Polizei- und Ordnungsrecht (Fragen und Antworten – Teil 5)

Prof. Dr. Hubertus Gersdorf
Polizei- und Ordnungsrecht (Fragen und Antworten – Teil 5)
Fragen:
A) Gefahrentatbestand
1. Der Polizist P hört während seiner Streife aus einer Wohnung Schüsse und Schreie. Im Gegensatz zur Vorstellung des P sind die Geräusche auf den Fernseher der schwerhörigen Rentnerin R zurückzuführen. Welche Gefahrenkonstellation könnte gegeben sein? Wäre ein Einschreiten des P rechtmäßig?
2. Es wird an den vorhergehenden Fall angeknüpft. Der P hört zusätzlich zu den Schüssen und
Schreien lautes Pferdegetrappel. Welche Gefahrenkonstellation könnte hier gegeben sein? Wäre
ein Einschreiten des Polizisten in diesem Fall rechtmäßig?
3. Es bestehen Gerüchte, dass das Grundstück des E durch Altlasten kontaminiert ist. Im Falle
des Vorliegens einer Kontamination ist eine Beeinträchtigung des Grundwassers nicht auszuschließen. Tatsächlich befindet sich das Grundstück des E in einem ökologisch unbedenklichen
Zustand. Welche Gefahrenkonstellation liegt vor? Darf die zuständige Ordnungsbehörde einschreiten? Welchen Umfang dürfen die Maßnahmen im Falle eines Einschreitens haben?
B) Ordnungs- und Polizeipflichtigkeit
1. Hinsichtlich bestimmter Gefahrentatbestände bestehen spezialgesetzliche Regelungen (z.B. im
Versammlungsgesetz, in der Gewerbeordnung oder im Gaststättengesetz). Stellen diese Regelungen in Bezug auf die Bestimmung der Ordnungs- und Polizeipflichtigkeit ein den Rückgriff
auf das SOG ausschließendes Sonderrecht dar?
2. Welche Verantwortlichkeiten für Gefahrentatbestände werden nach dem Polizei- und Ordnungsrecht unterschieden?
3. In der Gemeinde G sind die Eigentümer der Anliegergrundstücke durch kommunale Satzung
verpflichtet, im Winter die Gehwege zu streuen. Der Eigentümer E hat mit dem Mieter seines
Hauses im Rahmen des Mietvertrages vereinbart, dass dieser den Gehweg für ihn streut. Wer ist
gefahrenabwehrrechtlich gegenüber der Ordnungsbehörde verantwortlich, wenn nicht gestreut
wird.
4. Der E ist Eigentümer eines auf einer umzäunten Baustelle befindlichen Dieselölfasses. In der
Nacht wird das Ölfass durch zwei maskierte Täter umgekippt. Die Täter sind nachträglich nicht
ermittelbar. Ist der E für die durch das auslaufende Öl entstehende Gefahrenlage verantwortlich?
2
Polizei- und Ordnungsrecht (Fragen und Antworten – Teil 5)
Antworten:
A) Gefahrentatbestand
1. Eine Gefahr besteht bei einer Sachlage, die in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die öffentliche Sicherheit und Ordnung führen würde.
Durch das Bedürfnis nach effektiver Gefahrenabwehr ist auf Ebene der Entscheidung über ein
polizeiliches Eingreifen eine ex ante-Betrachtung der Sachlage erforderlich.
Hier ist eine Sachlage gegeben, die der P als gefährlich angesehen hat und unter den obwaltenden Umständen bei Anlegung des Maßstabs verständiger Würdigung und hinreichender Sachverhaltsaufklärung als gefährlich ansehen durfte. Später hat sich jedoch herausgestellt, dass P irrtümlich dieser Annahme war.
Es bestand eine sogenannte Anscheinsgefahr. Diese ist dadurch charakterisiert, dass objektiv
keine Gefahr vorliegt, ein objektiver Beobachter (bei ex ante-Betrachtung) jedoch zum Zeitpunkt
der Entscheidung vom Vorliegen einer Gefahr ausgehen würde.
Die Anscheinsgefahr wird als „echte“ Gefahr im Sinne der Eingriffsermächtigungen des Polizeiund Ordnungsrechts angesehen.
Ein Handeln des P wäre somit bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen der polizeilichen
Generalklausel rechtmäßig gewesen.
2. Hier nimmt P ebenfalls irrtümlich das Vorliegen einer Gefahrenlage an. Im Gegensatz zum
vorhergehenden Fall hätte aber jeder objektive Beobachter (bei ex ante-Betrachtung) die Sachlage zutreffend erfasst (Pferdegetrappel kann nur im Fernsehen vorkommen) und wäre nicht vom
Vorliegen einer Gefahr ausgegangen. Es lag eine sogenannte Putativgefahr (Scheingefahr) vor,
die keine Gefahr im Sinne des POR darstellt. Unter Berufung auf eine Putativgefahr ist keine
rechtmäßige polizeiliche Handlung möglich. Das Handeln des P ist rechtswidrig.
3. Es handelt sich in dieser Konstellation um das Vorliegen eines sogenannten Gefahrenverdachts. Wie sich später herausstellte, lag objektiv keine Gefahr vor. Ein objektiver Beobachter
konnte sich (bei ex ante-Betrachtung) über das Vorliegen einer Gefahr nicht sicher sein; es bestanden konkrete Zweifel. Die Ordnungsbehörde konnte lediglich von der Möglichkeit des Bestehens einer Gefahrenlage ausgehen. Das Tatsachenbild der Ordnungsbehörde war unvollständig.
Bei Vorliegen eines Gefahrenverdachts darf die Polizei- oder Ordnungsbehörde sogenannte Gefahrenerforschungseingriffe durchführen. Dies ist im Rahmen der Ermessensprüfung beim
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu erörtern: Im Fall des Gefahrenverdachts sind nur Gefahrerforschungseingriffe erforderlich und damit verhältnismäßig.
B) Ordnungs- und Polizeipflichtigkeit
1. Nein! Da oftmals in den speziellen Gesetzen Regelungen in Bezug auf die Polizei- und Ordnungspflicht fehlen, kommt es hinsichtlich der Verantwortlichkeit zur Anwendung der Vorschriften des SOG (vgl. §§ 68 ff. SOG M-V).
2. Im Rahmen der Verantwortlichkeit des Polizei- und Ordnungsrechts wird zwischen dem Störer, der eine Verhaltensverantwortlichkeit (Verhaltensstörer, vgl. § 69 SOG M-V) oder eine Zustandsverantwortlichkeit (Zustandsstörer, vgl. § 70 SOG M-V) besitzen kann, und dem Nichtstörer (vgl. § 71 SOG M-V) unterschieden.
Die Verhaltensverantwortlichkeit richtet sich gegen denjenigen, der die Gefahr selbst unmittelbar
kausal verursacht.
Polizei- und Ordnungsrecht (Fragen und Antworten - Teil 5)
3
Die Zustandsverantwortlichkeit bezieht sich auf die Sache oder Sachgesamtheit, von der die Gefahr wegen ihrer Beschaffenheit, der Art ihrer Verwendung oder ihrer „Lage im Raum“ unmittelbar ursächlich ausgeht. Sie richtet sich an den Eigentümer und den Inhaber der tatsächlichen
Gewalt.
3. Hier kommt eine Gefahrverursachung des E durch Unterlassen und damit eine Verhaltensverantwortlichkeit in Betracht. Für ein gefahrverursachendes Unterlassen wird nur gehaftet, soweit
eine Rechtspflicht zu gefahrenabwehrendem Handeln besteht. Diese muss sich aus öffentlichrechtlichen Vorschriften ergeben; sie kann also nicht aus privatrechtlichen Verträgen folgen. Für
den Eigentümer E besteht hier mit der kommunalen Satzung eine solche Vorschrift. Der E ist
durch das Unterlassen des Streuens verhaltensverantwortlich gegenüber der Ordnungsbehörde
(§ 69 SOG M-V). Der Mieter macht sich unter Umständen gegenüber dem Eigentümer privatrechtlich schadensersatzpflichtig.
4. Der Eigentümer eines – in einer umzäunten Baustelleneinrichtung gelagerten und von unbekannten Tätern umgekippten – Dieselölfasses ist unabgängig von einem etwaigen Verschulden
als Zustandsstörer (§ 70 SOG M-V) für die durch auslaufendes Öl entstehende Gefahrenlage
verantwortlich. „Die Inanspruchnahme des Eigentümers des ... verseuchten Geländes wird in aller Regel erst dann in Betracht zu ziehen sein, wenn weder ein Verhaltensstörer noch auch – als
Zustandsstörer – wenigstens derjenige greifbar ist, der als Eigentümer bzw. Gewaltinhaber Verantwortung für den Zustand derjenigen Sache trägt, von der die Gefahr letztlich ausgegangen ist“
(Eigentümer des Ölfasses), HessVGH, DÖV 1994, 172.
Vgl. zur Problematik der Reichweite der Zustandshaftung und des § 70 II 2 SOG MV: VG Berlin, NJW 2000, 603 f.
_______________