SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Die andere Moderne Stars and Stripes (3) Von Bernd Künzig Sendung: Donnerstag, 19. Mai 2016 Redaktion: Bettina Winkler 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert.Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2 2 SWR2 Musikstunde mit Bernd Künzig Die andere Moderne, Stars and Stripes Teil 3 Signet Musikstunde mit Bernd Künzig, der zum dritten Teil der anderen Moderne begrüßt, in dem wir den Blick über den großen Teich werfen: Stars and Stripes. Musikstunden-Indikativ ca. 0„20 Die amerikanischen Weiten: das ist der Mythos des wilden Westens, der vor allem durch das Massenmedium der Moderne bekannt wurde: den Western. Wir assoziieren gerne mit diesem Genre einen bestimmten Musikstil und können ihn auch scheinbar in Aaron Coplands Westernballett „Rodeo“ aus dem Jahr 1942 wieder erkennen, als der filmische Western also längst etabliert war. Musik: Aaron Copland: “Hoe-Down” aus Rodeo (1942) (Baltimore Symphony Orchestra; David Zinman, Dirigent – Decca 4 78 4585 LC00171) (4:28) Das Baltimore Symphony Orchestra spielte unter der Leitung von David Zinman den “Hoe-Down” aus Aaron Coplands Ballettmusik “Rodeo”. Heute hören wir Coplands Musik als typische Westernmusik. Hinter der Leinwand tönt sie vor allem in filmischen Meisterwerken aus der Ära des sogenannten Spätwesterns seit den 1970ger Jahren. Musikalisch empfinden wir Coplands Stil als nicht sonderlich modern: zu tonal, zu folkloristisch. Doch so einfach ist die Sache gar nicht. Die typische Westernmelodie des Hoe-Down wurde nämlich nicht von Copland erfunden, sondern ist ein Zitat aus einem Musiktheaterwerk Virgil Thomsons, mit dem er triumphal seine Rückkehr nach Amerika Ende der 1920er Jahre feiern konnte. Nach Studienjahren in Paris kehrte der Komponist damit in seine Heimat zurück. Die Ursprünge dieses „Four saints in three acts” genannten Musiktheaters sind durch und durch europäisch. Das Libretto zu diesem den heiligen Ignatius und die heilige Teresa umkreisenden Stück stammt von der Grande Dame der Pariser Avantgarde: von Gertrude Stein. Im zweiten Akt, dieses einige Tendenzen des Musiktheaters von Robert Wilson vorwegnehmenden Werkes, findet sich eine kleine Ballettszene. Ausgerechnet diesem Tanz der Engel entnimmt Copland die vorgebliche Hill-Billy-Melodie seines Hoe-Down. 3 Musik: Virgil Thomson „Four saints in three acts – Dance of the angels”. (1928) (Commère: Betty Allen; St. Teresa I: Clamma Dale; St. Teresa II: Florence Quivar; St. Lawrence: Lloyod Thompkins; Chorus; Orchestra of Our Time; Joel Thome, Dirigent Nonesuch 9 79035) (4:26) Der Tanz der Engel aus Virgil Thomsons “Four saints in three acts” mit den Solisten Betty Allen, Clamma Dale, Florence Quivar, Lloyd Thompkins, dem Chor und Orchestra of Our Time unter der Leitung von Joel Thome. Obwohl Aaron Copland als der amerikanische Komponist schlechthin gilt, besuchte auch er wie Virgil Thomson und viele andere Amerikaner die Kurse bei Nadia Boulanger im Paris der Avantgarde. Das Kino, das hinter seiner Ballettmusik “Rodeo” für die meisten Ohren durchschimmert, spielte für Copland 1921 in ganz anderer Hinsicht eine anregende Rolle. Bei einem damaligen Kinobesuch erlag er Friedrich Wilhelm Murnaus hypnotischem Vampiralptraum “Nosferatu”. Angeregt durch dieses Meisterwerk des deutschen Stummfilms begann Copland, ein Ballett zu komponieren. Die titelgebende Figur “Grogh” stammt allerdings aus Bram Stokers Roman “Dracula”, der auch Murnau als Vorlage gedient hatte. Mit „Grogh” schrieb Copland sein vielleicht radikalstes Stück, das zu seinen Lebzeiten nie eine Aufführung erfuhr. Die Partitur ging verloren und wurde erst zu Beginn der 1990ger Jahre in der Library of Congress wieder entdeckt und in Aldebrugh uraufgeführt. Einige Teile der Balletmusik arbeitete Copland für seine abstraktere Konzeption der “Dance Symphony” aus dem Jahr 1925 um. Wir hören einen Ausschnitt aus Coplands originalem Ballet “Grogh” mit dem Cleveland Orchestra unter der Leitung von Oliver Knussen. Musik: Aaron Copland: Grogh (1922 – 25) “Grohg imagines the dead are mocking him“ M0019252 (4:41) Nach seiner Rückkehr wurde Copland zu dem typisch amerikanischen Komponisten, mit der “Fanfare for a common man” sogar zu einem Staatskomponisten der Roosevelt-Ära. Dieser durchaus zwiespältige Nimbus haftete ihm bis zu seinem langen Lebensabend an. Für die einen war er ein Vertreter der amerikanischen Moderne, für die anderen und auch die meisten Europäer war er ein Beispiel typisch amerikanischer Rückständigkeit in ästhetischer Hinsicht. Die Komponisten der 1960ger Jahre versuchten durchaus, einen eigenen, amerikanischen Stil zu finden, der modern sein sollte, aber auch nicht allzu europäisch. Eine Lösung hieß Minimal Music. Das Etikett mag auf eine Musik mit Repetitionen, Klangschleifen und einfachsten tonal-harmonischen Wendungen, wie wir ihr im Falle von Philipp Glass begegnen können, zutreffen. Unverblümt gab er auch einmal von sich, Beethoven für den schlechtesten Komponisten aller Zeiten zu halten. Für Vertreter einer anderen Moderne wie 4 John Adams gilt das keineswegs. Er orientierte sich eher an dem Nichtabgegoltenen der europäischen Moderne. Gemeint sind damit kompositorische Neuerungen, die aus verschiedenen Gründen zu ihrer Zeit nicht weitergedacht, rezipiert oder aufgegriffen wurden. Es sind Komponisten, deren Methodiken erst Jahrzehnt später wieder zu Bewusstsein gelangten. Hierzu zählte für Adams auch der Komponist Ferrucio Busoni, der theoretisch über mikrotonales Komponieren nachdachte, aber in der Praxis nie den Sprung in das Jenseits der Tonalität wagte. Die „Berceuse elegiaque“ Busonis wurde zu einem wichtigen Anknüpfungspunkt John Adams und er instrumentierte das Stück im Jahr 1989 neu. Wir hören den Anfang mit der London Sinfonietta unter der Leitung des Komponisten und Bearbeiters. Musik: Ferruccio Busoni/John Adams: Berceuse elegiaque M0062170 (3:56) Mit einem anderen orchestralen Schlüsselwerk knüpfte John Adams 1985 an eine nicht in Richtung zwölftönige Avantgarde tendierende Moderne an. Das Unausgeschöpfte einer Grenzerfahrung sollte hier weiterhin produktiv gemacht werden. Das Stück “Harmonielehre” führt wie auch die „Chamber Symphonie“ zu Arnold Schönberg und dessen gleichnamiges Lehrwerk zurück. In ihm zeigte der österreichische Komponist am Ende die Möglichkeitsformen der Grenzerweiterung der tonalen Harmonik auf. Er selbst wandte sich mit der von ihm entwickelten Zwölftonmethode allerdings anderen Organisationsformen zu. In Adams “Harmonielehre” wird das Unabgegoltene der Schönbergschen Theorie zur offenen Wunde. Der mittleren Satz trägt nicht ohne Grund den Titel “The Anfortas Wound”. Die Klangmagie und –alchemie von Richard Wagners Spätwerk “Parsifal”, in dem der Gralskönig Amfortas an der sich nicht schließen wollenden Wunde leidet, wird für Adams zum Vorbild einer anderen, nichtabgegoltenen Moderne, die Schönberg trotz seiner bewussten Analytik seiner „Harmonielehre“ nicht weiter verfolgt hat. Und Adams will diese Spur aufgreifen. Wir hören das San Francisco Symphony Orchestra unter der Leitung von Michael Tilson Thomas. Musik: John Adams: Harmonielehre – The Anfortas Wound M0357982 (12:48) Die von John Adams im zweiten Satz seiner “Harmonielehre” betriebene Klangalchemie und –magie, weist ins Okkulte. Die okkulten Musiktheorien des 18. und 19. Jahrhunderts sind so etwas wie die Schmuddelkinder der Musiktheorie. In den die kosmische Magie streifenden Bildern suchten diese Theorien Musiksysteme zu errichten, die jenseits der temperierten Stimmungen liegen. Und damit sind sie auch Schmuddelkinder der Moderne oder unserer These folgend, Vertreter der anderen Moderne. So verwundert es kaum, wenn wir dem Okkulten auch bei ihren Komponisten begegnen. Der Amerikaner George Crumb war seit 5 jeher ein Anhänger des Okkulten, alchemistischer Theorien und der daraus resultierenden Klangverwandlung. Durch elektronische Mittel und Verstärkungen weitet er häufig und gern die instrumentalen Klangräume zu kosmischen Dimensionen aus. Aber auch das Magische im Landschaftlichen hat ihn zu Klangbildern des Okkulten angeregt. Mit ihnen lassen sich dennoch Bedingungen des Modernen erfüllen: nämlich Klänge zu erweitern. In seinem Orchesterstück „A haunted landscape“ spürt er in diesem Sinne besessenen und verzauberten Klanglandschaften nach. Das unheimliche Klopfen gehört unabdingbar dazu. Es spielt das Warschauer Philharmonische Orchester unter dem Dirigat von Thomas Conlin. Musik: George Crumb: A haunted Landscape (The Warsaw Philharmonic Orchestra; Thomas Conlin, Dirigent – Bridge 9113 LC --) (15:53) Die dritte Folge zur anderen Moderne und „Stars and stripes“ ging zu Ende mit „A haunted landscape“ von George Crumb. Thomas Conlin dirigierte das Warschauer Philharmonische Orchester. In unserer letzten Folge am nächsten Morgen erschrecken wir einmal nicht die Bourgeoisie, sondern die Avantgarde: „Epater l‟Avantgarde“. Am Mikrophon war Bernd Künzig.
© Copyright 2024 ExpyDoc