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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Kleine amerikanische Musikgeschichte
in 5 Präsidenten
Bush jun. (5)
Von Katharina Eickhoff
Sendung:
Freitag, 29.07. 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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„Musikstunde“ mit Katharina Eickhoff
Kleine amerikanische Musikgeschichte in 5 Präsidenten
Bush jun. (5)
SWR 2, 25. Juli – 29. Juli 2016, 9h05 – 10h00
Indikativ
O-Ton: George W. Bush
1’
DIGAS
„...thank you. Good night. And god bless America.“
Wenn man sich George W Bushs Rede am Abend des 11. September 2001 heute
ansieht, ist man eher irritiert. Bush ist immer ein schlechter Redner gewesen, aber
an diesem für Amerika und die ganze Welt so fürchterlichen Abend wirkt er wie in
Trance – ohne jedes Pathos liest er die Formeln vor, die ihm sein Redenschreiber
auf den Teleprompter schickt, und als er am Schluss noch sagt, dass man jetzt die
Freiheit und alles, was gut und gerecht sei in der Welt, verteidigen werde, klingt er
seltsam unbeteiligt.
Andererseits, wer wollte ihm das vorwerfen. Niemand ist zu beneiden, der an
einem Tag wie dem 11. September komplett verstört zu einer komplett verstörten
Nation sprechen muss.
Für das, was damals passiert ist, gab es erst mal keinen Trost – und wenn vielleicht
doch ein kleines Bisschen, dann kam dieser Trost aus der Musik. Zur Zeit von Bushs
Präsidentschaft ist das Internet schon fester Bestandteil im Leben der Leute, und
das wirkt sich auch auf den Umgang mit Musik aus – da wird ein Stück im Netz
weitergegeben, ein Link wird hunderttausendmal geteilt, die Radiostationen
bekommen Wind davon, spielen den Song, und plötzlich ist er Teil der
Geschichte.
So war das mit „Only Time“, einem gar nicht mal besonders ambitionierten Stück
der irischen Eso-Chanteuse Enya, das eigentlich wie alle Stücke von Enya klang,
oder vielleicht noch ein bisschen schlichter, und das auch nicht weiter
aufgefallen war. Bis jemand ein Video ins Netz gestellt hat, eine Collage aus Fotos
von Ground Zero und Bildern der Opfer, die sich wie ein Lauffeuer verbreitet hat,
viral, wie man heute sagt. Über den Bildern schwebte dieser Song,
mit seinen ganz einfachen Harmonien und noch einfacheren Weisheiten wie der,
dass nur Zeit die Wunden heilen kann – aber irgendwie war es genau das, was
die Leute zu dem Zeitpunkt brauchten. „Only Time“ lief im Radio von morgens bis
abends, stürmte an die Spitzen der Charts, schließlich ist noch ein Video mit
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Bildern des 11. September und dem Song produziert worden, bei dem die wolkig
wabernde Musik das, was da passiert, wie einen Traum aussehen lässt.
So präsent war das Stück in diesen Wochen, dass Millionen von Menschen sich
auf ewig mit fast Pawlow’schem Reflex an die Tage von 9/11 erinnern, sobald sie
diese Töne hören:
M0238841 01-001 3'38
Enya, Only Time
ausbl. ab 2’
Es gab Warnungen im Vorfeld, aber Amerika fühlte sich unverwundbar, und
tatsächlich war ja das letzte mal, dass es einen Angriff von außen auf USamerikanischem Festland gegeben hatte, jener letzte Versuch der Briten von
1814, die amerikanische Unabhängigkeit rückgängig zu machen, - ein Versuch,
bei dem immerhin das Weiße Haus in Flammen gestanden hat.
Dann kam der Angriff auf Pearl Harbor, der die USA in den Zweiten Weltkrieg
gezogen hat, auch das schon ein nationales Trauma, aber immer noch
außerhalb des Kontinents, Hawaii war nun mal nicht New York. Dass jemand
Amerika dort, mitten ins Herz, würde treffen können mit einer so ungeheuren
Wucht, das hat sich vorher einfach kaum jemand vorstellen können. Und am
allerwenigsten der zu dem Zeitpunkt amtierende Präsident.
Eigentlich hat niemand, nicht mal die Republikaner, erwartet, dass George W
Bushs Präsidentschaft irgendwie in die Geschichte eingehen würde. Und dann
war es doch ausgerechnet er, der mit der vielleicht größten Erschütterung
umgehen musste, die die USA je erlebt haben.
Ausgerechnet George W, der als Sohn bis dahin immer im Schatten seines Vaters,
des anderen Präsidenten, gestanden hat, der zwar mit Daddys Hilfe trotz
deplorabler intellektueller Leistungen einen Studienplatz in Harvard bekam, der
mit Daddys Hilfe dem Einsatz im Vietnam-Krieg entgangen war, zwischendurch
ein Baseball-Team gemanagt und zuviel getrunken hat, und der dann schließlich
womöglich selbst ein bisschen erstaunt war, als er diese Präsidentschaftswahl
gewonnen hat. Genaugenommen hat er sie auch gar nicht gewonnen – Al Gore
von den Demokraten hat sie nach Stimmen gewonnen, aber das amerikanische
Wahlsystem ist erstens kompliziert und zweitens nicht unbedingt gerecht. Den Rest
besorgten ein paar von republikanischen Richtern gefällte Gerichtsurteile, die
erneute Auszählungen verhinderten, und dann wurde im Januar 2001 tatsächlich
George Walker Bush als 43. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt –
während außerhalb der Absperrung in Washington zwischen Kapitol und Lincoln
Memorial schon Tausende dagegen demonstriert haben. So weit, so holprig.
Gut sieben Monate später ist das alles nicht mehr wichtig.
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Um 8 Uhr 46 Ortszeit schlägt am 11. September das erste Flugzeug im Nordturm
des World Trade Center ein, knapp zwanzig Minuten später, während alle noch
an einen Unfall glauben wollen, folgt das zweite.
Eine Boeing stürzt in Washington auf das Pentagon, ein anderes Flugzeug stürzt
über freiem Feld ab, nachdem Passagiere die Entführer daran gehindert hatten,
bis New York zu fliegen.
Da ist es an der Ostküste kurz nach zehn, zu dem Zeitpunkt hängt schon die halbe
Welt vor den Fernsehern und Radiogeräten und schaut live dabei zu, wie der 500
Meter hohe Südturm einstürzt und, so sieht es jedenfalls auf den Bildschirmen aus,
ganz Manhattan unter sich begräbt.
Die Gesamtzahl der Opfer, die Toten in den Türmen, den Flugzeugen, dazu
hunderte von Einsatzhelfern, Polizisten, Feuerwehrmännern, war am Ende auf fast
3000 gestiegen.
CD
T. 1
ab 2’00 ganz langsam unter Text weg
John Adams, On the transmigration of souls
New York Philharmonic, Lorin Maazel
Nonesuch 79816-2, 1228977 01-001
....so beginnt das vermutlich wichtigste Konzertstück, das unter dem Eindruck des
11. September geschrieben wurde:
„On the transmigration of souls“, von John Adams, ein Werk für Chor, Kinderchor,
Orchester und Tonband – letzteres macht mit New Yorker Stadtgeräuschen den
Anfang, in die dann immer mal wieder dieses direkt nach 9/11 so oft gebrauchte
Wort tropft: „Missing“.
Vermisst wird...heißt das, und man sieht die vielen Fotos von lächelnden
Menschen vor sich, die damals ständig im Fernsehen gezeigt wurden, und die
verzweifelte Angehörige am Ground Zero ausgelegt haben, in der Hoffnung, dass
ihre Vermissten, die irgendwo in dieser Wolke aus Staub und Eisen verschwunden
waren, doch noch auftauchen würden. Gleichzeitig sagt das Wort ja auch, dass
diese Menschen jetzt anderen Menschen fehlen – und alle diese Bedeutungen
schwingen in dieser Musik mit. Zu Recht hat der 1947 geborene John Adams,
Amerikas vielleicht bedeutendster Komponist der Gegenwart, dafür den PulitzerPreis bekommen, denn „On the transmigration of souls“ kommt ohne den
geringsten affirmativen amerikanisch-patriotischen Gestus aus, - und das war in
den Monaten nach dem 11. September in den USA wahrlich eine Kunst...
Adams ist in Concord, Massachusetts, zur Schule gegangen, dem
philosophischen Mekka Amerikas, wo im 19.Jahrhundert die Transzendentalisten
um Emerson und Thoreau an ihren Gedanken vom amerikanischen
Individualismus bastelten. John Adams also ist schon mit seiner ganzen Biografie
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ein ziemlich amerikanischer Komponist, und unter seinen Kollegen und Vorreitern
von der Minimal Music, Steve Reich oder Philip Glass, ist er derjenige, der sich am
intensivsten mit amerikanischen Themen auseinandergesetzt hat. Die „Shaker
Loops“, ein früher Minimalismus-Hit, beziehen sich auf die den Amerikanern liebe
und teure Shaker-Religionsgemeinschaft, die Oper „Nixon in China“ erzählt von
Nixons Treffen mit Mao Tse Tung, „The death of Klinghoffer“ handelt vom Mord
palästinensischer Entführer an einer amerikanisch-jüdischen Geisel, „Doctor
Atomic“ erzählt von der Entwicklung der Atombombe, dazu kommen
Vertonungen von Walt-Whitman-Gedichten oder ein Stück mit dem Titel „My
father knew Charles Ives“ – für das Adams sich vorgestellt hat, sein Vater und
Ives, die so nah beieinander gelebt haben, hätten sich tatsächlich mal getroffen
und miteinander über den Gartenzaun über Thoreau geredet...Seine
musikalische Inspiration hat John Adams nicht von der europäischen NachkriegsAvantgarde, deren Kurse in Darmstadt und anderswo hat er als „Mausoleum“
empfunden, Adams ist, gut amerikanisch, ein Jünger von John Cage, dessen
Buch „Silence“, Stille, war sein wichtigstes Erweckungserlebnis.
Er sei, sagt Adams, dankbar gewesen, als vom New York Philharmonic nach 9/11
dieser Auftrag kam, ein großes Werk zur Erinnerung zu komponieren. Es hat ihm
geholfen, selber seine Gedanken und Gefühle dazu zu ordnen. „Mir ging es nicht
anders als den meisten Amerikanern, die nicht wussten, wie sie mit diesen
unglaublichen Komplexitäten umgehen sollten, die uns da auf einmal hingeknallt
wurden.“
Und ein Stück zu schreiben, das direkt zu den Gefühlen der Leute spricht, sei ihm
da hilfreich erschienen, so Adams, und man kennt diesen Impuls noch von Aaron
Copland, der ja auch in nationalen Krisenzeiten den Anschluss an die Gefühle
seiner Zuhörer gesucht hat.
Für „On the transmigration of souls“ hat John Adams einerseits seinen Besuch am
Ground Zero ein paar Monate nach der Katastrophe vor Augen gehabt, bei dem
er überall auf kleine Altäre und persönliche Gedenkstellen getroffen ist, wo Leute
an ihre Freunde und Angehörigen erinnert haben – andererseits wollte er, sagt er,
das Gefühl vom Eintritt in eine dieser großen französischen Kathedralen
vermitteln.
Er habe kein Requiem geschrieben, so Adams, sondern einen Raum schaffen
wollen, in den man sich begeben und in dem man allein sein kann mit seinen
Gedanken und Gefühlen.
Transmigration II (s.o.)
einbl. ab 8’00 ausbl. ab 12’10
4’10
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...Natürlich war, bei aller Zugänglichkeit dieser Musik, dieses
Stück nur für eine elitäre Minderheit das Werk der Stunde.
Bei der breiten Masse der Amerikaner hat sich nach den ersten Monaten des
stummen Entsetzens ja, angestachelt von den Medien und den politischen
Protagonisten, ein eifernder, um nicht zu sagen: geifernder Patriotismus
breitgemacht, wie ihn die USA bis dahin wohl noch nicht erlebt hatten. Die
nächsten viralen Superhits waren dann kein seelenvolles Trostflüstern mehr à la
Enyas „Only Time“, sondern aggressiver Hurrapatriotismus von rechtsnationalen
Country- oder Pseudo-Country-Sängern wie Toby Keith, dessen
weitestverbreiteter Song passenderweise „The angry American“ heißt, oder Lee
Greenwood, der sein altes „God bless the USA“ aus den Achtzigern wieder aus
der Mottenkiste holte und dafür den „Congressional Medal of Honour Society’s
Patriot Award“ kriegte und offizielles Maskottchen eines Flugzeugträgers wurde.
Oder Country-Mann Charlie Daniels, der allen, die es hören wollten, und das
waren viele, klarmachte, wie einfach die Sache war, bei ihm heißt es:
„Ihr habt die Regeln verletzt und ihr habt unseren amerikanische Stolz verwundet,
und jetzt kommen wir mit einem Gewehr, und wir wissen: Ihr werdet rennen, aber
ihr werdet nichts finden, euch zu verstecken, wir werden euch wie tollwütige
Hunde jagen und für die Leben, die ihr gestohlen habt, bezahlen lassen, wir
haben das Reden und Diskutieren satt, jetzt ist es Zeit für Rock and Roll...“.
In diesem anschwellenden Bocksgesang steht irgendwann irgendwo
„The Boss“ alias Bruce Springsteen an einer Straßenecke, und im an der Ampel
wartenden Auto kurbelt einer das Fenster runter und ruft einfach nur ganz schlicht
zu ihm rüber: „Wir brauchen dich!“
Das, sagt Springsteen, war dann die Initialzündung für eine ganze Platte, „The
Rising“, die sich mit den Ereignissen und Schrecken des 11. September
beschäftigt, jeder Song ist aus einer anderen Perspektive geschrieben, hier steigt
ein Feuerwehrmann den brennenden Turm hoch, da hat sich eine Frau nicht
mehr von ihrem Freund verabschieden können...den damals und bis heute
meistgespielten Song allerdings gab es schon vorher, aber er passte wie die Faust
aufs Auge zur Situation, und so kam er auch mit auf diese Erinnerungsplatte, weil
er damals, im ersten großen Gedenkkonzert für die Toten am 21. September, den
Leuten wirklich Mut machen konnte „My city of ruins“, mit seinem beschwörenden Refrain
„Come on, rise up!“....
M0004081-015, ca. 2'00
Springsteen, Bruce; Springsteen, Bruce My city of ruins
E Street Band
Bruce Springsteen & The
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Springsteen, das sind wilder Rock’n Roll und stille Lieder zur Gitarre,
aber egal, ob mit der E-Street-Band oder allein mit seiner Mundharmonika, immer
erzählt er die Geschichte Amerikas, nicht die strahlenden „God’s own country“Geschichten, die ja längst zu ziemlich hohlen Phrasen erstarrt sind, sondern die
wirklichen Geschichten von ganz normalen Leuten, die durchs Netz gefallen sind,
und die irgendwie nicht mehr wissen, was an „America the Beautiful“ nochmal so
beautiful sein soll. Manchmal ist er dabei ein bisschen missverstanden worden, zu
„Born in the USA“ zum Beispiel haben erst mal auch jede Menge republikanischer
Schwerstpatrioten gerockt, ohne zu realisieren, dass der Song eine ätzende
Abrechnung mit dem Vietnam-Trauma und extrem Amerika-kritisch ist. Ronald
Reagan wollte das Stück als Wahlkampf-Song, Springsteen hat es ihm verboten.
In den mehr als vierzig Jahren, die Springsteen nun schon seine Lieder singt, fast
alles Protestsongs, wenn man so will, hat er nie die Verbindung zur Realität
verloren, und nie aufgehört, die Widersprüche und Abgründe seines Landes
anzuprangern, das alle Macht an die Wallstreet abgegeben hat und seine Leute
hängen lässt.
Der Song „The River“ beerdigt den American Dream auf unnachahmlich
melancholische Art und ist eins der bedeutendsten amerikanischen Stücke im
späteren 20. Jahrhundert, auch „Thunder Road“ träumt vom Abhauen aus einer
trübseligen Wirklichkeit. Und den Texten, die Springsteen da singt, sollte eigentlich
auch mal ein eigener Gedichtband gewidmet werden, so wie Bob Dylan das
bekommen hat, denn die Geschichten, die Springsteen in den vier, fünf Minuten
eines Songs erzählt, sind ganze Romane im Kleinen, echte amerikanische
Literatur.
Ganz besonders merkt man das bei einer Platte, die schon Mitte der 90-er Jahre
rausgekommen ist und die nach der Hauptfigur in John Steinbecks Roman
„Früchte des Zorns“ heißt: The Ghost of Tom Joad.
Die Platte könnte auch The Ghost of Woody Guthrie heißen, so sehr geistert
Guthries Art, Geschichten zu erzählen, durch diese Stücke.
Zum Beispiel die Geschichte von Youngstown in Ohio im einstigen industriellen
Herzen Amerikas, dem, was früher mal „Manufacturing Belt“ genannt wurde,
aber dann ist die Stahlindustrie dort abgewickelt worden, die Leute sind in
Massen vor der Arbeitslosigkeit und dem Abstieg aus den Städten geflohen, die,
die geblieben sind, haben null Perspektive, und die ganze Gegend heißt
heutzutage nur noch „Rust Belt“:
Alles rostet und rottet. Springsteen erzählt in „Youngstown“ anhand von ein paar
Leuten von dort eine Geschichte von vielen Generationen, von den blühenden
Anfängen im Civil War, wo die Kanonenkugeln aus Youngstown Lincoln zum Sieg
geholfen haben, von der Hoffnung, von der Knochenarbeit in den Hochöfen,
und dann vom Abstieg, von Vietnam, wo die Jungs aus Youngstown für ein
Amerika gestorben sind, das sich um die Übriggebliebenen und
Zurückgekommenen einen feuchten Kehricht schert. „My sweet Jenny, I’m sinkin’
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down“, so geht der Refrain, und meint keine Frau, sondern den lange
stillgelegten Hochofen von Youngstown, der nach der Gattin des einstigen
Besitzers „Jeannette Blast Furnace“ benannt war, und der nach seiner Schließung
noch lange als trauriges Skelett vor sich hinrostete, wie, so schrieb ein Besucher,
„die Reste einer untergegangenen Zivilisation...“.
1954895-004
3’50
Springsteen, Bruce; Springsteen, Bruce Youngstown
...Die Geschichte von Youngstown wird auch in George Packers grandioser
Dokumentation „The Unwinding“, Die Abwicklung, erzählt,
aus vielen verschiedenen Perspektiven setzt sich da in diesem Buch ein Bild
zusammen, das die aktuelle Krise Amerikas aus den Fehlern von Jahrzehnten
herleitet. Neben dem wirtschaftlichen Niedergang in Gegenden, die früher das
Herz der amerikanischen Wirtschaft waren, gibt es eben auch den moralischen
Niedergang in Politik und Finanzwelt, das Verschwinden von Gemeinschaft und
Verantwortung, die Gleichgültigkeit, wenn ganze, früher blühende Gegenden,
nur noch von Armen und Chancenlosen bewohnt sind, um deren Bildung und
kulturelle Einbindung sich keiner kümmert, – Youngstown zum Beispiel hatte einst
zwei städtische Orchester, eines davon komplett mit Stahlarbeitern und ihren
Angehörigen besetzt! Stattdessen wurde irgendwann nur noch über die Reichen
berichtet, in den Medien geht es um Glamour und Celebrities, und die, die
davon profitieren, reden immer nur von Erfolg und Amerika und Nation und
davon, dass ja immer noch jeder seines Glückes Schmied ist, und dass einem in
den USA alle Wege offen stehen, wenn man nur will – das alte Blabla, mit dem
Donald Trump zur Zeit seine weiße Wählerschaft einlullt, und von dem sich keine
farbige Familie in den von allen guten Geistern verlassenen Stadtteilen Detroits
etwas kaufen kann...
Aber alle die rostenden Stellen im „Land of the Free“ geraten nach den
Ereignissen vom 11. September komplett aus dem Blickfeld, denn nach dem
Schock läuft dort ja jene gigantische Rache- und SelbstverteidigungsMaschinerie an, die, wie immer beim kopflosen Zurückschlagen, ziemlich schnell
außer Kontrolle gerät.
George W Bush ruft den „War on Terror“ aus, überhaupt werden jetzt plötzlich
neue, plakative Begriffe wie am Fließband ausgegeben,
Achse des Bösen, Schurkenstaaten, Patriot Act, Waterboarding...Und hinter den
Kulissen werden von den sogenannten „Falken“, Donald Rumsfeld und Dick
Cheney, fieberhaft die anstehenden Kriegszüge geplant, in denen sich, dachte
man, natürlich alle nur mit Ruhm bekleckern würden, erst würde man mal eben
Afghanistan einnehmen und die Taliban ausradieren, dann würde man Saddam
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Hussein und den Irak besuchen, man war ja schließlich das großartigste Land der
Welt, die einzige verbliebene Weltmacht – nur dass diese Weltmacht nun eben
verletzt, gedemütigt und tief verunsichert war...
Wolfe / Gordon / Lang bis 1’43
Shelter - Porch
Bang on a Can
Cantaloupe Records CA21083
„Shelter“ heißt das Stück, zu dem diese Musik gehört, darin geht es, grob
gesprochen, um den Menschen, spezifisch den amerikanischen Menschen, und
seine Verletzlichkeit, - dass alles, was er aufbaut, über ihm einstürzen kann, dass
selbst im Schlaf ihn seine Unruhe und Unsicherheit verfolgen...“Shelter“,
rausgekommen im Jahr 2005 pünktlich zu George W. Bushs zweiter Amtszeit, hat
keine direkten textuellen Bezüge zu 9/11 oder dem Irak-Krieg, trotzdem wirkt es
wie ein Echo auf die amerikanische Paranoia und die Sehnsucht nach
Geborgenheit.
Ein Oratorium sei „Shelter“, sagen seine drei Komponisten, jawohl, drei, Julia
Wolfe, Michael Gordon und David Lang, drei amerikanische Komponisten der
postminimalistischen Ära nach Steve Reich und Co, haben 1987 zusammen
Amerikas vielleicht wichtigstes zeitgenössisches Kollektiv gegründet: Bang on a
Can.
Was Bang on a Can so auf die Welt loslässt, ist immer wieder sehr unterschiedlich,
Besetzung, Anmutung, Dimensionen variieren, aber trotzdem ist der Stil ganz gut
zu erkennen – Abenteuer ist die Devise, und das, was rauskommt, ist konsequent
amerikanisch in dem Sinn, dass alles, was es an Musik gibt in den USA, absorbiert
wird. Das ergibt eine ziemlich aufregende Mischung aus Minimal, klassischer
Musik und Pop-Strukturen, Funk, Metal, elektronischer Musik, die musikalische
Sprache ist so auch für Zuhörer aus anderen Musikwelten zugänglich.
Das Ensemble arbeitet nun also schon seit bald dreißig Jahren daran, Grenzen
abzuschaffen, ein Impuls, der gerade in Bushs Amerika zu Zeiten des Patriot Act
ziemlich wohltuend war...
(Musik s.o.)
2‘27
Direkt nach den Anschlägen in New York ist die internationale Solidarität noch
uneingeschränkt, auch Europa fühlt sich in seinen innersten Werten getroffen –
aber das ändert sich, als die USA sukzessive rechtsstaatliche Grundprinzipien
10
kassieren, zum Beispiel, dass niemand ohne Haftbefehl und gerichtliche
Untersuchung eingesperrt werden darf.
In den Jahren des Irak-Kriegs sind dann auch die Überwachungsmaßnahmen
eingerichtet worden, von denen die Welt dann erst rund zehn Jahre später durch
Edward Snowden erfahren hat.
Es sind eine Menge rechtsstaatliche Prinzipien, die da ausgesetzt werden, und als
dann mit aller Macht und extrem windiger Argumentation auf einen Einmarsch
im Irak gedrungen wird, machen ein paar europäische Verbündete nicht mehr
mit. Im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, um deren Zustimmung sich die USA
sowieso nicht besonders scheren, geschieht Erstaunliches:
Deutschland, bis jetzt im Rahmen seiner Möglichkeiten immer Gewehr bei Fuß,
sagt nein zum Irak-Krieg, aber vor allem und besonders entschieden tut das
Frankreich, was im immer noch patriotisch bewegten Amerika zu einer im
Nachhinein fast komischen Welle von Franzosenhass führt. Er gipfelt in der –
todernst gemeinten - Forderung des republikanischen Abgeordneten Walter B.
Jones, dass man doch Pommes Frites, in Amerika French Fries genannt, künftig
bitte Freedom Fries nennen solle. Woran sich bis heute manche
Schnellrestaurants halten. Man muss zur Ehrenrettung des armen Walter B. Jones
sagen, dass er schon im Jahr 2005 den Mut hatte, zu sagen, dass er sich geirrt
hat. Jones war einer der wenigen, die öffentlich ausgesprochen haben, dass der
gesamte Kongress – wie ja auch ganz Amerika – belogen worden war von der
Regierung, dass es gar keinen zwingenden Grund gegeben hat, Tausende von
Amerikanern in diesen Krieg am Golf zu schicken, und dass jetzt ein Teil dieser
Soldaten tot, der andere traumatisiert war. Walter B. Jones, der einstige Erfinder
der Freedom Fries, war dann 2007 einer von zwei republikanischen
Abgeordneten, die für einen baldigsten Truppenabzug aus dem Irak gestimmt
haben.
Der Krieg, der im März 2003 begonnen hat, war ja zunächst ein im wahrsten
Wortsinn Bombenerfolg. Aber in dem Chaos danach ist dann ganz schnell
jegliche Kontrolle entglitten. Und die, die da so stolz unter „God bless America“Rufen in den Kampf verabschiedet wurden, kommen als andere Menschen nach
Hause zurück: Von den 2,2 Millionen US-Soldaten, die aus dem Irak und
Afghanistan zurückkamen, leidet jeder Dritte unter posttraumatischen
Belastungsstörungen, der Medikamentenbedarf der Army ist seitdem um 75
Prozent gestiegen, der Staat war auf solche Leute nicht vorbereitet, also stellt er
sie mit Unmengen von Medikamenten ruhig.
Von diesem, dem gescheiterten Amerika, erzählt die Singer-Songwriterin Sheryl
Crow: Von Leuten, die immer noch heile Welt spielen wollen, aber da ist der
Bruder, der gestern aus dem Krieg zurückgekommen ist, der irgendwie komisch ist
und immer nur ins Leere starrt, weil er wohl ein oder zwei scheußliche Dinge
gesehen hat, und das alles, weil damals diese zwei Türme einstürzten...und aus
„God bless America“ wird bei Sheryl Crow: God bless this mess.
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M0086826-001, 2'09
Crow, Sheryl; Crow, Sheryl God bless this mess
Crow, Sheryl
„The president spoke words of comfort
with teardrops in his eyes
then he led us as a nation
into a war all based on lies.“
Das bittere Resümée von Sheryl Crow:
Der Krieg, in den George W. Bush Amerika geführt hat, basierte auf Lügen – das
ist nun eigentlich nichts Neues, vermutlich gilt das für so ziemlich jeden Krieg, nur
hat es sich eben dieses Mal so weitläufig herumgesprochen, dass sich ein großer
Teil von Amerika von ihm abgewendet hat. Von den direkt nach 9/11
sagenhaften 90 Prozent Zustimmung im Land war nach mehreren Jahren Krieg im
Irak nicht mehr allzuviel übrig – für eine zweite Amtszeit hat es zwar noch gelangt,
aber kaum jemand stand mehr hinter dem Irak-Feldzug, und viele, auch in den
USA, haben sich geschämt für die Bilder, die aus dem Gefängnis von Abu Ghreib
um die Welt gegangen sind. Das sollte Amerika sein?
Und auch das Gefangenenlager von Guantanamo, wo Verdächtige ohne
Prozess gefangen gehalten und gefoltert wurden, haben viele bald als
Schandfleck für die Vereinigten Staaten betrachtet, erstrecht, als Einzelheiten
über die von ganz oben abgenickte Folterpraxis dort bekannt wurden. Ein
finsteres Kapitel für die Musik in Amerika ist ja, dass in Guantanamo und im Irak
selbst eine neue Art der Folter entwickelt worden ist, die Folter durch Musik. Das
sollte harmlos klingen und alle die ruhigstellen, die sich über das Waterboarding
echauffiert hatten. Aber aus dem beliebtesten Stück kann ganz schnell seelische
Grausamkeit werden, wenn man es einem Gefesselten über Kopfhörer in einer
tagelangen Endlosschleife ins Gehirn zwingt, und das in ohrenbetäubender
Lautstärke:
M9001795-001, 0’15 Mercury, Freddie We are the champions
Queen
Was wohl Freddie Mercury gesagt hätte, hätte er noch erlebt, dass sein Song
einer der meistverwendeten bei der perversen US-Musik-Folter gewesen ist? Es ist
ganz egal, welche Musik – nach ein paar Tagen ist bei dieser Methode jeder Wille
gebrochen.
Bushs „War on Terror“ hat die USA irgendwas zwischen 2 und 3 Billionen Dollar
gekostet, so dass das Land am Ende seiner Präsidentschaft wirtschaftlich am
Boden war, und die ungenügende Vorbereitung auf die Zustände im Irak hat den
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islamistischen Terror, allen voran die Zombies vom „Islamischen Staat“, überhaupt
erst auf die Spur gesetzt.
Ganz sicher ist nicht an allem amerikanischen Ungeist George W Bush persönlich
schuld, und wahrscheinlich ist er sogar eigentlich ein ganz netter Kerl. Aber in der
Geschichte Amerikas wird er keine rühmliche Rolle spielen, weil die USA unter
seiner Präsidentschaft bedenkenlos die Werte über Bord geworfen haben, auf
denen im Jahr 1776 die Vereinigten Staaten von Jefferson, Washington und Co
gegründet wurden. Und weil das Land in eine noch nie dagewesene
Glaubwürdigkeits- und Identitätskrise rutschte, von der es sich bis heute
nicht erholt hat, wie man am aktuellen Präsidentschaftswahlkampf
sehen kann.
Auch Barack Obama ist ziemlich tragisch an dieser Identitätskrise gescheitert,
trotz all seinem beträchtlichen Format, und trotz der Euphorie, die bei seinem
Amtsantritt und nach acht Jahren Bush herrschte.
Und doch setzt den Schlusspunkt dieser Präsidenten-Musikstundenwoche jetzt
Obamas Amtsantritt im Jahr 2009 Weil es damals diesen unglaublichen Hoffnungsschub gegeben hat, den sogar
wir hier in Europa gespürt haben, wie wir da vor den Fernsehern saßen bei seiner
Vereidigung und all die vor Glück weinenden Leute in Washington sahen, und
dann diesen Präsidenten, ein Mensch von heute, der tanzen konnte und witzig
war und Bücher las und Game of Thrones mochte, und der der erste schwarze
Präsident Amerikas war.
Wenn zur Zeit ungebildete, hasserfüllte Leute wie Donald Trump und seine
Anhängerschaft laut „Make America great again“ schreien, täuscht das nicht
darüber weg, dass sie die Geschichte ihres Landes, seiner Zeichen und Symbole,
in der Mehrheit überhaupt nicht kennen, also auch nicht deuten können. Insofern
war Barack Obamas erste Vereidigung Anfang 2009 ein ziemlich kunstvolles
Gewebe von Rückbezügen, vom Schwur auf Abraham Lincolns Bibel bis hin zur
extra für das Ereignis komponierten Musik – die kam nämlich von John Williams,
Amerikas größtem lebenden Filmmusik-Komponisten, dessen Sachen, von „Der
weiße Hai“ über „Stars wars“ bis „Schindlers Liste“ und „Harry Potter“ längst über
die eigentlichen Filme hinausgewachsen sind, den man also getrost auch ohne
Leinwand einen großen amerikanischen Komponisten nennen darf. Williams also
hat für den feierlichen Anlass nochmal auf die Zeit von Aaron Coplands
Appalachian Spring verwiesen, diesen hoffnungsvollen Aufbruch unter dem
menschenfreundlichen Präsidenten Roosevelt, und zwar, indem er nach einer
Einleitung auf ein eigenes Thema nochmal die „Simple Gifts“, dieses alte ShakerLied von den schlichten Gaben. zitiert. – Konzipiert ist das Ganze für ein ein
bisschen idealisch besetztes Ensemble aus amerikanischen Künstlern mit, wie man
so schön sagt, Migrationshintergrund: Itzhak Perlman, geboren in Israel, spielt die
Geige, Yo-Yo Ma, mit chinesischen Wurzeln, das Cello, Gabriela Montero am
Klavier kommt aus Venezuela, und Anthony McGill, der Klarinettist, ist Afro-
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Amerikaner. Die Washington Post hat zwar nach der Amtseinführung leicht
genervt gelästert, das sei nur das weitere Breittreten der ziemlich ausgelatschten
Idee von den sauberen Werten der All-American-ness gewesen, aber sogar
dieser Kritiker musste zugeben, dass der symbolische Gehalt des Stückchens ihn
schließlich irgendwie berührt hat - wie die vier Stimmen sich da in der alten,
amerikanischen Melodie miteinander verweben, und wie trotzdem jede ihren
eigenen Charakter behält...So sollte Amerika sein.
Wie sagte Roosevelt: „Wir sind immer noch in der Erschaffung“.
[Industrie /ZSK] 9373163 04-001, 4'31
John Williams Air and simple gifts Williams, John / Yo-yo Ma / Perlman, Itzhak /
Montero, Gabriela / Mcgill, Anthony