Denkexkurs 23

Dr. phil. Wilfried Grenz
Denkexkurs 23
Die Moral definierte Max Weber als eine letztendlich nicht rational begründbare Angelegenheit
privater Glaubensentscheidungen. Wobei die moralischen Entscheidungen im Vollzug
rationale Konsequenzen nach sich ziehen, wenn sie in Handlungen überführt werden. Der
Einzelne begibt sich so auf den Weg, bestimmte Endzustände zu erreichen bzw. zu vermeiden.
Diese Endzustände umfassen nicht nur sein Verhältnis gegenüber konkreten Besitztümern
oder abstrakten Lebensthemen, sondern auch zu den Mitmenschen. Fast jeden Tag werden
wir im Augenblick berührt durch die aktuelle gesellschaftspolitische Moraldiskussion zum
Umgang mit den Asylsuchenden, die uns an unseren Grenzen gegenüber stehen.
Der Philosoph Karl Otto Apel warnte, dass die Moral dahin tendiert, das Gegenüber pauschal
als Feind, d.h. als zu vernichtenden Vertreter des Bösen aufzufassen oder aber ihn unter
Missachtung der Realität im Sinn einer utopischen Antizipation des Gottesreiches einer
zukünftigen heilen Welt naiv als Freund und Bruder einzusortieren und zu behandeln.
Die aktuelle Moraldiskussion im Bereich des Umgangs mit Asylsuchenden bewegt sich dabei
zwischen den Polen Grenzen auf für alle und Grenzen für alle zu. Viele sind hin und her gerissen
zwischen dem Wunsch zu helfen und der Angst, kulturell und ökonomisch überrollt zu werden.
Ein Gefühl von Hilflosigkeit, einen Standpunkt zu finden, von dem aus ich gut leben kann,
macht sich breit. Besonders, wenn aus dem theoretischen Asylsuchenden ein konkreter
Bewohner in der Unterkunft um die Ecke wird.
Als Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis von Tegel Zweifel an seinem Selbstkonzept, seinem
Standpunkt hatte, wer er wirklich sei – Herr oder Knecht – schrieb er das Gedicht ‚Wer bin ich‘.
Die letzten Zeilen lauten: Einsames Fragen treibt mit mir Spott – Wer ich auch bin, Dein bin
ich, o Gott.
Egal, ob der Einzelne diese übergeordnete Instand zur Moralfindung Gott, Zivilcourage,
gesellschaftspolitische Orientierung nennt – wichtig ist, dass sie ein tragfähiges Fundament
für seine Handlungen bildet.
Die Schutzsuchenden haben ein Recht darauf, nicht wie ein Heuschreckenschwarm verjagt zu
werden, sondern als Menschen in Bedrängnis ernst genommen zu werden. Damit wir in
klärende Dialoge eintreten und lösungsorientierte Strukturen entwickeln können, ist es
wichtig, dass wir nicht von Agitatoren oder Angstmachern wie eine Schafherde irgendwohin
getrieben werden. Unser Handeln muss auf eine individuelle moralische Instanz gegründet
sein. Man nennt diese auch einen Standpunkt.
Und das Beste an dem Punkt, auf dem ich stehe, ist, dass ich ihn auch verlassen kann. Wie der
Neinsager bei Bert Brecht formuliert: Ich muss nicht B sagen, wenn ich erkannt habe, dass A
falsch ist!
Moraldiskussionen können Veränderungen bei den Handlungsentscheidungen Einzelner
bewirken, so dass sie zukünftig anders handeln. Es gilt, mit dem Gegenüber in der deutschen
Bevölkerung und bei den Asylsuchenden zu reden – und sich nicht hinter Grenzzäunen oder
Gardinen zu verstecken.
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