42 KULTUR BASEL | BASELLANDSCHAFTLICHE SAMSTAG, 31. OKTOBER 2015 Eine Meisterin virtuoser Verzierungen AMG Solistenabende Die deutsche Sopranistin Simone Kermes sang im Stadtcasino Basel barocke Bravour-Arien VON ALFRED ZILTENER Simone Kermes polarisiert. Die gerade, «weisse», gelegentlich etwas grelle Stimme der Sopranistin, die von ihren Fans als «Primadonna assoluta der Barockmusik» gefeiert wird, ist nicht jedermanns Sache, und ihre auf Effekt bedachten Auftritte im Konzertsaal wirken oft selbstverliebt. Ihren sängerischen Ausnahmerang allerdings wird niemand bestreiten. Nun hat sie zusammen mit dem Barockorchester «La Folia» um den Geiger Robin Peter Müller die Saison der AMG Solistenabende eröffnet und im Konzert auch den skeptischen Rezensenten begeistert. Sie interpretierte Arien aus dem italienischen Barock. In diesen hochvirtuosen Stücken brillierten die grossen Sän- ger und Primadonnen, an welche die von barocken Theaterkostümen inspirierte Kleidung der Sängerin erinnerte: eine schwarze, weiss und golden dekorierte Robe mit engem Bustier und weit auskragenden Hüften. In den ersten beiden Arien demonstrierte Kermes die beiden Pole ihres Könnens. «Vedro turbato il mare» von Nicola Antonio Porpora ist ein Feuerwerk an immer aberwitzigeren Koloraturen, raschen Läufen und weiten Sprüngen; Kermes zündete die Raketen bravourös, mit grosser Präzision und feuerte hin und wieder einen zusätzlichen Spitzenton ab. Dass sie dabei allerdings jeden Ton in körperliche Bewegung umsetzte, dauernd irgendwo ruckte und zuckte, war zu viel an Show – «Madonna war hier», kommentierte ein Spötter im Publikum. nolinien mit perfektem Legato nachzog und im Dacapo-Teil ins hauchzarte, aber tragfähige Pianissimo zurücknahm, das war eine Vorführung höchster Gesangskunst – einer nur kalkulierten Kunst allerdings, die man bewunderte, die aber kalt liess. In Pergolesis «Lieto così tavolta» musizierte sie beseelt, in stetem Blickkontakt mit der Solo-Oboistin von «La Folia». Das klein besetzte Ensemble spielte zwischen den Arien – zupackend und präzis – Instrumentalstücke, denen Cembalo und Theorbe stimmig improvisierend zusätzliche Farben gaben. In Antonio Vivaldis Violinkonzert RV 208 spielte Müller den Solopart, höchst agil in den Ecksätzen, mit rhetorischem Ausdruck im Recitativo-Mittelsatz. Auch nach zweieinhalb Stunden und zwei Zugaben zeigte Kermes keine Ermüdung. Ihre dritte Zugabe erwies sich als Höhepunkt des Abends. Schlicht sang sie Didos Tod aus Henry Purcells «Dido and Aeneas: Die einfache, bewegende Musik deklassierte mühelos den vorangegangenen virtuosen Prunk. Eins werden mit der Musik Simone Kermes. Nach der Pause änderte sich der Eindruck. Ohne Mätzchen schien die Sängerin nun mit der Musik eins zu werden. Die rasenden Koloraturenketten, die virtuosen Verzierungen, die Ausflüge bis zum hohen G erhielten jetzt Ausdruck. In Giovanni Battista Pergolesis «Tu me da me dividi» etwa schien sie förmlich vom Zorn der Singenden mitgerissen und scheute dabei auch hässliche Töne nicht. GREGOR HOHENBERG Den grösstmöglichen Gegensatz bot (in Abänderung des gedruckten Programms) Porporas für den Kastraten Farinelli komponiertes verinnerlichtes «Alto Giove». Wie Kermes den Anfangston aus dem Nichts anschwellen und vergehen liess, wie sie die langen Pia- «Traumatische Metapher für eine verlorene Gegenwart» Mein Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum Basel (39) Der Basler Künstler Thomas Ritz wählt Edgar Degas Bild «Jockey blessé» von 1896/1898 « Es gibt Bilder, die einem nicht aus dem Kopf gehen. «Jockey blessé» von Edgar Degas in den Jahren 1896/98 gemalt, ist eines davon. Als ich das Bild als Jugendlicher das erste Mal im Basler Kunstmuseum sah, überraschte mich seine formale Einfachheit. Bei näherer Betrachtung erhob sich plötzlich sein mächtiges, mit gelbem Ocker untermaltes Grün, das sich weit in den Himmel vorschob. Darüber ein Pferd mit gestreckten Hufen und darunter eine leuchtende Figur in Gelb und Weiss. Was ging hier vor? Versuche ich, mir das Ge- Thomas Ritz. schehen zu vergegenwärtigen, kann der Reiter nicht von diesem Pferd gestürzt sein. Tatsächlich malte Degas von zwei verunglückten Jockeys nur einen. Im festgehaltenen Augenblick der Bildszene liegt dieser am Boden und wird vom herrenlosen Pferd, des vor ihm gestürzten Mitstreiters, überholt, während sein eigenes Pferd ihn schon längst hinter sich gelassen hat. Diese Geschichte mag einiges klären. Aber Degas zeigt hier nur eine bestimm- te Sequenz des Geschehens. Sie entwickelt sich zu einer traumatischen Metapher für eine verlorene Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft. Das angestrebte Dream-Team von Reiter und Pferd ist gescheitert, die Verschmelzung von Mensch und Tier als unbesiegbare Einheit endet im Desaster. Zurück bleiben die bruchstückhaften Momente des Pferdes und des Jockeys, gebannt auf einem abfallenden Stück schattigen Hügel, fernab jeden Publikums. Nur für den Betrachter bestimmt, überspringt das Pferd mit seinem flüchtigen Blick den Gestürzten, liegt der Reiter einfach nur da, aufgesogen vom Gras, vielleicht leblos und mit leerem Blick zum Himmel. Es ist genau das, was mich an diesem Bild nicht loslässt und für meine eigene Arbeit von Bedeutung ist: die Erfahrung des Malers von sichtbarer Wirklichkeit und die an sich ambivalente Sichtbarkeit des Bildes als poetische Differenz. Degas Bild «Jockey blessé», zeigt die Gleichzeitigkeit zweier Verluste, die vom Reiter und die des Pferdes. Hier wird das Bild zur Metapher einer Verletzung. In ihm bricht sich das Sichtbargemachte mit dem Vorstellbaren als reine Poesie.» Jockey blessé ist bis 21. Februar in der Ausstellung «Cézanne bis Richter» im Museum für Gegenwartskunst zu sehen. INSERAT Edgar Degas: «Jockey blessé», um 1896/1898, Öl auf Leinwand, 180.6 x 150.9 cm. ✴ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ SERIE ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ MARTIN P. BÜHLER / KUNSTMUSEUM BASEL ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ● ● ● ● ● ● ● ● ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ▼ ✲ ● ● ● ● ● ● ❒ ● ❒ ● ❒ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ❒ ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● ● Mein Lieblingswerk Mit der bz-Serie «Mein Lieblingswerk aus dem Kunstmuseum Basel» wollen wir während der Zeit der Schliessung des Basler Kunstmuseums dessen Schätze in unser Bewusstsein rufen. Dies, obwohl einige Meisterwerke aktuell im Museum der Gegenwartskunst (Moderne) und im Museum der Kulturen (Alte Meister) zugänglich sind. Jede Woche stellt eine Persön- lichkeit aus der Region ihr Lieblingswerk vor. Am 10. Oktober hat der Basler Cembalist und Organist Jörg-Andreas Bötticher, der Mitbegründer der «Abendmusiken in der Basler Predigerkirche», Caspar Wolfs Gemälde «Der Geltenschuss im Sommer» von 1777 als sein Lieblingswerk ausgewählt. Am 17. Oktober hat die Basler Musikwissenschafterin und Kritike- rin Martina Wohlthat formuliert, weshalb sie Sebastian Stoskopffs Gemälde «Vanitas – Stillleben mit Totenkopf»von 1630 so sehr fasziniert. Und am 24. Oktober hat die Basler LDP-Grossrätin Christine Wirz-von Planta, Mitglied der Bildungs- und Kulturkommission, erklärt, weshalb ihr Pablo Picassos Zeichnung «Arlequin et Colombine» von 1905 so viel bedeutet. (FLU)
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