Manuskript

2
SWR2 Tandem - Manuskriptdienst
Die russischen Nachthexen
Irina Rakobolskaja und ihr Fliegerbataillon
Autor:
Antje Leetz
Redaktion:
Nadja Odeh
Regie:
Günter Maurer
Sendung:
Montag, 23.05.2016 um 19.20 Uhr in SWR2
Wiederholung:
Dienstag, 24.05.2016 um 10.05 Uhr in SWR2
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Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
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MANUSKRIPT
O-TÖNE:
Irina Rakobolskaja – ehemalige Fliegerin.
Anetschka, Haushaltshilfe (Atmo)
Autorin (Atmo)
PERSONEN:
Sprecherin (overvoice Irina Rakobolskaja)
Erzählerin
MUSIKVORSCHLÄGE:
russ. Tango „Utomljonnoje solnze“
russ. Soldatenwalzer von Utessow
ATMO 01:
1'22
Geräusch des kleinen Flugzeugs PO-2.
REGIE: Folgenden O-Ton plus Übersetzung als Prolog kenntlich machen
O-TON 01 RAKOBOLSKAJA:
1'
I kogda kontschilas woina, shiteli etoi derewni napisali pismo w gasetu „Prawda“...
Pomogite poshaluista, kogda natschalas woina, nad nami letal kakoi-to samoljotik,
jego sbili, on upal, i my wynuli is etogo oblomka samoljota dwa shenskich trupa. My
ich pochoronili w swojej derewne. My ne snajem, kto eto byl. Kak eto bylo. I my
prosim was dat objawlenije w gasete, schtoby roditeli ili bliskije ljudi mogli snat, gde
sachoroneny ich deti. Is gasety „Prawda“ prislali eto pismo nam,
w schtab polka bywschego. My poslali tuda kogo-to. Wskryli etu mogilu i naschli eti
dwa trupa oboshshonnych dewuschek, leshaschich w mogile.
Sprecherin (overvoice):
Als der Krieg zu Ende war, schickten die Bewohner eines Dorfes aus dem Süden
Russlands einen Brief an die Zeitung: „Bitte helft uns. Zu Kriegsanfang wurde über
uns ein kleines Flugzeug abgeschossen. Wir zogen zwei tote Mädchen aus den
Trümmern und beerdigten sie in unserem Dorf. Ihre Namen sind uns unbekannt.
Deshalb bitten wir Euch, eine Anzeige abzudrucken, damit die Eltern wissen, wo ihre
Kinder begraben sind.“ Die Zeitung leitete diesen Brief an uns weiter.
2
Wir fuhren ins Dorf, das Grab wurde geöffnet, und wir fanden dort zwei unserer
Mädchen - verbrannt.
AKZENT: Zurück in die Zeit davor: Juni 1941.
MUSIK 01:
48''
Tango: Utomljonnoje solnze. Kann bereits unter dem oberen O-Ton beginnen.
Darauf Erzählerin.
ERZÄHLERIN:
Es ist der Juni des Jahres 1941. Das Wochenende verspricht sommerlich warm zu
werden. Die Moskauer fahren ins Grüne. Nichts deutet auf die Tragödie hin, die am
nächsten Tag über das Land hereinbrechen wird. Die 20igjährige Physik-Studentin
Irina Rakobolskaja hat gerade ihre letzte Prüfung abgelegt und freut sich auf die
Semesterferien.
Musik 01: Tango. Wird hart unterbrochen durch :
ATMO 02:
1'05''
Sender Moskau: „Goworit Moskwa …“ Der berühmte Radiosprecher Lewitan
verkündet den Kriegsanfang.
ZITATOR:
Achtung. Hier spricht Moskau. Eine außerordentliche Mitteilung der sowjetischen
Regierung. Bürger und Bürgerinnen der Sowjetunion. Heute, am 22. Juni, um 4 Uhr
morgens, haben deutsche Truppen ohne Kriegserklärung unser Land überfallen ...
[[ATMO 03: Fliegeralarm]]
26''
3
ERZÄHLERIN:
Die Nachricht vom Kriegsausbruch trifft Irina wie alle anderen Bürger der
Sowjetunion völlig unerwartet. Über Nacht ändert sich ihr Leben.
O-TON 02 RAKOBOLSKAJA:
24''
Woina podchodila k Moskwe. Faschistskije woiska byli rjadom. Kakaja utschoba?!
Kakaja tam fisika?! Tschego nado delat, kogda tut woina natschinajetsja. I my wse,
mnogo otschen shenschin, wot eti dewotschki chlynuli w ZK komsomola.
Sprecherin (overvoice):
Plötzlich standen die faschistischen Truppen schon vor Moskau. Wie konnte ich da
noch ans Studieren denken?! An Physik?! Wie viele andere Mädchen stürmte auch
ich ins Zentralkomitee des Komsomol, der kommunistischen Jugendorganisation.
ATMO 04:
1'04''
R. holt aus einer Plastikhülle ein Liporello und erzählt. (Atmo geht über in O-Ton)
ERZÄHLERIN:
Die heute 96jährige hat schon alles sorgfältig vorbereitet, was sie mir zeigen will. Mit
zitternden Händen holt sie aus einer Plastikhülle ein vergilbtes Liporello. [[OCSie
faltet es vorsichtig auf, um es bloß nicht zu zerreißen. Ich sehe kleine lustige
Zeichnungen aus dem Leben der Kriegsjahre. Fast wie ein Comic-Heft.]]
O-TON 03 RAKOBOLSKAJA:
52''
Etot Krokodil oni risowali 72 goda tomu nasad. Wot oni risowali, kak my stojali w ZK
komsomola, na konlenkach polsali, schtob nas wsjali w armiju, (lacht) Wot takoi
krokodil. On u menja podlinnik. Ja jego nikomu ne daju. Mnje shalko.
4
Dewtschonki! 72 goda tomu nasad. Dewtschonki! Annchen, Wy ponimajete, eto she
ne wsroslyje ljudi. Eto ne te, kto byl objasan poiti na woinu. Eto byli dewtschonki,
kotoryje sami choteli wojewat.
Sprecherin (overvoice):
Diese Wandzeitung ist 72 Jahre alt. Hier sehen Sie, wie wir im Zentralkomitee des
Komsomol auf Knien flehen: Nehmt uns um Himmels Willen in die Armee auf. (Lacht)
Das ist das Original. Das gebe ich nicht her. Blutjunge Mädchen! Vor 72 Jahren!
Noch nicht erwachsen. Sie waren nicht verpflichtet, in den Krieg zu ziehen. Aber sie
wollten es.
ATMO 05:
27''
R. zeigt mir ihr Buch und erzählt.
oder:
ATMO 01: Geräusch der PO-2.
ERZÄHLERIN:
Als ich ihr am Telefon sagte, dass ich sie gern besuchen wolle, hatte sie mir mit
strenger Stimme geantwortet: „Sie können gern kommen, aber lesen Sie vorher mein
Buch. Sonst wissen Sie ja gar nicht, worum es geht.“ Ich fand es im russischen
Internet unter dem Titel „Man nannte uns Nachthexen“ und las die ganze Nacht
hindurch. Ich wusste, dass während des Zweiten Weltkriegs viele junge russische
Frauen an der Front kämpften. Eine Million waren es, mehr als in jeder anderen
Armee der Welt. Aber ein ganzes Fliegerregiment, das nur aus jungen Frauen
zwischen 17 und 22 Jahren bestand?!
ATMO 06:
57''
Irina zeigt mir Bilder und erzählt. Meine Stimme: Tut Berlin dashe. Eto toshe po
mojemu Berlin.
5
ERZÄHLERIN:
Irina zeigt mir Fotos aus ihrem Buch. Durch Schnee bin ich zu ihr auf die Moskauer
Sperlingsberge gestapft. Es ist Frühling, aber noch ziemlich kalt. Relativ privilegiert
wohnt Irina im Professoren-Flügel des Hauptgebäudes der Universität. Sie sitzt
aufrecht an ihrem großen gediegenen Schreibtisch. Die kurzgeschnittenen Haare
lassen sie jünger erscheinen als 96. Eine dicke Wolljacke wärmt ihre Schultern. Auf
der linken Brust sehe ich einen kleinen Orden. Ihre Augen sind fast blind.
ATMO 07:
Im Zimmer. Es geht um die Heizung, die nicht funktioniert.
20''
ERZÄHLERIN:
Im Zimmer ist es kalt. Die Zentralheizung funktioniert nicht.
Sprecherin (overvoice Atmo):
Fassen Sie doch mal die Heizung an. Wird sie warm? Ich höre, dass was plätschert.
Aber ob das Heizungswasser ist oder was anderes?
ERZÄHLERIN:
Sie lacht. Die Kälte scheint ihr nichts auszumachen.
O-TON 04 RAKOBOLSKAJA:
53''
Oni, kogda natschalas woina, oni podali sajawlenije, schtoby ich poslali na front. A
ich ne berut. I togda Raskowoi prischla w golowu takaja asarnaja mysl. Nado sosdat
shenskije awiazionnyje polki. Moshet byt, schto ne berut w arminju, potomu schto my
tam budem dlja muschtschin kem-to ili schto-to. Jej wokrug goworili: takoi praktiki w
mirowoi awiazii njet, schtoby byli shenskije polki. No takoi shenschiny kak Raskowa
w mirowoi awiazii toshe ne bylo. U njejo byla malenkaja rutschka. Ona shimala
kulatschok. Wot tak stutschala po stolu i goworila: Shenschina moshet wsjo!
Sprecherin (overvoice):
Als der Krieg begann, stellten die Mädchen einen Antrag. Sie wollten unbedingt an
die Front. Aber sie wurden abgewiesen. Da hatte Maria Raskowa, eine dreißigjährige
Pilotin, eine kühne Idee: Vielleicht werden wir nicht in die Armee aufgenommen, weil
wir die Männer nur auf andere Gedanken bringen. Also wollen wir ein
Fliegerregiment schaffen, das nur aus Frauen besteht. Das Wehrkomitee entgegnete
ihr, dass es so etwas auf der ganzen Welt noch nie gegeben hätte. Da hatte sich das
Wehrkomitee allerdings verrechnet.
6
Denn auf der ganzen Welt gab es auch nicht so eine hartnäckige Pilotin wie die
Raskowa. Sie hatte eine kleine Hand. Und die schloss sie zur Faust. Und haute auf
den Tisch und sagte: „Eine Frau kann alles!“
AKZENT
ERZÄHLERIN:
So entstand schließlich, auf Regierungsbefehl, das 46. Fliegerregiment, das vom
Piloten bis zum Mechaniker, vom Navigator bis zum Waffenmeister nur aus jungen
Frauen bestand. Eine weibliche Bezeichnung für die Tätigkeiten gab es in der
russischen Sprache nicht. Etwa Einhundert meldeten sich freiwillig. Sie wurden in die
Fliegerschule nach Engels gebracht – eine kleine Stadt liegt an der Wolga, 850
Kilometer südöstlich von Moskau.
O-TON 05 RAKOBOLSKAJA:
57''
Pojesd ostanowilsja w Engelse. I pered strojem polka satschitali prikas nomer 1. W
etom prikase bylo napisano: Wsem dewuschkam postritschsja pod maltschika.
Wolosy speredi do poluucha. Potschemu do poluucha? I ja wot do sich por noschu
do poluucha.
Parikmacher goworil: Gospodi! Kak? I wsjo stritsch? My goworili: Stritsch! I wes pol
byl osypan belymi, tschornymi, kaschtanowymi wolosami. I on tak shalel, bral eti
wolosy. Wot tak my podstriglis pod maltschika. I posle etogo, na etoi kartinke, tut
narisowano: W choroschich smelych maltschischek prewratilis studenti s mechmata.
Sprecherin (overvoice):
Das erste, was wir in Engels zu hören bekamen, war: Alle Mädchen sollen einen
Jungenhaarschnitt bekommen! Bis heute trage ich die Haare kurz. Der Friseur fiel
fast in Ohnmacht: Um Gottes Willen. Ich soll ihnen die Zöpfe, die langen Haare
abschneiden? Aber wir entgegneten einstimmig: Abschneiden! Der Friseur fügte sich
in sein Schicksal. Kurze Zeit später war der Fußboden bedeckt mit blonden,
schwarzen und braunen Haaren. Und er jammerte. Hier auf dem Bild sehen Sie, in
was für hübsche mutige Jungs sich die Studentinnen der Lomonossow-Universität
verwandelt haben.
7
ATMO 01: Geräusch der Po-2. Oder:
ATMO 08:
32''
R. zeigt mir das kleine Modell des Flugzeugs. Und beschreibt es.
ERZÄHLERIN:
Irina nimmt ein Flugzeugmodell vom Schreibtisch und gibt es mir. So hat die PO-2
ausgesehen, „unser Flugzeug“. Sagt sie. Ganz klein war es. Mit dieser PO-2 flogen
sie den ganzen Krieg hindurch ihre Angriffe. Auf den Flügeln und auf den Rumpf war
ein roter Sowjetstern aufgemalt.
O-TON 06 RAKOBOLSKAJA:
22''
Dwe kabiny okrytyje. Nikakoi kryschki nad nimi njet. Nikakoi saschity njet. Nikakogo
radio njet. Nikakich paraschjutow njet. On byl derewjanny. On mog sest na opuschke
lesa. W derewne na ulize. Na poljanke gde-nibud. On byl ljogenki.
Sprecherin (overvoice):
Das Flugzeug hatte zwei offene Kabinen. Vorn saß der Pilot, und in der hinteren
Kabine der Navigator. Sie hatten kein Dach überm Kopf. Keinerlei Schutz. Keinen
Funk. Keinen Fallschirm. Wegen des Gewichts. Das Flugzeug war aus Holz. Es
konnte auf einer Waldlichtung landen. Auf einer Dorfstraße. Auf dem Feld. Es war
sehr leicht.
ATMO 09:
26''
Ich frage verwundert: Derewjanny? R.: Derewjanny …
ERZÄHLERIN:
Solche kleinen Doppeldecker aus Holz sollten im Krieg 3000 Tonnen todbringende
Bomben abgeworfen haben?!
8
O-TON 07 RAKOBOLSKAJA:
24''
Kogda natschalas woina, wyjasnilos, schto on otschen udobny. On moshet sletet,
otkuda chosch. Letit medlenno. Skorost byla do sta km w tschas. Jedwa, jedwa. Letit
nisko. Jesli wykljutschit dwigatel, to paraschutirujet, kak paraschut spuskajetsja.
Sprecherin (overvoice):
Es stellte sich heraus, dass dieses Flugzeug im Krieg sehr praktisch war. Es konnte
an jedem Ort starten und landen. Es flog sehr langsam und leise. Die
Höchstgeschwindigkeit war 100 Kilometer pro Stunde. Es konnte niedrig fliegen.
Wenn der Pilot den Motor abstellte, segelte es langsam und unhörbar wie ein
Fallschirm herab bis zum Ziel.
ATMO 10:
31''
Ausschnitt aus dem sowjetischen Film „W nebe notschnyje wedmy“.
ERZÄHLERIN:
Eine Szene aus einem patriotischen Spielfilm über das Fliegerregiment: Wie das
kleine Wunderflugzeug bei den Deutschen Panik auslöst, wie sie rufen: „Die
Nachthexen sind wieder in der Luft!“ und es einfach nicht erwischen können.
O-TON 08 RAKOBOLSKAJA:
27''
Togda oni kolduni. My ich sbiwat ne smoshem. My letim, a my ich ne widim. A my
letali bes etich ognej. W temnote. Malenki samoljotik. Na malenkoi skorosti. Na niskoi
wysote. Letit odin. Jego nikto ne widit. I is notschnyje kolduni my prewratilis w
notschnych wedem.
9
Sprecherin (overvoice):
Sie konnten uns nicht sehen. Wir flogen ja ohne Scheinwerfer im Dunkeln. In einem
winzigen leisen Flugzeug, langsam, in niedriger Höhe. Ein einzelnes kleines
Flugzeug, das niemand sehen kann. Deswegen nannten uns die Deutschen
„Nachthexen“.
ERZÄHLERIN:
17 Brücken, 9 Eisenbahnzüge, 26 Munitions- und Treibstofflager, 176 LKW und 86
Feuerstellungen zerstörten die Pilotinnen. Aber das Flugzeug hatte einen großen
Nachteil, der 14 Fliegerinnen zum Verhängnis wurde:
O-TON 09 RAKOBOLSKAJA:
20''
Spitschku nado bylo podnesti, i on sagoral. Wmeste so wsem ekipashom.
Paraschuta ne bylo. Sprygnut nikto ne mog. Sagoreli wmeste s etim samoljotom. I
my wideli, kak padajet wot takoi ognenny stolb swerchu na semlju.
Sprecherin (overvoice):
Man brauchte nur ein Streichholz dranzuhalten und schon brannte es. Zusammen
mit der Besatzung. Es gab ja keinen Fallschirm. Und so verbrannten Pilot und der
Navigator zusammen mit dem Flugzeug. Und wir mussten zusehen, wie eine
brennende Säule vom Himmel fiel.
ERZÄHLERIN:
Irina erzählt das alles eher lakonisch. Aber ich spüre, dass die Tragödie des Krieges
ihr tief in den Knochen sitzt. Ihr ganzes Leben scheint von diesen vier Jahren
bestimmt zu sein. Im Zimmer erinnert alles an die Kriegszeit. Überall hängen Fotos
von ihren Gefährtinnen.
10
O-TON 10 RAKOBOLSKAJA:
58''
[[ OCIch: Nu wsjo taki. Kak was prinjali mushschiny, kogda oni wideli, schto]]…
Kogda my prischli na front i natschali nam sadat sadanije, my mnogogo ne umeli. My
ne umeli wychodit is projektorow. Nas k etomu ne utschili. Nam prislali mushschin,
schtoby oni nas poutschili. A my ne choteli, schtoby mushschiny nas utschili. Potomu
schto oni smejalis nad nami. Oni goworili … „Babi polk“. A nam she bylo obidno. Wed
mushschiny prischli na front po sakonu. Ich priswali. A my-to prischli sami. My
dobrowolno prischli. A oni nas drjasnjat „babi polk“, „Dunkin polk“ Cha, cha, cha!
Poetomu my s samogo natschala skasali: My budem letat lutsche.
Sprecherin (overvoice):
Als wir an die Front kamen, beherrschten wir vieles noch nicht. Zum Beispiel den
feindlichen Scheinwerfern zu entgehen. Das hatte man uns nicht beigebracht. Da
schickten sie uns Männer, die uns das zeigen sollten. Aber wir weigerten uns strikt,
von Männern etwas anzunehmen. Denn sie machten sich über uns lustig: Wir seien
ein „Weiberregiment“, lachten sie uns aus. Das kränkte uns. Die Männer waren
einberufen worden. Wir aber kämpften freiwillig. Und sie wagten es, uns „WeiberRegiment“ zu nennen. Deshalb schworen wir: Wir werden besser fliegen als sie.
[[ OCERZÄHLERIN:
Nach nächtlichen Einsätzen mit bis zu sieben Flügen waren die Pilotinnen zu Tode
erschöpft.
O-TON 11 RAKOBOLSKAJA:
31''
Pod konez netu sil wyiti is samoljota. I w armii byl takoi sakon: Posle bojewoi raboty
wsem dawali po polstakanu Wodki. Potomu schto ljudi ili ne mogli sasnut, ili droshali
ot stracha, i poetomu polagalos: wojennyje sto gramm. Sto gramm Wodki. Wypil, i
ona tebja tak rasslabljajet i ty moshesch potom uspokoitsja i otdochnut.
11
Sprecherin (overvoice):
Sie hatten nicht einmal die Kraft aus dem Flugzeug zu steigen. Nach einem
Kampfeinsatz bekamen die Soldaten per Dekret ein halbes Glas Wodka. Ohne
diesen Wodka konnten sie nicht einschlafen und zitterten noch nachträglich vor
Angst. Deshalb standen ihnen 100 Gramm zu. Danach beruhigten sie sich und
konnten schlafen.
AKZENT
ERZÄHLERIN:
Bald nannten die Soldaten die jungen Fliegerinnen liebevoll „Schwestern“ oder
„Himmelsgeschöpfe“. In manchen Fällen allerdings übertrieben die jungen Frauen
ihren Stolz. Heute kann Irina darüber lachen, aber vor 70 Jahren war es bitterer
Ernst:
O-TON 12 RAKOBOLSKAJA:
51''
U nas byl odin takoi slutschai. Snajete. My is obscheshitija w stolowuju chodili tolko
strojem. Rjadom beshal Bobik , kotory nas ochranjal ot mushschin. Posawtrakali i
strojem woswraschalis obratno w obscheshitije. I wot odnashdy naschi dwe
dewtschonki s mechmata wstretili swoich studentow w stolowoi, toshe okasalos
mechmatowzy. I oni doschli do doma ne s naschim strojem, a s etimi rebjatami.Oni
prowodili ich k nam w obscheshitije. My sobrali komsomolskoje sobranije, skasali,
schto oni posorjat Moskowski universitet. Dewuschki plakali. I goworili, schto nikogda
w shisni bolsche rasgowariwat s mushschinami ne budut. Wot kakije my byli.
Sprecherin (overvoice):
Zum Essen gingen wir immer nur in Reih und Glied. Und unser Regimentshund
Bobik begleitete uns und bellte alle Männer an. Waren wir mit dem Essen fertig,
gingen wir in Reih und Glied wieder zurück in die Unterkunft.
12
Aber einmal geschah es, dass zwei unserer Mädchen, Studentinnen der Fakultät für
angewandte Mathematik, in der Kantine ihre Kommilitonen trafen, ebenfalls
Mathematiker. Und sie gingen nicht mit uns in Reih und Glied zurück, sondern ließen
sich von den Jungs begleiten. Sofort beriefen wir eine Komsomolversammlung ein
und beschuldigten die beiden, sie würden die Moskauer Universität in Verruf bringen.
Die Mädchen weinten und schworen, dass sie nie wieder im Leben mit Männern
reden würden. So hart waren wir damals. OC]]
ATMO 11:
50''
Irina zeigt mir Fotos.
ERZÄHLERIN:
Ich vertiefe mich in die Fotos, die mir Irina zeigt. Auf einem Bild stehen zwei junge
Frauen lachend vor einem kleinen Flugzeug und halten den Propeller fest. Durch die
Pilotenhauben mit den hochgeschobenen Schutzbrillen wirken sie modern. Das
rechte Mädchen ist besonders hübsch. Ob sie den Krieg wohl überlebt hat?
O-TON 13 RAKOBOLSKAJA:
25''
Wot u nas osoby sowerschenno tschelowek Shenja Rudnewa. Studentka mechmata.
Potom schturman polka naschego: Potom sgorela nad Kertschju. Jejo imja
priswojeno maloi planete, kotoraja letajet nad nami. I sejtschas nad nami chodit
planeta Shenja Rudnewa.
Sprecherin (overvoice):
Shenja Rudnewa war ein ganz besonderer Mensch. Studentin der Fakultät für
angewandte Mathematik an der Lomonossow-Universität. Sie war in unserem
Regiment Chefnavigator. Über der Halbinsel Kertsch in der Nähe der Krim wurde sie
abgeschossen und verbrannte mit ihrem Flugzeug. Nach dem Krieg wurde ein
kleiner Planet nach ihr benannt. Und über uns fliegt nun der Planet Shenja Rudnewa.
13
AKZENT
ATMO 12:
26''
R.: Wird wieder geheizt? Fassen Sie mal die Heizung an. Njet, cholodno. A ja
mjorsnu.
ERZÄHLERIN:
Irina bittet mich, nochmal die Heizkörper anzufassen.
Sprecherin (overvoice/Atmo):
Wird die Heizung endlich warm? Nein? Sie frieren nicht, Sie sind jung. Aber mir ist
kalt.
ATMO 13:
28''
R. schenkt mir zwei Bücher.
Sprecherin (overvoice/Atmo):
Als ob man alles erzählen könnte! Ich möchte Ihnen diese beiden Bücher schenken.
ERZÄHLERIN:
Irina gibt mir zwei Bücher. Und schreibt hinein: Ich schenke Ihnen einen Teil meines
Lebens. Moskau, Oktober 2015. Sie ahnt, dass sie nicht mehr lange lebt. Will sich
von der Seele reden, was sie bedrückt. Und erzählt mir von dem berühmte Befehl
227: Kein Schritt zurück! Kein russischer Soldat darf sich in Gefangenschaft
begeben! Dieser Befehl wurde erlassen, als die Rote Armee sich noch panikartig auf
dem Rückzug befand. Das war im Juli 1942.
14
O-TON 14 RAKOBOLSKAJA:
53''
W etoi obstanowke nakonez nasche prawitelstwo napisala prikas 227.Bylo sosdano
nakasanije sa otstuplenije. Jesli ty beshisch, ty ne imejesch prawo. Ty dolshen
saschischat swoju stranu. I byl takoi shostki prikas, w kotorom wperwyje stali
ostanawliwat soldat ot begstwa takimi merami prinuditelnymi. Posle etogo prikasa
otnoschenije k otstuplenijem, k sdatschi w plen resko ismenilos. Ushe stschitalos,
schto ty dolshen lutsche sastrelitsja, no ne popadat w plen.
Sprecherin (overvoice):
Flucht vor dem Feind wurde hart bestraft. Du hast kein Recht zu fliehen. Du hast die
Pflicht, dein Land zu verteidigen. Das war ein harter Befehl.
Mit solchen Zwangsmaßnahmen gelang es erstmals der Massenflucht Einhalt zu
gebieten. Die Losung war: Erschieß dich lieber, aber lass dich nicht fassen.
ERZÄHLERIN:
Tatsächlich erschossen sich viele sowjetische Soldaten, die in eine ausweglose Lage
geraten waren, beispielsweise im Kessel von Kiew. Aber nicht alle brachten das
fertig.
O-TON 15 RAKOBOLSKAJA:
53''
Kogda my wojewali ushe w wostotschnoi Prussii. Tam w wostotschnoi Prussii byli
konzlagerja. Eto lager, w kotorom sidjat wojennoplennyje. Oni tam wse chudyje,
nedokormljennyje. Togda my podoschli k etim konzlagerjam, naschi woiska, otkryli
tam im worota, naschi plennyje wyschli ottuda. W polosatych takich schtanach,
plakali, ulybalis nam, posylali nam pozelui. Oni doshili do wstretschi s russkimi. Im
podali tepluschki. Posadili w eti pojesda. I otwesli w naschi konzlagerja. I tam oni wse
umerli.
15
Sprecherin (overvoice):
Als wir bereits in Ostpreussen kämpften, trafen wir auf deutsche Konzentrationslager,
in denen sowjetische Kriegsgefangene saßen. Abgemagert, bleich, ohne Essen. Wir
öffneten die Tore und die Gefangenen kamen heraus, alle in gestreiften Hosen. Sie
weinten, lächelten uns zu, sandten uns Luftküsse. Sie hatten es bis zur Befreiung
durch die Rote Armee geschafft! Dann wurden sie in Züge gesetzt und in die Heimat
gebracht. Und dort kamen sie in unser Lager. Und sind alle gestorben.
[[OCERZÄHLERIN:
Zum ersten Mal zittert ihre Stimme. Fühlt sie sich mitschuldig an dieser Tragödie? Ich
frage sie nach der Losung „Sa rodinu“, „Sa Stalina“, „Fürs Vaterland“, „Für Stalin“.
Sie stand auf allen Plakaten, Hauswänden und Lokomotiven. Mit dieser Losung auf
den Lippen gingen Millionen sowjetischer Soldaten in den Tod.
O-TON 16 RAKOBOLSKAJA:
28''
Ob otnoschenii, kogda menja spraschiwajut, wy kak, sa Stalina poschli? Sa rodinu,
sa Stalina, njet, my ponimali ushe zenu wsemu. My wojewali sa nasch narod. Sa
ljudej, kotoryje pogibali w okopach. Sa naschich russkich, kotoryje sideli tam. My sa
swoich ljudej wojewali. Wot eto ja wam chotela skasat.
Sprecherin (overvoice):
Wenn ich gefragt werde: Haben Sie für Stalin gekämpft, antworte ich: Nein, schon
damals begriffen wir, welchen Preis wir bezahlen. Wir haben für unser Volk
gekämpft. Für die Menschen, die in den Schützengräben umkamen. Für unsere
russischen Menschen, die in den Lagern saßen.
ERZÄHLERIN:
Dabei haben Millionen an Stalin geglaubt und für Stalin ihr Leben aufs Spiel gesetzt.
Vielleicht überlagern spätere Erkenntnisse ihre wahren Gefühle von damals? Wer
weiß?OC]]
16
ATMO 01: Rattern der PO-2. Mix mit:
MUSIK 02:
49''
Soldatski walz setzt ein und geht bis O-Ton.
Oder:
ATMO 14:
1'03''
Kremlglocken
ERZÄHLERIN:
Am 4. Mai 1945 flog die kleine PO-2 zum letzten Mal einen Angriff. 60 Kilometer von
Berlin entfernt.
[[OCO-TON 17 RAKOBOLSKAJA:
39''
My dogoworilis, schto kashdogo 2. maja my budem wstretschatsja w 12 tschasow w
sadike okolo Bolschogo teatra. Wot my sobiralis wsju shisn, poka wot sejtschas nas
potschti nikogo ostalos ot polka 3 tscheloweka i naschi deti. I posle etogo stali naschi
deti tam sobiratsja. I toshe wstretschajutsja u Bolschogo teatra. I wspominajut kak ich
otzy i mamy wojewali. Idut w kafe, pjut tschajok.
Sprecherin (overvoice):
Damals haben wir verabredet, dass wir uns nach dem Krieg jedes Jahr am 2. Mai um
12 Uhr im Garten vor dem Bolschoi Theater treffen. Und dieses Versprechen haben
wir eingehalten. Aber jetzt sind nur noch 3 Mädchen aus unserem Regiment übrig.
Und unsere Kinder. Jetzt sind sie es, die sich am 2. Mai um 12 Uhr vor dem Bolschoi
Theater treffen und ihrer Mütter gedenken, die im Krieg waren. Sie gehen ins Café
und trinken Tee.]]
17
MUSIK 02:
ERZÄHLERIN:
Lange Zeit wurden die Probleme verschwiegen, mit denen sich die Rückkehrer nach
den vier Kriegsjahren konfrontiert sahen. Über ihre schweren Traumata wurde nicht
gesprochen. Ihr Heim war vielleicht zerstört, die Familie umgekommen. Viele waren
zu Krüppeln geworden. Zu Alkoholikern. Sie standen draußen vor der Tür.
O-TON 18 RAKOBOLSKAJA:
51''
Ja, kogda kontschilas woina, my dashe wse bojalis etogo. Schto budet s nami? Tam
nas w armii kormili, poili. Sa pogony dengi platili. A tut nitschego etogo ne budet. Kak
my budem shit. To, schto my utschilis, ja wot 3 kursa universiteta kontschila do
woiny, ja wsjo sabyla. Ja dumala, schto ja budu delat-to? A ja to wsju notsch ransche
letala, notschju ne spala.
Dnjom tolko my spali. A nas posadili w auditoriju na tjoply stul, dnjom, teplo, ujutno. I
ja splju, ja ne mogu sidet i sluschat. A tam on chodit okolo doski i tschitajet: bububu,
a ja nitschego ne ponimaju. Ja dumala, nu, ja propala.
Sprecherin (overvoice):
Als der Krieg zu Ende war, hatten wir alle Angst. Was soll nun aus uns werden? In
der Armee hatten wir zu essen bekommen und Geld. Im zivilen Leben würde das
alles wegfallen. Wie sollen wir weiterleben? Alles, was ich vor dem Krieg an der
Universität gelernt hatte, war wie ausgelöscht. Ich saß im Hörsaal und verstand rein
gar nichts. Im Krieg war ich die ganze Nacht geflogen und hatte tagsüber geschlafen.
Aber hier saß ich am Tage im Hörsaal auf einem warmen Stuhl und nickte sofort ein.
Ich hörte nur von Ferne das „bububu“ des Professors und verstand kein Wort. Das ist
mein Ende, dachte ich.
18
ERZÄHLERIN:
„Du weißt nie, was dich hinter der nächsten Ecke erwartet – was Gutes oder was
Schlechtes“. Das ist Irinas Lieblingssprichwort. Sie hatte Glück. Mit der beharrlichen
Hilfe eines Kommilitonen fing sie an die Gesetze der Physik zu begreifen. Sie schrieb
eine Doktorarbeit und habilitierte sogar. Da war sie schon verheiratet und zog zwei
Söhne groß.
O-TON 19 RAKOBOLSKAJA:
52''
Do 86 let ja rabotala, ne ostanawliwajas. Ja tschitala lekzii. Ja byla w nautschnoi
laboratorii. Ja wela faktitscheski kafedru. I moi deti ushe wyrosli. Poshenilis. Rodili
detjej. I ja ostalas w etoi kwartire wdojom s mushem. I posle togo, kogda on umer, ja
upala. Wnutrenneje. Mnje ne dlja tschego bylo shit. Togda Kolja stal mnje goworit: Ty
schto, ty posmotri, kakoje nebo kakoje krasiwoje. Ty schto wydumala, schto Tebe
neinteresno. I stal swojej psichologijej menja kak-to wowlekat w shisn.
Sprecherin (overvoice):
Bis zum 86. Lebensjahr habe ich gearbeitet. Ununterbrochen. Ich habe an der
Universität Vorlesungen gehalten. Im wissenschaftlichen Laboratorium gearbeitet.
Die Sektion geleitet. Meine beiden Kinder wurden erwachsen. Heirateten. Und mein
Mann und ich waren in dieser großen Wohnung hier allein zurückgeblieben. Nach
seinem Tod 2006 bin ich innerlich zusammen gebrochen. Keiner brauchte mich. Da
sagte mein jüngerer Sohn Kolja zu mir: „Guck doch mal aus dem Fenster, wie schön
der Himmel ist. Was hast du nur für dumme Gedanken: willst nicht mehr leben!“ Er
hat mich zurück geholt.
ERZÄHLERIN:
Noch einmal hatte Irina Glück. Sie konnte die große Universitätswohnung behalten.
Hier lebt sie jetzt zusammen mit ihrem Sohn Kolja, der für sie sorgt. Haushälterin
Anetschka kocht, wäscht und macht sauber. Irina geht es besser als vielen anderen
Frauen, die im Krieg waren und nicht so gut versorgt sind.
19
[[OC O-TON 20 RAKOBOLSKAJA:
49''
Nasch rektor, nas takich wot starych, kotoryje w universitete prorabotali bolsche 60
let, on ne uwolnjajet. On nam dajot dolshnost konsultantow. Ja mogu ne chodit na
kafedru. Mnje swonjat po telefonu. Ko mnje prichodit kto-to s kafedry sowetowatsja,
kogo kuda perestawit, kakuju temu dat, w kakuju rabotu wkljutschit. Schto i kak. I ja
utschawstwuju w shisni. A jesli shit i nitschego ne delat, to shit nelsja. Moi losung
wsegda byl perwy: Poka shiwu – rabotaju. Poka rabotaju – shiwu.
Sprecherin (overvoice):
Unser Rektor hat solche alten Leute wie mich, die 60 Jahre an der Universität
gearbeitet haben, nicht entlassen. Wir haben die Stelle eines Konsultanten
bekommen. Ich muss nicht unbedingt ins Institut gehen. Ich werde angerufen. Oder
es kommt jemand, um sich mit mir zu beraten. Und so nehme ich noch am Leben
teil. Ich kann nicht existieren, ohne etwas zu tun. Meine Hauptlosung war immer:
Solange ich lebe, arbeite ich. Solange ich arbeite, lebe ich.]]
ERZÄHLERIN:
In ihrem hohen Alter und trotz ihrer körperlichen Gebrechen interessiert sich Irina
noch für Politik. Sie ist stolze Patriotin und überzeugt, dass Russland die Sanktionen
überleben wird.
O-TON 21 RAKOBOLSKAJA:
48''
I my s etimi sankziajmi sprawilis. My wnutri sebja obespetschili swoju shisn. [[No eto
nawernoje w osnownom blagodarja Putinu.]] Wse produkty pitanija my delajem sami.
Lekarstwa my jescho ne wsjo delajem sami. No polowinu my ushe delajem sami. My
sami delajem wsju techniku. I awtomobili i dwigateli i samoljoty. I rakety my sami wsjo
delajem. Starajemsja wyshiwat i wyshiwajem so sobstwennoi siloi. Ne sa tschushoi
stschot, a sa swoi sily.
20
Sprecherin (overvoice):
Wir schaffen das. Wir kaufen keine Lebensmittel mehr im Ausland ein, wir stellen
unsere eigenen her und müssen lernen, wie man das macht. Bei den Medikamenten
gibt es noch Lücken. Aber die Hälfte stellen wir schon selbst her. Autos, Motoren,
Flugzeuge – machen wir alles selbst. Und Raketen. Wir überleben aus eigener Kraft.
Nicht auf fremde Kosten.
ERZÄHLERIN:
Ich wage nicht, der 96jährigen zu widersprechen. Obwohl ich weiß, dass es um die
russische Wirtschaft lange nicht so rosig bestellt ist, wie Irina glaubt. Sie, die
Patriotin, möchte nicht, dass Russland schlecht dasteht, wünscht sich sehnlich, dass
endlich bessere Zeiten für alle kommen.
O-TON 22 RAKOBOLSKAJA:
1'14''
[[Ich: Skaschite poschaluista, wy ne boites nowoi woiny?]] Sostojanije, schto moshet
byt wdrug woina, inogda u menja wosnikajet. My pereshili eti woiny. My snajem, kak
oni natschinajutsja i k tschemu oni priwodjat. I ljudi snajut. I nikto ne chotschet
nastojaschej woiny. Potomu schto ty natschnjosch, a potom eto i na tebja
otsowjotsja. Grustno, schto ljudi ne mogut shit mirno. Ja ljublju ljudej dobrych,
umnych, obrasowannych, rabotajuschich. Takich she mnogo ljudej choroschich. Mnje
kashetsja, slo, eto ne w tscheloweke salosheno, a w politike obschej salosheno.
Inogda wdrug sowsem slabeju i dumaju, ushe pora mnje pomirat. Potom kak-to
wstaju i dumaju, njet, jescho nemnoshetschko poshiwu. I poproschu u boga, schtoby
poslal mnje smert ljogkuju. I schtoby prostil mnje moi grechi. Bolsche nitschego ne
proschu. Nu wot.
Sprecherin (overvoice):
Manchmal habe ich Angst vor einem neuen Krieg. Wir haben diese Kriege erlebt. Wir
wissen, wie sie anfangen und wohin sie führen. Niemand will Krieg. Auf die, die ihn
beginnen, schlägt er zurück.
21
Traurig, dass die Menschen nicht friedlich zusammen leben können. Ich liebe gute
Menschen, kluge, gebildete, arbeitsame. Davon gibt es viele auf der Welt.
Das Böse kommt nicht vom Menschen, sondern von der Politik.
Manchmal bin ich schon ganz schwach und denke, es ist Zeit zum Sterben. Doch ich
rapple mich immer wieder auf: Nein, sage ich mir, ein bisschen will ich noch leben.
Und bitte Gott, dass er mir einen leichten Tod schickt und mir meine Sünden
verzeiht. Um mehr bitte ich nicht.
[[OCATMO 15:
53''
R. nimmt ihren Stock und schlurft langsam in die Küche. In der Küche.
ERZÄHLERIN:
Nach dem Brauch russischer Gastlichkeit lädt mich Irina in die Küche zum Tee ein.
Sie steht schwerfällig auf und nimmt ihren Stock in die Hand. Ich schaue ihr nach,
wie sie sich müht, aufrecht zu gehen. Diese Hilflosigkeit rührt mich. Ihr ganzes Leben
hat sie einem Land geopfert, das es seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht
mehr gibt.
ATMO 16:
41''
Am Küchentisch. Sie schenkt Tee ein und ruft nach Anetschka, der
Haushaltshilfe.
ERZÄHLERIN:
Nun sitzen wir am Küchentisch. Anetschka, die Haushaltshilfe, hat für uns eine Torte
gekauft. Ich möchte Irina beim Schneiden helfen. Aber das lässt sie nicht zu.]]
MUSIK 02:
verbinden mit voriger Atmo. Lied geht bis Geschichte und Absage.
22
ERZÄHLERIN:
Zum Abschied erzählt Irina mir noch eine Geschichte.
O-TON 23 RAKOBOLSKAJA:
41''
U nas bywalo tak, schto nasch samoljot sbili i on upal rjadom s nemezkim selom. I
shenschiny nemezkije wyschli is sela, wytaschili is oskolkow samoljota naschich
russkich ljotschiz, spasli im shisn. A my ich kormili, kogda oni byli golodnyje. Oni
podchodili k naschim kostram, na kotorych my gotowili sebje jedu. I moltscha stojali. I
my nakladywali im na bumashnyje tarelotschki, kakuju-to pischu dawali. Eto
woobsche udiwitelno.
Sprecherin (overvoice):
In Ostpreußen geschah es, dass eines unserer Flugzeuge über einem deutschen
Dorf abgeschossen wurde. Und es kamen deutsche Frauen und zogen unsere
russischen Mädchen aus den Trümmern und retteten ihnen das Leben. Und wir
haben ihnen was zu essen gegeben, als sie hungrig waren. Sie traten an unser
Lagerfeuer, auf dem wir uns was kochten, und standen schweigend da. Wir legten
ihnen auf einen Pappteller genauso viel Essen, wie wir selbst hatten.
23