Schriftspracherwerb Graphematik und Orhographie Ruth Hoffmann-Erz Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 1 Das deutsche Alphabet Grafik Topsch S. 20: Die Buchstaben J, V, W, Y und Z wurden erst ab dem 17. Jahrhundert in das Alphabet integriert. Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 2 Schriftzuordnung Grafik Topsch S. 20: Mittelalterlicher Text, indem u wie u aber auch wie v ausgesprochen wurde. Souil = So viel Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 3 Beispiele für Abweichungen in der Laut-Zeichen Zuordnung Elefant E Ente Claus /k/ Katze Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 4 Entwicklung der Orthographie Mit der Ausbreitung der geschriebenen Sprache durch den Buchdruck (um 1450) setzte eine Konstantschreibung gleicher Wörter ein, die für das leise Lesen eine Vereinfachung darstellte. Vom 16. Jahrdundert an entwickelte sich die Großschreibung bestimmter Wörter. Allerdings gab es bis ins 18. Jahrhundert keine allgemein verbindliche Rechtschreibung. 1876 tagte in Berlin die I. Orthographische Konferenz zur Herstellung größerer Einigung in der Deutschen Rechtschreibung. 1901 wurde auf der II. Orthographischen Konferenz die deutsche Schriftsprache erstmals einheitlich geregelt. Die neue Rechtschreibung wurde nach Duden 1903 per Erlass in den Behörden verbindlich eingeführt. 1996 gab es die deutsche Rechtschreibreform, die 2006 in kleinen Varianten modifiziert wurde. Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 5 Phonem-Graphem-Korrespondenz Ein Phonem entspricht im Deutschen in der Regel einem Graphem, d.h. einem Buchstaben bzw. einer Buchstabenkombination. Dies wird als Phonem-Graphem-Korrespondenz (PGK) bezeichnet. Dabei kann ein Phonem durch verschiedene Grapheme verschriftet werden. Beispiel: /a:/ <a> <ah> <aa> Sprachstatische Untersuchungen zeigen, dass die Grapheme mit unterschiedlicher Häufigkeit für ein Phonem stehen. Die jeweils häufigsten Grapheme werden Basisgrapheme genannt. Alle statistisch selteneren Grapheme, die sich auf das dasselbe Phonem beziehen, nennnt man Orthographeme. Beispiel: /a:/ Basisgraphem: <a> Tal (88%) Orthographem: <ah> Wahn <aa> Saal Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 6 Orthographische Prinzipien Das phonologische Prinzip wird durch die Regeln der Phonem-GraphemKorrespondenz bestimmt. Das Deutsche wird überwiegend lautgetreu verschriftet. Die statistischen Angaben für den Anteil der Basisgrapheme für die Verschriftung der Laute schwanken zwischen 73% (nach Naumann 1989) und fast 90% (nach Thomé 2000). schreip wie du schprichst Schreibanfänger verschriften Wörter allerdings oft nicht lautgetreu im Sinne der Basisgrapheme, sondern orientieren sich an der Sprechsprache (phonetisch): WÖFEL für Würfel. OAN für Ohren. Lautgetreu zu schreiben ist eine allmähliche Annäherung an den Lauten der Schriftsprache (phonologisch): FARAT für Fahrrad. Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 7 Das morphematische Prinzip besteht darin, dass herkunftsverwandte Wörter gleich geschrieben werden. Beispiel Auslautverhärtung: Hunt - Hund Ableitungen von a und au: Hände - Mäuse Erhalt der Orthographeme: fahren - Fahrrad Neben den sogenannten Stamm-Morphemen gibt es eine Reihe von grammatischen Morphemen, die mit typischen Rechtschreibregelungen verbunden sind: Flexionsendungen: schreib- en, schreib- st, Kind- er, Hefte- e Suffixe: fleiß- ig, Tätig- keit, Gärtner- in Präfixe: Er- folg, ver- kaufen, Ge- schäft Zusammensetzungen: Hand-tuch Die Orientierung an der Morphemstruktur der Wörter führt zu einer anderen Segmentierung als das silbische Prinzip. Morphemgrenzen: Ver- käuf -er -inSilbengrenzen: Ver- - käu - -fer -(r)in- Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 8 Das grammatische Prinzip regelt den Bereich der Groß- und Klein-schreibung. Sie stellt die häufigste Fehlerursache dar und ist deshalb auch immer wieer Diskussiongegenstand bei Reformansätzen. Nur das Deutsche sieht die Großschreibung einer Wortart vor. Im Anfangsunterricht werden die Gruß- und Kleinbuchstaben in der Regel parallel eingeführt, obwohl die spontane Kinderschrift eine Blockschrift ist. Ein alternativer Ansatz wäre eine Anlauttabelle, die zunächst nur Großbuchstaben zeigt. Das semantische Prinzip oder das Prinzip der Homonymieunterscheidung besteht darun, dass gleichlautende Wörter mit unterschiedlicher Bedeutung, sogenannte homophone Wörter, unterschiedlich geschrieben werden. Beispiele: Lerche - Lärche, Lied - Lid, Wahl - Wal. Demgegenüber gibt es aber auch Wörter, die diesem Prihzip nicht folgen. Beispiele: Kiefer (Baum - Knochen), Ton (Erde oder Klangereignis), Hahn (Tier oder Wasserventil). Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 9 Das historische Prinzip besagt, dass zahlreiche Schreibungen dem Stand eines früheren Aussprachemodus entsprechen. Wenn also die schriftliche Form von dem phonologischen und dem morphematischen Prinzip abweicht, kann man oft von einer historischen bedingten Schreibung sprechen. Beispielsweise wird für das und die Erklärung herangezogen, es leite sich von dem mittelhochdeutschen unde ab. Das ästhetische Prinzip geht davon aus, dass bestimmte Schreibungen subjektiv nach graphischformalen Gesichtspunkten übernommen wurden. Beispielsweise die Schreibung von Sp und St statt Schp und Scht oder die Verdreifachung von Buchstaben durch Zusammensetzungen, Seeelefant, die nach der Rechtschreibreform verpfichtend wurden. Dennoch gibt es auch hier keine einheitlichen Regeln (Schw-, Schm-, Mittag...). Das etymologische (herkunftsbedingte) Prinzip übernimmt bei Fremdwörtern die ursprüngliche Schreibweise. Beispiele: Physik, Clown, fertig (von: zur Fahrt bereit, reisebereit) Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 10 Regelhaftigkeit der deutschen Rechtschreibung Grafik Risel S. 6 • Grundregel (echte Regeln), die immer gelten: Ableitungen von geographischen Eigennamen schreibt man klein die schweizerischen Berge • (echte) Unterregel: Ableitungen mit der Endung -er schreibt man groß die Schweizer Berge • unechte Regel (Kann-Regel): Dehnungs-h vor l, m, n, r tun Tor schön Tal kam Strom... als Einzelfallfestlegungen (Ausnahmen) Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 11 Ausgewählte sprachstatistische und lautliche Besonderheiten E ist der häufigste Buchstabe, wobei er ca. fünf verschiedene Laute ausdrückt. Der Schwa Laut /ə/ ist dabei einer der häufigsten Laute. Beispielwort: Hase /hasə/ Die Buchstaben <-er> am Ende eines Wortes ergeben den Laut [ɐ] /Ər/. Typische Anfängerschreibung ist das a: OBA Beispielwort: Ober /'o:bər/ / 'o:bɐ/ Igel-Syndrom. Statistische Werte nach Thomé 2003 für das /i:/ <ie> 83% Bsp.: Ziel <i> 3% Bsp.: Kamin <ih> 14 % Bsp.: ihnen <ieh> unter 1% Bsp.: ziehen (alle Werte vgl. Riesel 2008) Auf diesem Hintergrund ist die Repräsentanz des langen i durch den Igel, wie sie sich auf allen Anlauttabellen darstellt, für die Schüler irreführend. Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 12 Bezüglich des /h/ besteht Uneinigkeit über die Funktion als silbentrennendes <h>. Lautlich ist kein h vorhanden. Beispiele: se-hen, sehen /'ze:ən/ seh-nen / 'ze:nən/ - fah-ren /'fa:rən/ Eine Markierung als Vokallängenmarkierung ist allgemein anerkannter, obwohl nichts "gedehnt" wird (Dehnungs-h). Beispiele: Uhr /u:ɐ/ Die statistische Häufigkeiteverteilung für die Längenmarkierung schwankt zwischen 3% und 34 %. 10% liegen bei ah, eh, öh und 19% bei üh. In über 80% der Fälle wird der lange Vokal mit dem Baisgraphem verschriftet! Von der Dopplung der Vokalbuchstaben sind nur aa, ee und oo betroffen, wobei die Entsprechung unter 1% liegt. Dies indiziert Einzelfallregelungen bzw. das Auswendiglernen der betroffenen Wörter. Die Häufigkeitsverhältnisse für das /Ɔʏ/ sind 85% vom Typ Keule und nur 15% vom Typ räumen. Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 13 Die Verschriftung der Konsonanten durch die Basisgrapheme liegt je nach Phonem zwischen 60% und 90% , wobei der überwiegende Teil über 80% liegt. Beispiel: Tulpe Eine Konsonantenverdopplung kommt also überwiegend nur in 10 bis 20% der Fälle vor. Beispiel: Wasser. Der relative Fehleranteil für die Konsonantverdopplung liegt bei ungefähr 7%. Beispiel: Waser statt Wasser. (Vgl. Thomé; Gomolka 2007). Eine weitere Abweichung von den Basisgraphemen begründet sich durch die Auslautverhärtung bei /p/ /t/ /k/ und kommt dort häufiger vor, als die Verdopplung. Beispiel: Wald. Für /ks/ wird zu 63% <chs> und zu 37% <x> geschrieben. Beispiele: Fuchs, Luchs - Hexe. Bei /ts/ wird zu 84% <z> und zu 14% <tz> geschrieben. Beispiele: Tanz /tants/ - Katze. /'katsə/. Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 14 Für /f/ ist <f> die überwiegende Verschriftungsform. Allerdings findet sich <v> in hochfrequenten Wörtern und Morphemen wie ver- von, Vogel... Diese einbezogen zeigen sich Verhältnisse von ca. 60%. Ausgenommen dieser Wörter zeigt sich ein Verhältnis von 36%. <v> ist gleichzeitig in Fremd- und Lehnwörtern mit 2% Verschriftungsvariante von /v/. Beispiel: Vase. /r/ scheint mit einer Häufigkeit von 99% für <r> unproblematisch. Allerdings stellt es durch seine Vokalisierung <-er> und seine Nähe zum /x/ für Schreibanfänger erhebliche Anforderungen. Beispiel: Dach. Das Phonem /ʃ/ wird im Morphemanlaut vor /p/ und /t/ mit dem Orthographem <s> verschriftet. Beispiel: Stern. Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 15 Didaktische Grundsätze Die Lerninhalte müssen sich an der Vorkommenshäufig orientieren. Beispiel: ie als Basisgrapheme. Die graphische Darstellung kann teilweise nicht sprachlich realisiert werden. Keine unnatürliche Aussprache gebrauchen! Abweichungen zwischen Lautung und Schrift müssen unterrichtlicher Gegenstand sein. Typische fehlerhafte Anweisungen: Hörst Du das R in Koffer? Spricht genau! Hör genau! Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 16 Quellen: Hartmann, R.; Thomé, G. (2009): Richtig schreiben lernen mit dem Aufbaukonzept. Braunschweig: Westermann. Mann, Ch. (2010): Strategiebasiertes Rechtschreibenlernen. Weinheim und Basel: Beltz. Risel, H. (2008): Arbeitsbuch Rechtschreibdidaktik. Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren. Scheerer-Neumann, G. (1996): Hörst du das [r] in Koffer? In: Grundschulunterricht 43 (1996) 5. D. 2-5. Schründer-Lenzen, A. (2009): Schriftspracherwerb und Unterricht. Wiesbaden: VS Thomé, G.; Gomolka, J. (2007): Rechtschreiben: Messkonzept der Rechtschreibuntersuchung. In: Beck, B.; Klieme, E. (Hrsg.): Sprachliche Kompetenzen. Konzepte und Messung: DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International). Bd. 1. Weinheim, Basel: Beltz, S. 140-146. Thomé, G. (2000): Linguistische und psycholinguistische Grundlagen der Orthographie: Die Schrift und das Schreibenlernen. In: Valtin, R.(Hrsg.): Rechtschreiben lernen in den Klassen 1-6. Grundlagen und didaktische Hilfen. Frankfurt a. M., S. 12-16. Topsch, W. (2005): Gundkompetenz Schriftspracherwerb. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. S. 14-41 Schriftspracherwerb - Graphematik und Orthographie 17
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