Mündliche Erzählkultur – von der „Halqa“ zur Flüchtlingskrise

Veranstaltung:
Mündliche Erzählkultur – von der „Halqa“ zur Flüchtlingskrise
Foto: © Susanne Kaiser, 2014
Die Ḥalqa als fester Bestandteil der Erzählkultur in Marokko: Eine
Erzählerin schlägt hier in Casablanca das Publikum in ihren Bann
Vortrag mit Diskussion:
Otmane Lihiya „Der Hlaiqi. Mündliche Erzähler in Marokko“
Performance und Projekt:
Britta Wilmsmeier „Nachtigall ick hör dir trapsen.
Lokales Erzählen im globalen Kontext“
Wann? Am 17. Oktober 2015, 11.30 Uhr
Wo? Im Neuköllner „Fincan“, Altenbraker Str. 26, 12051 Berlin
Anmeldung bitte an: [email protected]
Organisation: Susanne Kaiser und Laura Overmeyer
In seinem Vortrag beschäftigt sich der Arabist Otmane Lihiya mit der Erzähltradition in Marokko. Als
jemand, der selbst aus einer Erzählerfamilie kommt, wird er erläutern, welche Funktion die Halqa
(„Erzählrunde“) hat, was sie war und was sie heute ist und welche Rolle die Erzählerin dabei spielt.
Die mündliche Erzähltradition ist im Maghreb und in anderen Teilen der arabischen Welt mindestens einige
Jahrhunderte alt. Erzählt werden Mythen, Sagen, Märchen, Legenden, Anekdoten, Gedichte, Lieder und
historische Ereignisse – oder auch Kinofilme. Besonders in Marokko und Syrien ist die Erzählung als
öffentliches Spektakel verwurzelt. In Marokko treten bis heute professionelle Geschichtenerzähler auf, um in der
Halqa Geschichten zu erzählen. In Syrien hingegen lässt sich aufgrund des Bürgerkriegs nur schwer sagen, wie
es mit der mündlichen Erzähltradition weitergeht.
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In der Halqa erzählen ein oder mehrere Erzähler auf einem öffentlichen Platz einem Kreis von Zuhörern
Geschichten. Sie treten dabei in Dialog zu ihrem Publikum und binden es in die Erzählungen ein. Bei dieser
spontanen und performativen Form der mündlichen Erzählkultur, die besonders in großen Städten wie Rabat
oder Casablanca regelmäßig stattfindet, gehören längst auch Frauen als öffentliche professionelle Erzählerinnen
zum Stadtbild. In Marrakesch ist der zentrale Platz „Djemaa El Fna“ berühmt oder eher berüchtigt für seine
Erzähler, seit 2001 sogar als UNESCO-Weltkulturerbe „Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes
der Menschheit“. Hier jedoch ist die Halqa vor allem Folkloretheater, wie viele Marokkaner kritisieren.
Das wichtigste Medium einer mündlichen Darbietung ist der Körper, der durch Stimme, Gestik, Mimik oder
Körperhaltung die Erzählung konstituiert, begleitet oder konterkariert. Doch ist nicht allein der Körper der
Erzählerin entscheidend für das Zustandekommen einer Geschichte, ebenso kommt es auf die Körper der
Zuhörer an, die im interaktiven Zusammenspiel durch Zurufe, eigene Versionen oder Beschwerden über
Handlungsverläufe die Erzählung mitgestalten und so ihren Verlauf mitbestimmen. Die Erzählung ist also nicht
nur Werk einer Einzelnen, sondern wird kollektiv und performativ zustande gebracht.
Erzählen in Zeiten der Flüchtlingskrise
Erzählerin Britta Wilmsmeier
Foto: © Heidi Scherm
Im zweiten Teil der Veranstaltung wird Erzählerin Britta Wilmsmeier eine Geschichte erzählen und über
ihre Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Blick auf Krisenbewältigung und die
heilende Wirkung von Geschichten und Märchen sprechen. Ihr neuestes Projekt „Erzählen macht stark“
wendet sich besonders an Flüchtlinge.
Erzählungen dienen zur Unterhaltung, aber ebenso zur Belehrung und Verständigung. Eltern erzählen ihren
Kindern Märchen, einerseits um sie an die umgebende Welt heran zu führen, andererseits um ihnen einen
Normen- und Wertekanon an die Hand zu geben, mit welchem sie diese Welt selbstständig betreten können. Der
Akt des Erzählens ist somit mehr als das bloße Wiedergeben einer Geschichte. Doch welchen Stellenwert hat das
Erzählen außerhalb des gewohnten Kulturkreises oder Wertekanons in einer Zeit, in der Menschen auf der Flucht
in Massen ihre Heimat verlassen?
Gerade in dieser Situation kann Erzählen auch Möglichkeiten der Verarbeitung bieten, Trost oder Hoffnung
spenden. Gerät die äußere Welt aus den Fugen, so hilft menschliche Zuwendung, nicht zuletzt durch
Anteilnahme und die persönliche Stimme auf dem Weg zu einer inneren Stabilität.
Erzählen findet heute Anwendung in der Trauma-Therapie, bei der Beschäftigung mit Demenz-Kranken oder in
der Palliativ-Betreuung. Und der oft erstaunlich universelle Charakter von Erzählungen ermöglicht zudem eine
Annäherung über die eigenen traditionellen und kulturellen „Grenzen“ hinaus, sodass Erzählen auch vermehrt in
der Arbeit mit Migranten zum Einsatz kommt. Der integrierende und heilende Charakter des Erzählens hilft bei
der Bewältigung von Erinnerungen an Flucht, Gewalt und Entwurzelung und baut Vertrauen auf – nicht nur bei
Kindern, sondern auch bei Erwachsenen.
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