8.2. KURVEN IM RAUM 37 Lemma 8.2.3.10 (Differenzierbarkeit der

8.2. KURVEN IM RAUM
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Lemma 8.2.3.10 (Differenzierbarkeit der Wegelängenfunktion für
glatte Kurven)
Ist γ ∈ C 1 (I; V ), so ist die Abbildung t 7→ Lt (γ) differenzierbar, die Ableitung
an der Stelle t ergibt sich zu kγ 0 (t)kV .
Beweis. Wir beginnen mit einer einfachen Beobachtung: für a ≤ t1 < t2 ≤ b gilt
t2
t1
Zt2
kγ(t2 ) − γ(t1 )kV ≤ L (γ) − L (γ) ≤
kγ 0 (s)kV ds
(8.2)
t1
und wollen diese beweisen. Wir approximieren γ|[t1 ,t2 ] durch einen Polygonzug
pZ (t1 , t2 ) der γ(t1 ) mit γ(t2 ) verbindet. Dann ist offensichtlich
kγ(t2 ) − γ(t1 )kV ≤ L(pZ (t1 , t2 )) ≤ Lt2 (γ) − Lt1 (γ).
Für jeden Abschnitt eines Polygonzuges der Form
γ(ζi ) +
x − ζi
(γ(ζi+1 ) − γ(ζi ))
ζi+1 − ζi
gilt, dass die Länge nach oben durch das Integral
ζi+1
Z
kγ 0 (s)kV ds
ζi
abzuschätzen ist, durch Aneinanderfügen mehrerer solcher Abschnitte ergibt sich,
dass die obige Abschätzung (8.2) gilt. Wir müssen den Quotienten
1 t+h
(L (γ) − Lt (γ)
h
für h → 0 untersuchen. Wir haben
Zt+h
γ(t + h) − γ(t) =
γ 0 (s) ds.
t
Damit erhalten wir für den genannten Quotienten eine Abschätzung nach oben
und unten:
Zt+h
1
1 t+h
1
t
kγ(t + h) − γ(t)kV ≤ |L (γ) − L (γ)| ≤
kγ 0 (s)kV ds.
|h|
h
|h|
t
Durch Grenzübergang und der Differenzierbarkeit der Funktionen deren Differenzenquotienten auf der linken und rechten Seite stehen, ergibt sich, dass der
Quotient in der Mitte gegen kγ 0 (t)kV konvergiert und damit ist kγ 0 (t)kV k die
Ableitung der Wegelängenfunktion im Punkt t.
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KAPITEL 8. DIFFERENTIALRECHNUNG
Satz 8.2.3.11 (Kriterium für Rektifizierbarkeit)
Sei (V, h·, ·iV ) ein Banachraum.
1. Ist γ : I → V Lipschitz stetig, so ist die Kurve rektifizierbar.
2. Ist γ : [a, b] → V stetig differenzierbar, so ist die Kurve γ rektifizierbar
und
Zb
L(γ) = kγ 0 (x)kV dx.
a
Beweis. Im ersten Fall sei Z eine beliebige Zerlegung von [a, b], dann ist
L(pZ ) =
m−1
X
kγ(ζj+1 ) − γ(ζj )kV ≤
j=0
m−1
X
M |ζj+1 − ζj | = M (b − a).
j=0
Also ist das Supremum über alle Zerlegungen höchstens M (b − a). Die zweite
Aussage beweisen wir wie folgt. Da γ stetig differenzierbar ist, ist die Abbildung
[a, b] → V : t 7→ γ 0 (t) stetig, das Bild γ 0 ([a, b]) ist kompakt, daher beschränkt,
und es existiert eine Zahl M > 0 mit
kγ 0 (t)kV < M, t ∈ [a, b].
Dann ist γ Lipschitz stetig mit Konstante M und damit rektifizierbar.
Es bleibt noch zu zeigen, dass die Länge der Kurve durch das angegebene Integral
gegeben ist. Da die Ableitung der Wegelängenfunktion durch kγ 0 (t)kV gegeben
ist, folgt die Darstellung der Funktion unmittelbar.
Bemerkung 8.2.3.12 (Kurvenlänge und Norm)
Die Länge einer Kurve hängt von der Wahl der Norm ab, die Rektifizierbarkeit nicht, in dem Sinne, dass für zwei äquivalente Normen k · k1 , k · k2
eine Kurve γ genau dann bzgl. k · k1 rektifizierbar ist, wenn sie bzgl. k · k2
rektifizierbar ist.
Als Anwendung betrachten wir die Länge des Kreisbogens.
Satz 8.2.3.13 (Kreisbogen)
Es sei r > 0
γ : [0, 2π] → R : t 7→
2
r cos(t)
r sin(t)
der Kreisbogen mit Radius r im (R2 , k · k2 ). Dann ist L(γ) = 2πr.
8.2. KURVEN IM RAUM
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Beweis. Es ist γ stetig differenzierbar, also ist γ rektifizierbar und es gilt
Z2π
L(γ) =
Z2π q
kγ 0 (s)k2 ds = r (cos2 (t) + sin2 (t)) dt = 2πr.
0
0
Es stellt sich die Frage, ob diese Länge ein Charakteristikum der Punktmenge im
Raum V ist oder von der gewählten Kurve abhängt. Dieser Frage gehen wir im
nächsten Abschnitt nach. Davor noch zwei Begriffe.
Definition 8.2.3.14 (Spur)
Wir unterscheiden die Kurve γ und ihr Bild, d. h. die Punktmenge
n
o
γ(t) t ∈ [a, b]
in V , letzteres bezeichnen wir als die Spur der Kurve.
8.2.4
Transformationen
Wir wollen das Verhalten einer Kurve bzw. des Tangentialvektors unter sogenannten Parametertransformationen untersuchen. Wir betrachten dabei folgende
grundlegende Situation:
Es sei γ : [a, b] → V eine Kurve, ϕ : [c, d] → [a, b] eine stetige, bijektive Abbildung. Dann ist natürlich
γ ◦ ϕ : [c, d] → Rn
eine Kurve.
Definition 8.2.4.1 (Parametertransformation)
Wir sagen die Kurve γ ◦ϕ geht durch die Parametertransformation ϕ aus der
Kurve γ hervor. Sind die Abbildungen ϕ und ϕ−1 beide stetig differenzierbar,
so sprechen wir von einer C 1 -Parametertransformation.
Lemma 8.2.4.2 (Parametertransformation)
Ist ϕ eine C 1 -Parametertransformation, so ist ϕ0 (t) 6= 0 für alle t ∈ [c, d].
Beweis. Es gilt ϕ ◦ ϕ−1 = 1l auf [a, b], wobei 1l für die Abbildung 1l(x) = x steht.
Dann ist nach der Kettenregel
1 = (ϕ ◦ ϕ−1 )0 (t) = ϕ0 (ϕ−1 (t))(ϕ−1 )0 (t).
Also ist sowohl ϕ0 wie auch (ϕ−1 )0 nirgends Null.
Daher hat ϕ0 ein konstantes Vorzeichen auf [c, d].
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KAPITEL 8. DIFFERENTIALRECHNUNG
Definition 8.2.4.3 (Parametertransformation und Orientierung)
Die C 1 -Parametertransformation heißt orientierungserhaltend, wenn ϕ0 > 0
ist, im anderen Fall nennt man sie orientierungsumkehrend.
Wir betrachten zunächst das Verhalten der Tangentialvektoren unter Parametertransformationen. Ist γ : [a, b] → V eine Kurve, ϕ eine C 1 -Parametertransformation, ϕ : [c, d] → [a, b] bijektiv, so ist
(γ ◦ ϕ)0 (t) = γ 0 (ϕ)ϕ0 (t).
Daran sieht man, dass die Richtung der Tangentialvektoren unter C 1 -Parametertransformationen erhalten bleibt.
Satz 8.2.4.4 (Invarianz der Länge)
Ist γ eine stetig differenzierbare Kurve, ϕ eine C 1 -Parametertransformation,
so ist L(γ) = L(γ ◦ ϕ).
Beweis. Dies folgt sofort aus der Substitutionsregel:
Zd
L(γ ◦ ϕ) =
k(γ ◦ ϕ)0 (s)kV ds
c
Zd
=
kγ 0 (ϕ(s))ϕ0 (s)kV ds
c
Zd
=
kγ 0 (ϕ(s))kV |ϕ0 (s)| ds
c
Zd
=±
kγ 0 (ϕ(s))kV ϕ0 (s) ds
c
ϕ(d)
Z
=±
kγ 0 (t)kV dt
ϕ(c)
Zb
=
kγ 0 (t)kV dt
a
Definition 8.2.4.5 (Äquivalenz von Kurven)
Wir nennen zwei Kurven γ1,2 ∈ C(I1,2 ; V ) äquivalent, wenn es eine Parame-
8.3. ABLEITUNGEN
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tertransformation φ : I1 → I2 gibt mit γ1 = γ2 ◦ φ.
Lemma 8.2.4.6 (Äquivalenzrelation und Kurven)
Äquivalenz von Kurven ist eine Äquivalenzrelation auf der Menge der Paare
(I, γ).
Definition 8.2.4.7 (Weg)
Eine Äquivalenzklasse von Kurven bezüglich der eben definierten Relation
heißt Weg.
Diese Begriffsbildung rechtfertigt den Begriff der Wegelängenfunktion.
8.3
Ableitungen
8.3.1
Definition der Ableitung
Wir wollen in diesem Abschnitt den Begriff der Ableitung einer auf einer offenen
Teilmenge eines Banachraumes definierten, K-wertigen Funktion einführen und
gleichzeitig den Begriff der partiellen Ableitung für Funktionen, die auf Teilmengen eines Banachraumes V definiert sind. Dies ist etwas komplizierter als der
Begriff der Ableitung für Funktionen einer einzigen reellen oder komplexen Variablen. Funktionen f : V → R treten bei der Beschreibung von Vorgängen in
der Natur, Technik und Wissenschaft in mannigfacher Weise auf. Dabei ist man
oft an Extremalstellen interessiert, die man wie bisher mit Ableitungen charakterisiert. Daher ist der nun zu definierende Begriff zentral für die Anwendungen
der Mathematik in anderen Fächern. Wir wollen wegen dieser Wichtigkeit einige
Beispiele von solchen Funktionen aus verschiedenen Bereichen angeben.
Beispiel 8.3.1.1 (Extremalprobleme in mehreren Veränderlichen)
1. (Metereologie) Eine Abbildung T : R3 → R, die jedem Punkt der
Atmosphäre die Temperatur an diesem Punkt zuordnet. Gleiches gilt
für Druck p, Luftfeuchtigkeit etc.. Weitere Fragen könnten Isotherme
sein, wie sehen diese aus?
2. (Geographie) Die Abbildung, die jedem Punkt auf der Landkarte (R2 )
die Höhe über NN zuordnet.
3. (Chemische Industrie) Die Abbildung T : R3 → R, die jedem Punkt in
einem mit einem reagierenden Gemisch gefüllten Tank die Temperatur
zuordnet. Die Kenntnis dieser Funktion ist für die Sicherheit chemischer
Anlagen von extrem hoher Wichtigkeit, obwohl man diese Funktion im