AG GRUNDRECHTE SS 2015 Atomkraft – nein danke

AG GRUNDRECHTE SS 2015
2. Termin, 29.4.2015 – Art. 8 GG
Atomkraft – nein danke!
Lösungsskizze
Vorab:
 Festlegung der zu prüfenden hoheitlichen Maßnahme: Verbotsverfügung = Einzelakt.
A.
Verletzung von Art. 8 I GG?
I.
Eingriff in den Schutzbereich
1.
Schutzbereich
a.
Persönlicher Schutzbereich
Deutschengrundrecht
 Art. 116 I GG
b.
Sachlicher Schutzbereich
 friedliche Versammlung ohne Waffen
aa) Versammlung
= Zusammenkunft mehrerer Menschen an einem Ort zu
einem gemeinsamen Zweck
 Personenanzahl (+)
 gemeinsame Zweckverfolgung = innere Verbundenheit
 (+), denn die Demonstranten brauchen einander, um den Zweck zu verfolgen (= innere Verbundenheit)
 Inhaltliche Anforderungen an den Zweck:
Besonders umstritten:
- e.A.: enger Versammlungsbegriff: Meinungsäußerung in
öff. Angelegenheiten
Subsumtion: Bei Demo gegen Atomkraftwek (+)
-a.A.: erweiterter Versammlungsbegriff: jede Meinungsäußerung
Subsumtion: Bei Demo gegen Atomkraftwek (+)
-a.A.: weiter Versammlungsbegriff: Jeder gemeinsame
Zweck
Subsumtion: Bei Demo gegen Atomkraftwek (+)
Anforderungen
auch nach der strengsten Auffassung (öffent-
liche Angelegenheit) gegeben. Ein Streitentscheid ist daher
nicht nötig.
bb) Friedlich und ohne Waffen
 Definition „friedlich“:
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Friedlich ist eine Versammlung, die keinen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf nimmt
(-), weil Ausschreitungen von P befürchtet?
Versammlung wird aber nicht dadurch unfriedlich, dass sich einzelne Teilnehmer gewalttätig verhalten. Die Versammlung muss kollektiv unfriedlich sein.
2.
Eingriff in die Versammlungsfreiheit
 Versammlungsverbot
Klassischer Eingriffsbegriff
 Verhalten im Schutzbereich eines Grundrechts wird
durch einen Akt öffentlicher Gewalt zumindest erschwert.
UND DER AKT IST...
 Final
 Unmittelbar
 Rechtsförmig
 Imperativ
 Das Versammlungsverbot stellt einen klass. Eingriff
dar.
II.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung des Eingriffs
1.
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Eingriffsgrundlage vorhanden
§ 15 I VersG
2.
Verfassungsmäßigkeit des § 15 I VersG
a.
Formelle Verfassungsmäßigkeit  zu unterstellen (+)
b.
Materielle Verfassungsmäßigkeit
aa) Übereinstimmung mit der Schrankenregelung
Art. 8 II GG: für Versammlungen unter freiem Himmel
durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes (= Einfacher Gesetzesvorbehalt)
 mangels seitlicher Begrenzung für jedermann unbegrenzt zugänglich und damit unter freiem
Himmel (+)
 Einfacher Gesetzesvorbehalt durch § 15 I VersG (+)
bb) Übereinstimmung mit den Schranken-Schranken
(1)
Art. 19 I 2 GG  Zitiergebot, § 20 VersG
(2)
Verhältnismäßigkeit
-> kann an dieser Stelle kurz abgehandelt
werden, da verfassungskonforme Auslegung
des abstrakten Gesetzes jedenfalls möglich
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(a) Legitimer Zweck
(b) Geeignetheit
(c) Erforderlichkeit
(d) Angemessenheit
(+), da Verbot und Auflösung nur bei „unmittelbarer Gefährdung“ und nur
zum Schutz „elementarer Rechtsgüter“
(BVerfG, verfassungskonforme Auslegung)
3.
Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesanwendung in diesem
Einzelfall
 Verstoß gegen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im konkreten Einzelfall?
a.
Legitimer Zweck: Schutz vor Gewalttätigkeiten (+)
b.
Geeignet: (+), da ohne Veranstaltung keine
Gewalttätigkeiten
c.
Erforderlich = kein milderes Mittel, das genauso effektiv
ist?1
 Möglich wäre auch ein Abwarten oder das Erteilen
von Auflagen, aber: gleich geeignet?
1
Beachte: Hier müssen die verschiedenen Mittel genau gleich geeignet (effektiv) sein. Eine Argumentation
dahingehend, dass ein anderes Mittel weniger intensiv ist, wäre eine (versteckte) Abwägung, die erst im
Rahmen der Angemessenheit zu erfolgen hat.
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d.
Angemessenheit
 Beurteilung des Zwecks
 Schutz vor Gewalttätigkeiten hat über Art. 2 II 1
GG (körperliche Unversehrtheit) Verfassungsrang und verpflichtet den Staat zum Schutz.2
 Die Beurteilung wie gut der Zweck erreicht werden kann ist abhängig von der Gefahrenprognose. (m.a.W. wenn tatsächlich gar keine Gefahr
eintreten wird, dann kann der Zweck auch gar
nicht erreicht werden.)
→ Beurteilung des Mittels
 Das Mittel um den Zweck zu erreichen ist der
Eingriff in die Versammlungsfreiheit von A, B
und C.
 Der Eingriff erreicht dabei ein hohes Maß an Intensität, da die Versammlung bereits vorab
komplett unmöglich gemacht wird. (m.a.W. das
Recht wird ihnen in Gänze genommen).
→ Prüfungsmaßstab
2
Zur Prüfung einer Schutzpflicht im Rahmen der Angemessenheitsprüfung, s. Epping, Grundrechte, 5. Auflage, Rn. 94 ff. insbesondere für die Fälle vorbehaltloser Grundrechte.
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 Grundsätzlich: Übermaßverbot (d.h. es muss nicht
der bestmögliche Ausgleich gefunden werden,
sondern das Mittel darf nur nicht außer Verhältnis
zum Zweck stehen).
 Besonderheit bei Art. 8 I GG: Verbote und Auflösungen nach § 15 VersG sind aufgrund der hohen
Bedeutung der Versammlungsfreiheit nicht schon
bei jeder Gefährdung der „öffentlichen Sicherheit
und Ordnung“, sondern nur zum Schutze von
gleichwertigen Rechtsgütern, deren Gefährdung
„unmittelbar“ ist, d.h. auf erkennbaren Umständen
beruht (= verschärfter Prüfungsmaßstab).
→ Abwägung (= ab hier Prüfung auf der Grundlage der
zuvor herausgearbeiteten Aspekte)
 Mögliche Argumentation
o Der Schutzauftrag des Staates aus Art. 2 II 1
GG steht mit dem Recht auf Versammlung,
das Grundlage einer freien demokratischen
Grundordnung ist, auf einer Stufe.
o Hier aber mangelt es an einer hinreichend
konkreten Gefährdungslage (es handelt sich
lediglich um eine Prognose aufgrund früherer
Demos, die darüber hinaus allein von der
Presse formuliert wurde und nicht dem ent-
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sprechen, was A, B und C bisher an Rückmeldungen erhalten haben).
o Mithin ist ein vorbeugendes Verbot als die
denkbar intensivste Maßnahme nicht angemessen; ferner wurden weniger intensive
Maßnahmen, die z.B. deutlicher auf Kooperation mit den Veranstaltern ausgerichtet sind,
überhaupt nicht in Erwägung gezogen.
 Angemessenheit (-)
 Verfassungsmäßigkeit der Gesetzesanwendung in diesem
Einzelfall (-)
 Rechtfertigung des Eingriffs (-)
 Verletzung des Grundrechts (+)
B.
Verletzung von Art. 5 I 1 GG
 Verbot knüpft nicht an Meinung selbst an, sondern ist meinungsneutral
(a.A. vertretbar, wenn darauf abgestellt wird, dass es sich um eine Atomkraft-kritische Demo handelt.)
C.
Verletzung von Art. 2 I GG
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→ Tritt jedenfalls als subsidiär zurück (= Auffangcharakter).
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