SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Born in the USA –
Eine Amerikanische Musikgeschichte in
5 Präsidenten
Roosevelt (3)
Von Katharina Eickhoff
Sendung:
Mittwoch, 27.07. Juli 2016
Redaktion:
Bettina Winkler
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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„Musikstunde“ mit Katharina Eickhoff
Born in the USA –
Eine Amerikanische Musikgeschichte in 5 Präsidenten
Roosevelt (3)
SWR 2, 25. Juli – 29. Juli 2016, 9h05 – 10h00
Indikativ
1’30
Four Freedoms
Franklin D. Roosevelt, State of the Union Address Jan.1941
Two minute clip of Paramount newsreel footage of President Roosevelt's 1941
Annual Message to Congress (Film ID 201-823-3-1) synced with audio from the
Roosevelt Library Audio Recordings Collection
(http://www.fdrlibrary.marist.edu/arch...). Film copyrighted by Sherman Grinberg
Film Library
Four Freedoms – Vier Freiheiten.
Die hat Franklin Delano Roosevelt im Januar 1941 in seiner Ansprache zur Lage
der Nation formuliert: Freiheit der Rede, Freiheit der Religion, die Freiheit von Not
und viertens die Freiheit von Furcht, verbunden mit der Forderung nach globaler
Abrüstung.
Entscheidend war damals allerdings dieser kleine Nachsatz, den Roosevelt jeder
seiner vier Freiheitsforderungen hinterhergeschoben hat, fast gebetsmühlenhaft:
Everywhere in the world. Überall auf der Welt.
Diese Rede Roosevelts hat Legendenstatus, und sie hat die USA in ein neues
Zeitalter katapultiert. Bis dahin waren die Vereinigten Staaten vor allem mit sich
selbst beschäftigt, es gab ja auch genug zu klären bei einem so riesigen Land
und einer so jungen Nation, Demokratie will auch erst mal gelernt sein - und
deshalb hat man sich dankbar an die im 19. Jahrhundert von Präsident Monroe
ausgegebene Doktrin gehalten, dass Amerika sich nirgends einmischen solle.
Aber inzwischen steckte man ja nun mal mitten im 20. Jahrhundert, und da war
plötzlich alles anders, nämlich deutlich komplizierter. Es gab Radio,
Wochenschau und auch schon das Fernsehen, Informationen von überall her,
politische und wirtschaftliche Beziehungen und Abhängigkeiten - der Rest der
Welt war nicht mehr so weit weg wie früher. Und spätestens nach dem Ersten
Weltkrieg war dann klar, dass es von nun an irgendwie immer um die ganze Welt
gehen würde, dass man nicht mehr unbeteiligt bleiben konnte, sondern mit allen
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reden, sich auch für die anderen verantwortlich fühlen musste, um diese Welt
besser zu machen. –
Die Welt verbessern, das klingt heute leider nach präsidialer Sonntagsrede, nach
hohler Phrase, aber Franklin Delano Roosevelt hatte diese - womöglich naive Vision, erstens, dass Amerika der Welt etwas zu geben hätte, und zweitens, dass
alle Völker, die auf diesem Planeten hausen, miteinander im Gespräch bleiben
sollten, um den Frieden und die Menschenrechte zu sichern.
Ohne Roosevelt wären die Vereinten Nationen damals wohl nicht gegründet
worden, und ohne ihn hätten sich die USA vermutlich auch nicht in den Zweiten
Weltkrieg eingeschaltet, Europa wäre erst mal nicht vom Faschismus befreit
worden, was ja gerade für uns Deutsche ein ziemlich unheimliches Szenario ist.
Insofern war also Roosevelts „evrywhere in the world“ ein historischer Schnitt, und
die Rede wurde damals auch gleich als historisch begriffen. Der Maler Norman
Rockwell, der wie kein anderer Amerika in diesen Jahrzehnten auf den Punkt
gebracht hat, Rockwell hat gleich eine 4-er-Serie von Bildern konzipiert, die die
„Vier Freiheiten“ darstellen sollten, und Aaron Copland, Amerikas Komponist der
Stunde, wollte das kurze Orchesterstück, das er wenig später als Ermunterung in
Kriegszeiten komponiert hat, eigentlich „Fanfare for Four Freedoms“ nennen.
Er hat sich dann nochmal umentschieden und einen anderen Titel gefunden, der
das Roosevelt’sche Gefühl für die Würde des Menschen damals vielleicht noch
besser auf den Punkt brachte: Fanfare for the common man – keine Fanfare für
Helden, sondern eine für alle ganz normalen Menschen...
DIGAS
M0017459(AMS)
01-001
Aaron Copland, Fanfare for the common man
London Symphony Orchestra, Aaron Copland
3'16
...Fanfare for the common man, die ursprünglich nach Roosevelts berühmter
Rede „Fanfare for Four Freedoms“ heißen sollte.
Für uns in Europa ist Franklin D. Roosevelt vor allem der D-Day-Präsident, der
Mann, der die Amerikaner davon überzeugt hat, dass man Hitlers Wahnsinn in
Europa mit allen Mitteln stoppen muss – aber für Amerika war auch schon
wichtig, dass er in den 30-er Jahren soziale und wirtschaftliche Reformen
eingeleitet hat, die ziemlich bahnbrechend waren: Schnelle Hilfe für die Massen
von Armen und Arbeitslosen, Kontrolle der Finanzmärkte, Mindestlohn, Arbeitsund Sozialversicherung, und überhaupt eine gerechtere Verteilung des Kapitals
für alle – die Maßnahmen, die Roosevelt da vorangetrieben hat, muten für
heutige Verhältnisse geradezu sozialistisch an, und mit seinen Plänen für den
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„New Deal“, wie das Ganze genannt wurde, würde er heute in den USA nicht
eine einzige Vorwahl gewinnen, aber damals hat er die Leute überzeugen
können, dass der Gemeinschaftsgedanke die richtige Antwort auf die
katastrophale Wirtschaftskrise war, die Amerika im Griff hatte.
Die 20-er Jahre waren ja vorher in einer Art kollektivem kapitalistischen Delirium
vorbeigerauscht, Präsident Coolidge hat damals eine Laisser-faire-Politik
praktiziert, jeder durfte sich bereichern, wie es ihm gefiel, die Banken machten,
was sie wollten, jeder hat an der Börse spekuliert, und der Staat griff nicht ein,
man war doch schließlich im „Land of the Free“ – Thomas Jeffersons einstige
laute Warnung vor dem Bankenwesen war lange vergessen. Nach dem
Schwarzen Freitag 1929 ist dann sukzessive das Kartenhaus in sich
zusammengefallen, und auch wenn in den Städten ein paar Millionäre aus den
Fenstern gesprungen sind: die wahren Leidtragenden waren die sowieso schon
armen Leute, die Millionen von Arbeitslosen in den Industriegebieten, und die
Arbeiter und Bauern draußen im weiten Land – zumal dieses Land die Leute
damals auch noch im Stich gelassen hat. In den Great Plains, den großen, weiten
Ebenen im mittleren Westen, in Colorado und Kansas, Nebraska, Dakota und
Oklahoma bis runter nach Arizona und Texas, gab es kapitale Dürren, der
staubtrockene Boden ist falsch bewirtschaftet worden, und so sind ab den
späten Zwanziger Jahren verheerende Sandstürme aufgekommen. Tausende
von Bauern mussten ihre Farmen aufgeben, es war ein Umwelt-Desaster von
gigantischen Ausmaßen, überall nur Einöde und Hoffnungslosigkeit.
Die Gegend hieß seitdem nur noch Dust Bowl – Staubschüssel.
Oklahoma war von alledem wohl am schlimmsten betroffen, deshalb nannte
man all diese von Staub und Sand und unbarmherzigen Geldeintreibern
ruinierten Menschen auch die „Okies“. Einer dieser Okies war ein junger Typ mit
Gitarre, der in diesen Jahren und in diesen Gegenden Material gesammelt hat
für eine Platte, die dann eine Art Gründungsmanifest für Amerikas SingerSongwriter geworden ist: Dust Bowl Ballads von Woody Guthrie.
CD
T. 1
Woody Guthrie, Dust can’t kill me
Perfomance 1075807
3’00
„Dust can’t kill me“, sang Woody Guthrie trotzig – „Guthrie singen zu hören“,
schreibt sein Biograf, „ist, wie wenn man in eine Zitrone beißt.“
Aber mit seinen Songs, dieser leicht windschiefen Mischung aus dem
Südstaatenblues der ehemaligen Sklaven und den Volksliedern der Appalachen,
hat Guthrie dem heißgeliebten Folksong-Singen in Amerika eine neue,
sozialkritische Ausrichtung verpasst – und er ist damit das erklärte Vorbild fast aller
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großen Singer-Songwriter gewesen, vor allem Bob Dylan und später ganz
besondets Bruce Springsteen haben sich immer wieder auf ihn bezogen.
„Ein Folksong“, so Guthries knappe Definition, „handelt von Problemen und wie
man sie löst.“ Auch das war jetzt Amerika: Massen von unterprivilegierten Opfern
des Kapitalismus, die sich ihre Würde und ihren Schneid aber nicht einfach so
abkaufen lassen wollten.
John Steinbeck, der in seinem Roman „Früchte des Zorns“ diese amerikanische
Dust Bowl-Generation thematisiert, Steinbeck schreibt über Guthrie: „Mit seiner
rauhen und nasalen Stimme, seiner wie ein Montierhebel an einer rostigen Felge
hängenden Gitarre ist überhaupt nichts nett an Woody, und es ist auch nichts
Nettes in den Songs, die er singt. Wer ihm zuhört, entdeckt aber etwas
Wichtigeres. Da ist der Wille der Menschen, durchzuhalten und gegen
Unterdrückung zu kämpfen. Ich glaube, das kann man den amerikanischen Geist
nennen.“
Es war ein ziemlich linker amerikanischer Geist, der da damals aufgekommen ist,
und der spiegelt sich auch in den Reformen, die Roosevelt mit seinem New Deal
durchgezogen hat – einiges davon hatte Erfolg, die Bevölkerung hatte das
Gefühl, dass „die da in Washington“ sich um sie kümmerten.
Und nicht zuletzt deshalb waren dann die USA so ziemlich das einzige Land, in
dem die Demokratie trotz des furchtbaren Elends der Wirtschaftskrise stark
geblieben ist. Als ab 1940 alle Zeichen auf Krieg stehen, rüstet Amerika auf, das
bringt zusätzlich Arbeitsplätze, und plötzlich ist die Wirtschaftskrise passé. Aber das
letzte Wort zu Oklahoma ist noch nicht gesprochen.
CD
Oklahoma Refrain
s.u.
T. 2
bis 0’30, dann unter Text wegblenden
1943, mitten im Krieg, bringt das neue Erfolgsgespann Rodgers und Hammerstein
sein erstes gemeinsames Stück heraus: „Oklahoma!“ erzählt eine andere
Geschichte vom amerikanischen Herzland, das Stück macht das verbreitete Bild
von den „Okies“ als verhärmten Losern wieder wett, und zeichnet ein neues, mit
dem sich ganz Amerika identifizieren kann: Die Landschaft so weit und frei wie
die Herzen, drin wohnen Menschen, die ihr Land lieben und füreinander da sind
und auch schwierige Zeiten irgendwie zusammen durchstehen.
Oklahoma! ist beileibe nicht die subtilste Musik, die Richard Rodgers je
geschrieben hat, obwohl das Stück auch musikalisch als bahnbrechend gilt.
Seine Heimatseligkeit wird heute auch gern von Tea-Party-Demagogen und der
Trump-Mischpoke für patriotische Einzugsmärsche missbraucht, und im Gegensatz
zu Gegenwartskünstlern wie Adele oder Steven Tyler, die sich verbeten haben,
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dass ihre Sachen im Trump-Wahlkampf gespielt werden, können sich Rodgers
und Hammerstein ja nicht mehr wehren...
Aber der Patriotismus von 1943 ist nicht auf heute übertragbar, er kannte kein
Rechts oder Links. Ende 1943 waren 65 Millionen Amerikanerinnen und
Amerikaner in Uniform, und niemand wusste, was ihnen bevorstand. Die Leute,
alle Leute, machten sich Sorgen und brauchten Bestärkung - Und in diese
eigentümliche Stimmung zwischen Euphorie und Angst platzte nun also diese
Broadway-Show mit ihren großen Gefühlen, ihren volksliedhaften Melodien und
ihrer sonnig-wohligen Atmosphäre der Heimatliebe... Oklahoma! wurde zum
größten Erfolg, den der Broadway bis dahin erlebt hatte.
CD
T. 2
Richard Rodgers, Oklahoma!
Alfred Drake
Decca 1411113
2’30
Vielleicht ist es kein Zufall, dass eins der wichtigsten Werke für Orchester aus
diesen amerikanischen Jahren auch unter Farmern draußen auf dem Land spielt.
Und der, der es komponiert hat, Aaron Copland, ist zu dem Zeitpunkt sowieso
schon Amerikas bedeutendster Komponist.
Charles Ives hat man in den USA zu seinen Lebzeiten meist noch als armen Irren
abgetan, aber inzwischen gibt es unbezweifelbar eine genuin amerikanische
Musik. Und dass die als solche wahrgenommen wird und, nicht unwichtig, auch
von vielen gehört werden will, ja, dass sie zur nationalen und kulturellen
Identifikation beiträgt, das ist vor allem das Verdienst von Aaron Copland. Der
hat gar nicht unbedingt mal die Musik revolutioniert, aber sehr wohl die
Einstellung zu ihr – Copland war einer der ersten unter Amerikas Intellektuellen,
der das als eine Art Manifest formuliert hat: Dass die Verhältnisse in dieser nun
doch schon erstaunlich lange währenden Demokratie USA nun mal andere
waren als drüben in Europa, und dass man mit europäischem Elitismus in diesem
Land nicht weiterkommen würde. Auch in der Musik nicht.
Copland hätte nach seinem Kompositionsunterricht in Europa bei Nadia
Boulanger auch europäisch klingende Musik schreiben können, damit hat man ja
in den USA bis weit ins 20. Jahrhundert immer am meisten Erfolg gehabt, weil
Europa in Sachen Musik nun mal das Maß aller Dinge war. Aber die Inspiration
Antonin Dvoraks, der bei seinem Amerika-Besuch den Amerikanern dringend ans
Herz gelegt hat, aus der eigenen, wunderbaren Folklore gefälligst endlich mal
was zu machen, diese Inspiration hat nachgewirkt. Und Aaron Copland hat die
Idee dann als erster konsequent verfolgt, bei ihm klingen Folksongs aus den
Appalachen und Cowboytänze aus den Great Plains mit, mexikanische und
kubanische Rhythmen und geistliche Hymnen aus ganz alten Tagen. Copland
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hat die Vereinfachung seiner musikalischen Sprache ganz bewusst
vorangetrieben, weil er der festen Überzeugung war, dass es möglich sein
musste, das, was zu sagen war, in der einfachstmöglichen Weise zu sagen, ohne
an Qualität zu verlieren.
Er wollte gehört und verstanden werden und mit seiner Musik so viele Menschen
wie nur möglich erreichen – ein Ziel, das europäischen Komponisten der Moderne
ja im Zweifelsfall verdächtig vorgekommen wäre... „Das neue Musikpublikum“, so
Copland, “wird Musik brauchen, die es verstehen kann. Das Bedürfnis, meine
Musik dem größtmöglichen Publikum zu vermitteln, ist kein bloßer Opportunismus.
Es kommt aus dem gesunden Verlangen jedes Künstlers, seine tiefsten Gefühle in
seinen Mitmenschen gespiegelt zu sehen. Und das wiederum ist nicht ohne
politische Bedeutung, denn es entspringt dem Wunsch, das demokratische Ideal
zu bestärken.“
Jetzt will man schon den Kopf einziehen in Erwartung irgendwelcher patriotischer
Kantaten der schlichteren Art auf alte Schlachtenbummler-Songs, aber so
einfach hat es sich Copland nicht gemacht, auch wenn Adorno voller
Verachtung über ihn sagte, seine Musik sei was für stalinistische
Intellektuelle...aber Adorno hat mit amerikanischen Sichtweisen nun mal nichts
anfangen können. In dem Stück, für das Copland dann den Pulitzer-Preis
bekommen hat, variiert er ein sehr bekanntes amerikanisches Lied, aber er tut
das auf enorm kunstvolle Art: „Appalachian Spring“ war ursprünglich ein Ballett,
aus dem dann noch ein Orchesterwerk geworden ist, es erzählt von einer
Landhochzeit in den Tagen der Pioneers im frühen 19. Jahrhundert, das Setting ist
im Grunde ganz ähnlich wie bei Oklahoma, eine Farm in Pennsylvania, ein junges
Paar, ein Erweckungsgottesdienst mit anschließendem Country-Dance und
Fiddle-Musik, und dann das Leben der beiden auf der Farm in Einklang mit der
Natur...Das ist der Variationenteil, und da steht im Mittelpunkt dieses alte kleine
Lied aus der Gemeinde der Shaker, dieser seltsamen, fleißigen, durch und durch
pazifistischen Sekte: Simple Gifts – Schlichte Gaben.
CD „Simple Gifts“
T. 34
Joseph Brackett, Simple Gifts
Joel Frederiksen, Boston Camerata
Erato 4509-98491-2
1’00
Simpel ist „Simple Gifts“ dann nach Coplands Variationenbehandlung weiß Gott
nicht mehr – das Ganze mündet in ein feierliches orchestrales Tutti und wird damit
zur Hymne auf eine idealisierte, in sich ruhende Nation, deren Geist so weit ist wie
die Landschaften, die sie bewohnt...man muss es einfach mögen, dieses
Copland’sche Amerika...
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DIGAS
Ausschnitt 4’40
AMS
M0012398(AMS)
01-00101-008 24'32
Aaron Copland, Appalachian Spring, Simple Gifts
New York Philharmonic, Leonard Bernstein
Aaron Copland war mit seiner ganzen beeindruckenden, intellektuellen und
liberalen Persönlichkeit und seinem zum Alter hin erstaunlichen Grad an Weisheit
der Komponist Amerikas, keine Frage, und doch kam die erste ganz und gar
amerikanische Sinfonie nicht von ihm.
Es gab da ja noch einen anderen, den, mit ein paar Jahrzehnten Verspätung,
Antonin Dvoraks Empfehlung umgetrieben hat, dass Amerika sich unbedingt mal
mit seiner doch in rauhen Mengen vorhandenen Folkmusik beschäftigen solle:
Roy Harris stammte zeichenhafterweise aus Oklahoma, aus Lincoln County, und
er hat immer gern betont, dass er an Lincolns Geburtstag zur Welt gekommen ist.
Aaron Copland, der immer ohne Konkurrenzneid begabte Kollegen gefördert
hat, Copland hat Harris dann nach Paris zu seiner Lehrerin Nadia Boulanger
vermittelt, dieser wunderbaren Frau, die jeden ihrer Schüler nach seiner Facon
hat glücklich werden lassen, und die so im 20. Jahrhundert unglaublich viele
bedeutende Komponisten in die Welt geschickt hat.
Bei ihr hat Harris das Handwerk gelernt, aber die künstlerische Idee für seine
Musik, die kam ganz aus ihm selbst: Keiner, nicht mal Aaron Copland, hat die
unendlichen Weiten Amerikas so in Orchesterbewegung gefasst wie Harris. Seine
Dritte Sinfonie hat in den USA einen festen Platz in der Hall of Fame als DIE
amerikanische Sinfonie, und sie hat etwas Elementares – sie scheint irgendwie aus
ihren eigenen Wurzeln in diese amerikanische Weite hineinzuwachsen, die
Harmonien sind teilweise fast archaisch, Harris war ein großer Freund der
Renaissance-Musik, und mit ausholenden, großen Bewegungen, einem sehr
amerikanischen „Think Big“, arbeitet sich diese dritte Sinfonie zu einem pastoralen
Mittelteil vor, in dem plötzlich wunderbar flirrende Orchesterflächen zu hören sind,
über denen Fetzen von alten Folksongs und Hymnen tanzen. Es stimmt schon:
Diese Musik klingt nicht nach dem oder jenem Vorbild, sie scheint irgendwie aus
dem Nichts gekommen zu sein, und sie wurde, als sie kam, auch dringend
gebraucht.
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CD
T. 3
auf Zeit, ausbl. auf jeden Fall
um 6’00
Roy Harris, Symphony No.3
Detroit Symphony Orchestra, Neeme Järvi
Chandos 9474
...uraufgeführt im Jahr 1939 von Serge Koussevitzky, dem damals wohl
innovativsten Dirigenten Amerikas, der für die amerikanische Musik unendlich viel
getan hat, aber auch sonst nicht ganz unwichtig gewesen ist – Bela Bartoks
Schwanengesang, sein Konzert für Orchester, war auch ein Koussevitzky-Auftrag,
nur so zum Beispiel.
Und seine Liebe für die Musik von Roy Haris hat Koussevitzky seinem Lieblings- und
Meisterschüler vererbt, der hieß Leonard Bernstein, und stand hier am Pult des
New York Philharmonic.
Womit wir dann also beim nächsten Protagonisten wären – oder vielleicht sind es
auch zwei: Leonard Bernstein UND New York...
„New York in the Forties“ heißt ein Band mit Fotografien von Andreas Feininger –
der Sohn des Malers Lyonel Feininger war einer der bedeutendsten Fotografen
Amerikas, und er hat in seinem Buch über New York in den 40-ern den großen
„Dimout“ dokumentiert, die offiziell angeordnete Verdunkelung New Yorks in den
Kriegsjahren.
Das leuchtende und glitzernde und blinkende New York mit seiner grün
strahlenden Freiheitsstatue wäre für deutsche U-Boote und Flugzeuge eine
Einladung gewesen.
Deshalb gilt nach Kriegseintritt ab 1942 eben die Parole „Licht aus!“ - und die
Fotos zeigen, dass man sich dran gehalten hat. Durch die lichtlose Pennsylvania
Station huschen Gestalten im Halbdunkel, am Times Square sind sämtliche
Leuchtreklamen abgeschaltet, das Empire State Building und die Statue of
Liberty sind nichts als zwei kolossale schwarze Schatten. Die Bilder von
gespenstischer Ruhe täuschen allerdings ein bisschen darüber hinweg, dass in
der Stadt selbst eine fiebrige Stimmung zwischen Aufbruch und Ungewissheit
herrscht:
New Yorks Hafen war im 2. Weltkrieg einer der wichtigsten Sammelpunkte der
amerikanischen Marine, nach Kriegseintritt sind damals aus dem ganzen Land
junge Männer hier eingetroffen, um auf ihre Verschickung irgendwohin zu
warten.
Jerome Robbins, der berühmte Choreograph, erinnert sich:
„Ich hatte damals einen Tanzjob an der alten Metropolitan Opera, unten, an der
41. Straße, und wenn Du zum Bühneneingang rausgingst, waren da tausende von
Marinesoldaten überall in ganz New York – das war 1944. Und alle wollten sie
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Spaß haben. Und alle Mädchen New Yorks waren unterwegs. Und ich dachte:
he, das wäre ein tolles Sujet!“ –
Und dann geht alles schnell: Robbins schnappt sich den gleichaltrigen Leonard
Bernstein und fragt, ob ihm zu der Story mit drei flirtwilligen Marinesoldaten in New
York irgendwas einfiele, und Bernstein hat geantwortet: „Witzig, dass du fragst.
Gerade heute Mittag im Russian Tea Room hatte ich diese Melodie da im Kopf,
die ich dann auf eine Serviette geschrieben habe...“.
„On the town“, wo „diese Melodie da“ dann auftaucht, war überhaupt kein
typisches Broadway-Stück, und die Macher von On the town waren keine
typischen Broadway-Macher.
Jerome Robbins war ein Ballets-Russes-Schüler, der noch unter Anleitung Fokines
den Feuervogel getanzt hat, die zwei Texter, Betty Comden und Adolph Green,
trieben sich sonst in Greenwich Village herum und schrieben lustige KabarettSongs, und der Komponist, Lenny Bernstein, war eigentlich gerade dabei, ein sehr
berühmter Dirigent zu werden, nachdem er aufsehenerregend kurzfristig bei
einem Carnegie Hall-Konzert für Bruno Walter eingesprungen war. Sie waren alle
Mitte, Ende Zwanzig, hatten keinerlei Broadway-Erfahrung, aber einen
unglaublichen Spaß an der Sache.
Drei unternehmungslustige Marinesoldaten, so die Storyline, haben
vierundzwanzig Stunden freie Zeit in New York, bevor ihr Schiff ausläuft, in diesen
Stunden trifft jeder der drei sein Traummädchen, derweil ihnen New York alles
gibt, was New York zu geben hat: Stadtgeschichte, Kultur, Liebe, Verwirrung,
Lachen, Herzschmerz und Geschwindigkeit.
Was aus dieser Geschichte bei den allabendlichen turbulenten Arbeitssitzungen
in Bernsteins Apartment wurde, hatte einen für den Broadway und für Amerika
komplett neuen Tonfall und ein bis dahin noch nicht dagewesenes, zeitgemäßes
Tempo, das die aufgeheizte Atmosphäre dieser Kriegsjahre für die Nachwelt
konserviert hat:
CD
T. 4
Leonard Bernstein, On the town, New York, New York
Thomas Hampson, Kurt Ollmann, David Garrison,
London Symphony Orchestra, Michael Tilson Thomas
DG 1940154
4’00
...Zurück zu „FDR“, wie er in den USA auch gern genannt wird.
„Das einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst“, hat er zu seinem
ersten Amtsantritt gesagt, und dieser typisch neuenglische Elitemensch aus
bester Familie, der fließend Deutsch und Französisch gesprochen hat, ist dann
trotz aller scheinbaren Abgehobenheit zur Identifikationsfigur und zum
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Mutmacher geworden, die Amerikaner haben ihm zugehört, wenn er in den von
ihm eingeführten „Kamingesprächen“ aus dem Sessel seine Politik erklärt hat –
man sah ihn immer sitzend, seit einer schweren Nervenerkrankung konnte
Roosevelt nur unter enormen Mühen und mit eisernen Beinschienen gehen, aber
er wollte um keinen Preis, dass das von dem, was er sagte, ablenkte. Also hat er
seine wichtigen Sätze eben sitzend gesprochen, zum Beispiel den:
„Es gibt etwas, das ist schlimmer als keinen Erfolg zu haben:
Nichts unternommen zu haben.“
Roosevelt steht bis heute regelmäßig mit auf dem Siegertreppchen, wenn es in
den USA Umfragen nach dem bedeutendsten Präsidenten der Vereinigten
Staaten gibt – hinter George Washington und Abraham Lincoln, und das, obwohl
er die USA in den Zweiten Weltkrieg geführt hat, aus dem sich die meisten im
Land eigentlich lieber rausgehalten hätten.
Aber Roosevelt hat die Amerikaner damals mit seinem „One World“-Gedanken
überzeugt, einer Idee, die aktuell gerade, angeführt von Donald Trump, ziemlich
viele Gegner hat in den USA, die aber eigentlich gar nicht pathetisch, sondern
realistisch ist:
„...dass wir“, so Roosevelt, „nicht alleine in Frieden leben können; dass unser
eigenes Wohlergehen vom Wohlergehen anderer Nationen abhängt – weit
entfernter Nationen. Wir haben gelernt, Bürger der Welt zu sein, Mitglieder der
menschlichen Gemeinschaft. Wir haben die einfache Wahrheit Emersons gelernt,
dass der einzige Weg, einen Freund zu haben, ist, einer zu sein.“
Wenn man Roosevelt so im Sinne eines Wunschkonzerts gefragt hätte, welchen
Song er sich denn fürs Ende „seiner“ Sendung wünschen würde, dann hätte er
vermutlich das Lied genannt, das er zum Kampagnensong für seine dritte
Präsidentschaft gemacht hat, und das von einem geschrieben wurde, der so
ziemlich alles Gute an Amerika repräsentiert - Israel Isidor Balin aus Weißrussland
hat in den USA eine Karriere in Überschall hingelegt, die so unglaublich typisch für
gelungene amerikanische Biografien damals war: Als Kind auf Ellis Island
angekommen, als junger Mann singender Kellner, mit Anfang zwanzig dann
aufgrund seiner begnadeten Songs schon Partner in einem Verlag, mit
Schreibtisch, Zigarre und Namen an der Tür, und nachdem irgend ein Drucker
etwas falsch verstanden und statt „Balin“ „Berlin“ auf das Notenblättchen
gedruckt hatte, war auch der Name geboren, der dann bald in ganz Amerika
und darüber hinaus bekannt wurde – Irving Berlin.
Berlin hat als erster gespürt, dass da in New York eine musikalische Ära – die
europäische – endete, und dass eine neue – die amerikanische – anfing. Er hat
die Rhythmen des Jazz auf eine ungeheuer elegante Art integriert und dabei
trotzdem Gefühl und Melodie nicht vergessen – Berlins Sachen hatten einfach
Swing.
Aber bei aller Nonchalance war er eben auch zeitlebens ein großer Patriot Berlin fand, Amerika habe noch viel mehr für ihn getan als er für Amerika, und mit
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in diesem Sinne übervollem Herzen hat er für eine Truppenrevue im Ersten
Weltkrieg ein Lied geschrieben.
1939, als es schon wieder nach Krieg roch und der amerikanische Patriotismus
irgendwie weniger spielerisch und sehr viel pathetischer geworden war – da hat
Berlin dieses Lied, diese Hymne an seine Heimat, wieder aus dem Schrank geholt,
und, wen wunderts, die Leute weinten vor Vaterlandsglück. Für uns Europäer ist
das Stück heutzutage ein bisschen „too much“, vor allem, wenn es mit Hand auf
dem Herzen von Ensembles wie dem Mormon Tabernacle Choir angestimmt wird.
Aber wenn Irving Berlin es selber singt, dieser kleine Mann mit seiner
Immigrantengeschichte und seiner unprätentiösen Quäke-Stimme, dann wird
diese seit Roosevelts Zeiten heimliche amerikanische Nationalhymne doch noch
zum rührenden Zeitzeugnis.
Und in dieser Version passt es auch zu Franklin D. Roosevelts womöglich bestem
Satz, mit dem sich Amerika vielleicht mal ein bisschen entspannen würde, wenn
es sich nur dran erinnern könnte:
„Ich sehe die Vereinigten Staaten nicht als fertiges Produkt.
Wir sind immer noch in der Erschaffung.“
CD
T. 5
unter Abs. legen ab 2’00
Irving Berlin, God bless America
Music & Arts CD-971