent
Nonesuch 9 79035) (4:26)
Der Tanz der Engel aus Virgil Thomsons “Four saints in three acts” mit den Solisten
Betty Allen, Clamma Dale, Florence Quivar, Lloyd Thompkins, dem Chor und
Orchestra of Our Time unter der Leitung von Joel Thome. Obwohl Aaron Copland
als der amerikanische Komponist schlechthin gilt, besuchte auch er wie Virgil
Thomson und viele andere Amerikaner die Kurse bei Nadia Boulanger im Paris der
Avantgarde. Das Kino, das hinter seiner Ballettmusik “Rodeo” für die meisten
Ohren durchschimmert, spielte für Copland 1921 in ganz anderer Hinsicht eine
anregende Rolle. Bei einem damaligen Kinobesuch erlag er Friedrich Wilhelm
Murnaus hypnotischem Vampiralptraum “Nosferatu”. Angeregt durch dieses
Meisterwerk des deutschen Stummfilms begann Copland, ein Ballett zu
komponieren. Die titelgebende Figur “Grogh” stammt allerdings aus Bram Stokers
Roman “Dracula”, der auch Murnau als Vorlage gedient hatte. Mit „Grogh”
schrieb Copland sein vielleicht radikalstes Stück, das zu seinen Lebzeiten nie eine
Aufführung erfuhr. Die Partitur ging verloren und wurde erst zu Beginn der 1990ger
Jahre in der Library of Congress wieder entdeckt und in Aldebrugh uraufgeführt.
Einige Teile der Balletmusik arbeitete Copland für seine abstraktere Konzeption
der “Dance Symphony” aus dem Jahr 1925 um. Wir hören einen Ausschnitt aus
Coplands originalem Ballet “Grogh” mit dem Cleveland Orchestra unter der
Leitung von Oliver Knussen.
Musik: Aaron Copland: Grogh (1922 – 25) “Grohg imagines the dead are
mocking him“ M0019252 (4:41)
Nach seiner Rückkehr wurde Copland zu dem typisch amerikanischen
Komponisten, mit der “Fanfare for a common man” sogar zu einem
Staatskomponisten der Roosevelt-Ära. Dieser durchaus zwiespältige Nimbus
haftete ihm bis zu seinem langen Lebensabend an. Für die einen war er ein
Vertreter der amerikanischen Moderne, für die anderen und auch die meisten
Europäer war er ein Beispiel typisch amerikanischer Rückständigkeit in
ästhetischer Hinsicht. Die Komponisten der 1960ger Jahre versuchten durchaus,
einen eigenen, amerikanischen Stil zu finden, der modern sein sollte, aber auch
nicht allzu europäisch. Eine Lösung hieß Minimal Music. Das Etikett mag auf eine
Musik mit Repetitionen, Klangschleifen und einfachsten tonal-harmonischen
Wendungen, wie wir ihr im Falle von Philipp Glass begegnen können, zutreffen.
Unverblümt gab er auch einmal von sich, Beethoven für den schlechtesten
Komponisten aller Zeiten zu halten. Für Vertreter einer anderen Moderne wie
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John Adams gilt das keineswegs. Er orientierte sich eher an dem
Nichtabgegoltenen der europäischen Moderne. Gemeint sind damit
kompositorische Neuerungen, die aus verschiedenen Gründen zu ihrer Zeit nicht
weitergedacht, rezipiert oder aufgegriffen wurden. Es sind Komponisten, deren
Methodiken erst Jahrzehnt später wieder zu Bewusstsein gelangten. Hierzu zählte
für Adams auch der Komponist Ferrucio Busoni, der theoretisch über mikrotonales
Komponieren nachdachte, aber in der Praxis nie den Sprung in das Jenseits der
Tonalität wagte. Die „Berceuse elegiaque“ Busonis wurde zu einem wichtigen
Anknüpfungspunkt John Adams und er instrumentierte das Stück im Jahr 1989
neu. Wir hören den Anfang mit der London Sinfonietta unter der Leitung des
Komponisten und Bearbeiters.
Musik: Ferruccio Busoni/John Adams: Berceuse elegiaque M0062170 (3:56)
Mit einem anderen orchestralen Schlüsselwerk knüpfte John Adams 1985 an eine
nicht in Richtung zwölftönige Avantgarde tendierende Moderne an. Das
Unausgeschöpfte einer Grenzerfahrung sollte hier weiterhin produktiv gemacht
werden. Das Stück “Harmonielehre” führt wie auch die „Chamber Symphonie“
zu Arnold Schönberg und dessen gleichnamiges Lehrwerk zurück. In ihm zeigte
der österreichische Komponist am Ende die Möglichkeitsformen der
Grenzerweiterung der tonalen Harmonik auf. Er selbst wandte sich mit der von
ihm entwickelten Zwölftonmethode allerdings anderen Organisationsformen zu.
In Adams “Harmonielehre” wird das Unabgegoltene der Schönbergschen
Theorie zur offenen Wunde. Der mittleren Satz trägt nicht ohne Grund den Titel
“The Anfortas Wound”. Die Klangmagie und –alchemie von Richard Wagners
Spätwerk “Parsifal”, in dem der Gralskönig Amfortas an der sich nicht schließen
wollenden Wunde leidet, wird für Adams zum Vorbild einer anderen,
nichtabgegoltenen Moderne, die Schönberg trotz seiner bewussten Analytik
seiner „Harmonielehre“ nicht weiter verfolgt hat. Und Adams will diese Spur
aufgreifen. Wir hören das San Francisco Symphony Orchestra unter der Leitung
von Michael Tilson Thomas.
Musik: John Adams: Harmonielehre – The Anfortas Wound M0357982 (12:48)
Die von John Adams im zweiten Satz seiner “Harmonielehre” betriebene
Klangalchemie und –magie, weist ins Okkulte. Die okkulten Musiktheorien des 18.
und 19. Jahrhunderts sind so etwas wie die Schmuddelkinder der Musiktheorie. In
den die kosmische Magie streifenden Bildern suchten diese Theorien
Musiksysteme zu errichten, die jenseits der temperierten Stimmungen liegen. Und
damit sind sie auch Schmuddelkinder der Moderne oder unserer These folgend,
Vertreter der anderen Moderne. So verwundert es kaum, wenn wir dem Okkulten
auch bei ihren Komponisten begegnen. Der Amerikaner George Crumb war seit
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jeher ein Anhänger des Okkulten, alchemistischer Theorien und der daraus
resultierenden Klangverwandlung. Durch elektronische Mittel und Verstärkungen
weitet er häufig und gern die instrumentalen Klangräume zu kosmischen
Dimensionen aus. Aber auch das Magische im Landschaftlichen hat ihn zu
Klangbildern des Okkulten angeregt. Mit ihnen lassen sich dennoch Bedingungen
des Modernen erfüllen: nämlich Klänge zu erweitern. In seinem Orchesterstück „A
haunted landscape“ spürt er in diesem Sinne besessenen und verzauberten
Klanglandschaften nach. Das unheimliche Klopfen gehört unabdingbar dazu. Es
spielt das Warschauer Philharmonische Orchester unter dem Dirigat von Thomas
Conlin.
Musik: George Crumb: A haunted Landscape (The Warsaw Philharmonic
Orchestra; Thomas Conlin, Dirigent – Bridge 9113 LC --) (15:53)
Die dritte Folge zur anderen Moderne und „Stars and stripes“ ging zu Ende mit „A
haunted landscape“ von George Crumb. Thomas Conlin dirigierte das
Warschauer Philharmonische Orchester. In unserer letzten Folge am nächsten
Morgen erschrecken wir einmal nicht die Bourgeoisie, sondern die Avantgarde:
„Epater l‟Avantgarde“. Am Mikrophon war Bernd Künzig.