Verwaltungsrecht I (15) POR

Verwaltungsrecht I
Wintersemester 2015/16
15. Vorlesung
Polizei- und Ordnungsrecht (3)
Priv.-Doz. Dr. Ulrich Jan Schröder
Dezember 10, 2015
Polizei- und Ordnungsrecht (3)
Programm für heute
● Schutzgüter des Polizei- und Ordnungsrechts
● Die Generalklausel des § 11 HSOG
● Gefahrenbegriffe
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Polizei- und Ordnungsrecht (3)
Fall: Der G betreibt eine Diskothek mit verschiedenen
Spielmöglichkeiten. Er bietet seit neuestem auch ein Laserspiel an, bei
dem mit Laserpistolen Tötungshandlungen simuliert werden. Das Spiel
findet in einem eigenen Raum statt, zu dem Minderjährigen der Zutritt
verboten ist. Das zuständige Ordnungsamt hat grundsätzliche
Bedenken gegen solche „Tötungsspiele“ und untersagt dem G deren
weitere Veranstaltung.
Zu Recht?
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Schema der Prüfung der Rechtmäßigkeit
I. 
Ermäch)gungsgrundlage für das Verhalten 1. Erforderlich (Gesetzesvorbehalt?) 2. welche EGLen kommen in Betracht? Entscheidung für die nächstliegende II. Formelle Rechtmäßigkeit des Verhaltens 1. Zuständigkeit für das Verhalten 2. VerfahrensvorschriDen eingehalten? 3. FormvorschriDen eingehalten? III.  Materielle Rechtmäßigkeit des Verhaltens 1. Liegt der Tatbestand der ErmächFgungsgrundlage vor? 2. Wurde eine rich7ge Rechtsfolge gewählt? Für unseren Fall: KonzentraFon auf I. und III. Dezember 10, 2015
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I. 
Ermäch)gungsgrundlage für die polizeiliche Verfügung à  erforderlich, wenn Grundrechtseingriff ▪ zumindest Eingriff in Art. 2 I GG à Welche Norm ist ErmächFgungsgrundlage? Dezember 10, 2015
▪ § 33 i II Nr. 3 GewO (Spielhallen und ähnliche Unternehmen), § 15 II 1 GewO (Untersagung) (+/-­‐) ▪ Seit 2006 ist Recht der Spielhallen Sache der Länder (vgl. Art. 74 I Nr. 11 GG, vgl. aber auch Art. 125a I 1 GG) ▪ In Hessen Erlaubnispflicht nach § 9 SpielhG ▪ Befugnisse in § 10 SpielhG: „Die zuständige Behörde ist befugt, gegenüber der Erlaubnisinhaberin oder dem Erlaubnisinhaber alle Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um den ordnungsgemäßen Betrieb der Spielhalle zu sichern.“ ABER: Anwendung nur auf Glücksspiele in Hallen (vgl. § 1 SpielhG, a.A. vertretbar: auf Hallen mit Glücksspielen) ▪ wenn GewO anwendbar ist (mangels Landeskompetenz oder wg. Art. 125 a I GG): ▪ Rückgriff auf § 11 HSOG gesperrt durch § 1 I GewO? „Der Betrieb eines Gewerbes ist jedermann gestafet, soweit nicht durch dieses Gesetz Ausnahmen oder Beschränkungen vorgeschrieben oder zugelassen sind.“ Auslegung: § 1 I GewO sperrt nicht Landesrecht über das Wie der Berufsausübung 5
Polizei- und Ordnungsrecht (3)
I.  Ermächtigungsgrundlage für die polizeiliche Verfügung
à  erforderlich, wenn Grundrechtseingriff
▪ zumindest Eingriff in Art. 2 I GG
à  Welche Norm ist Ermächtigungsgrundlage?
▪ Rückgriff auf § 11 HSOG? ◦ verfassungsrechtlich unzulässig?
>Vorbehalt eines Gesetzes (Art. 12 I 2 GG), das genauere Regelung
enthält? à vorerst nicht, neuere Entwicklungen Dezember 10, 2015
> Bestimmtheitsgebot (Art. 20 III GG), da nur „Generalklausel“ à
Rechtsprechung hilft bei Konkretisierung
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III. Materielle Rechtmäßigkeit der polizeilichen Verfügung
= Rich)ge Anwendung der EGL ▪ § 11 HSOG: „Die Gefahrenabwehr-­‐ und die Polizeibehörden können die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren, soweit nicht die folgenden VorschriDen die Befugnisse der Gefahrenabwehr-­‐ und der Polizeibehörden besonders regeln.“ 1.  Tatbestand gegeben? 2.  Rechtsfolge richFg? Dezember 10, 2015
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1.  Tatbestand des § 11 HSOG gegeben? „Die Gefahrenabwehr-­‐ und die Polizeibehörden können die erforderlichen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren, soweit nicht die folgenden VorschriDen die Befugnisse der Gefahrenabwehr-­‐ und der Polizeibehörden besonders regeln.“ Öffentliche Sicherheit? ▪ Rechtsordnung > Menschenwürde (Art. 1 I GG) ◦ hier Verpflichtung eines Privaten auf die Menschenwürde ◦ Art. 1 I GG nimmt den Staat in die Pflicht ◦ unmifelbare Drifwirkung (str.) Privatrechts) Dezember 10, 2015
◦ mifelbare Drifwirkung (iVm Generalklauseln des ◦ Element der objekFven Wertordnung (eher öff. Ordnung)
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Tatbestand des § 11 HSOG öffentliche Ordnung = Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Einhaltung nach der sozialen und ethischen Auffassung der Mehrheit als unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes menschliches Zusammenleben innerhalb eines bes)mmten Gebietes angesehen wird à Unvereinbarkeit mit herrschender Auffassung über die Würde des Menschen? à  Welches Menschenbild? à  Freiwillige Teilnahme am Spiel Aber BVerwG: „nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern auch die Würde des Menschen als GaEungswesen“ ist geschützt à  uU negaFve Vorbildwirkung à aber Zutrifsverbot à  uU Einfluss auf herrschende Auffassung: „Ein gewerbliches Unterhaltungsspiel, das auf die IdenFfikaFon der Spielteilnehmer mit der Gewaltausübung gegen Menschen angelegt ist und ihnen die lustvolle Teilnahme an derarFgen – wenn auch nur fikFven Handlungen – ermöglichen soll […], ist wegen der ihm innewohnenden Tendenz zur Bejahung oder zumindest Bagatellisierung der Gewalt und wegen der möglichen Auswirkungen einer solchen Tendenz auf die allgemeinen Wertvorstellungen und das Verhalten in der GesellschaD mit der verfassungsrechtlichen GaranFe der Menschenwürde unvereinbar.“ BVerwG -­‐ Laserspiel Dezember 10, 2015
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Tatbestand des § 11 HSOG öffentliche Ordnung = Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln, deren Einhaltung nach der sozialen und ethischen Auffassung der Mehrheit als unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes menschliches Zusammenleben innerhalb eines bes)mmten Gebietes angesehen wird KriFk am BVerwG à Vermischung von Rechtsnormen und Moral/Sozialnormen à  SelbstbesFmmtes Handeln grds. kein Verstoß gegen Menschenwürde à  Spielhandlungen werden nicht „öffentlich“ und verletzen daher nicht die öffentliche Ordnung à  Ist wirklich unerlässliche Voraussetzung für ein geordnetes menschliches Zusammenleben betroffen? à  Wandel gesellschaDlicher Wertvorstellungen ist gerade Schutzgut … Im Ergebnis Es fehlt an der Gefährdung gerade eines Schutzgutes der Generalklausel. Dezember 10, 2015
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Die öffentliche Sicherheit und Ordnung im Versammlungsrecht
Fall: Der bekennende Nudist N meldet beim zuständigen Amt ein
gemeinsames „Nacktradeln“ mit zwölf Gleichgesinnten an. Sie wollen
damit „für Nacktheit als zweckdienliche und gesellschaftsfähige
Kleidung und gegen das Verstecken von Körpern in blickdichten und
gebührenpflichtigen Ghettos“ demonstrieren. Das Amt verbietet die
Aktion von vornherein.
Zu Recht?
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I.  Ermäch)gungsgrundlage à erforderlich? ▪ Gesetzesvorbehalt in Art. 8 II GG oder zumindest Art. 2 I GG à In Betracht kommende Ermäch)gungsgrundlagen ▪ § 11 HSOG ? à Bei Versammlung iSv Art. 8 GG und Eröffnung des Anwendungsbereichs des Versammlungsgesetzes (vgl. § 1 VersG) dürfen Maßnahmen gegen die Versammlung grds. nicht auf das allgemeine Gefahrenabwehrrecht (HSOG) gestützt werden (sogen. PolizeifesFgkeit von Versammlungen) à Ausnahme: VersG ist nicht abschließend bzw. unvollständig (zB ist Generalklausel auf nichtöffentliche Versammlungen anwendbar, weil das VersG gem. § 1 nur für öffentl. Versammlungen gilt, allerdings dürDen Wertungen des VersG zu übertragen sein, weil der Grund für die Nichtregelung im VersG das geringere GefahrenpotenFal und, v.a., das Fehlen eines ausdrücklichen Gesetzesvorbehalts ist [vgl. Art. 8 GG]) Dezember 10, 2015
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I.  Ermäch)gungsgrundlage à In Betracht kommende Ermäch)gungsgrundlagen ▪ § 11 HSOG hier (-­‐) ▪ § 15 I VersG „Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von besFmmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmifelbar gefährdet ist.“ ▪ § 15 III VersG „Sie kann eine Versammlung oder einen Aufzug auflösen, wenn sie nicht angemeldet sind, wenn von den Angaben der Anmeldung abgewichen oder den Auflagen zuwidergehandelt wird oder wenn die Voraussetzungen zu einem Verbot nach Absatz 1 oder 2 gegeben sind.“ à § 15 VersG betrit öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel (§§ 5-­‐13: öffentl. Versammlungen in geschlossenen Räumen) à  § 15 I VersG erfasst Verbot vor Beginn der Versammlung, sonst Auflösung nach Absatz 3 Dezember 10, 2015
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II. Formelle Rechtmäßigkeit … III. Materielle Rechtmäßigkeit ▪ § 15 I VersG „Die zuständige Behörde kann die Versammlung oder den Aufzug verbieten oder von besFmmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmifelbar gefährdet ist.“ 1.  Liegt der Tatbestand vor? 2.  Wurde die/eine richFge Rechtsfolge gewählt? Dezember 10, 2015
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III. Materielle Rechtmäßigkeit ▪ § 15 I VersG 1.  Liegt der Tatbestand vor? Öffentliche Sicherheit à Schutz der Rechtsordnung § 118 I OWiG: „Ordnungswidrig handelt, wer eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu beläsFgen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchFgen.“ ◦ Missachtung der durch die GemeinschaDsordnung geschützten Interessen ◦ ein solches schutzwürdiges Interesse ist das Schamgefühl ◦ unfreiwillige KonfrontaFon an unerwarteten Orten ◦ Verfassungsmäßigkeit des § 118 I OWiG? ◦ im Ergebnis noch weiter als die „öffentliche Ordnung“ Dezember 10, 2015
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III. Materielle Rechtmäßigkeit ▪ § 15 I VersG 2. Wurde die/eine richFge Rechtsfolge gewählt? Staf eines Verbots eine Auflage (auch aufgrund von § 15 I VersG)? à Etwa, bekleidet Rad zu fahren? à das wäre ein aliud im Verhältnis zu der beantragten AkFon, damit auch keine Auflage mehr, sondern ein Verbot der beantragten Versammlung Ergebnis Das Verbot ist rechtmäßig. Dezember 10, 2015
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Öffentliche Ordnung im Versammlungsrecht
à grundsätzlich ist das Verbot einer Versammlung wegen
Verstößen gegen die öffentliche Ordnung unzulässig, statt
dessen dürfen Auflagen erteilt werden (BVerfG,
NVwZ 2004,
90 [91])
à diese dürfen nicht den Inhalt der geäußerten Meinungen
betreffen, sondern die Art und Weise der Durchführung der
Versammlung
à Grund ist die Bedeutung von Art. 8 GG und von Art 5 I 1, II
GG
à (Rechtsradikale) Versammlungen an bestimmten Tagen …
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Öffentliche Ordnung im Versammlungsrecht à (Rechtsradikale) Versammlungen an besFmmten Tagen … ▪ Ostermontag > Schutz bereits im Hessischen Feiertagsgesetz, der V e r s a m m l u n g e n n u r w ä h r e n d d e r G o f e s d i e n s t z e i t e n ausschließt (§ 7 I Nr. 4) à abschließend? > jedenfalls reicht rechtsradikaler Charakter der Versammlung nicht aus, diese nach § 15 I VersG unter Bezug auf öff. Ordnung zu verbieten ▪ 27. Januar > auch dann reichen naFonalsozialisFsche Inhalte der Versammlung als solche für Verbot nicht aus, vielmehr muss die Art und Weise der Durchführung das sifliche Empfinden der Bürger erheblich beeinträchFgen Dezember 10, 2015
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Literaturhinweise
a) BVerwGE 115, 189 = NVwZ 2002, 599 = JuS 2002, 1030 (Verbot eines Laserspiels) b) VG Karlsruhe, NJW 2005, 3658 („Nacktradel-­‐AkFon“) c) zur öffentlichen Ordnung nochmals Gusy und Schoch wie bei Vorlesung POR (2) d) BVerfG, NVwZ 2012, 749; NJW 2001, 2072; NJW 2001, 2076 (Versammlungsrecht und öffentliche Ordnung) – vgl. auch BaMs/Grigoleit, NJW 2001, 2051; dies., NJW 2004, 3459 e) Zum Verhältnis von POR und Versammlungsrecht: Schoch, in: der. (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, S. 173 f.; 281-­‐283 Dezember 10, 2015
Meßmann, JuS 2007, 524 19