Dritte Vorlesungsstunde – Eigentumsgarantie und andere wirtschaftsrelevante Grundrechte 1 Kategorien grundrechtsrelevanter staatlicher Eingriffe Regelnde Eingriffe (sog. klassische Grundrechtseingriffe) – Unmittelbar beschränkende Wirtschaftsgesetzgebung mit berufsregelnder Tendenz – Genehmigungsvorbehalte – Ge-, Verbote, Auflagen/Anordnungen der staatlichen Verwaltung mit berufsregelnder Tendenz Faktische Beeinträchtigungen – Definition: Mittelbare Einwirkung auf die Wirtschaft mit berufsregelnder Wirkung – Beispiele: • Bindung staatlicher Auftragsvergabe an „Tariftreue“ der Unternehmen; • Subventionierung von Konkurrenten; • sehr streitig: Produktwarnungen, Empfehlungen (ablehnend BVerfGE 105, 252, 268; 279, 301 ff.) 2 Rechtfertigung eines Eingriffs in die Berufsfreiheit 1. „durch oder aufgrund eines Gesetzes“ Beachte: Nach BVerfG einheitlicher Gesetzesvorbehalt: Art. 12 I 2 GG (d.h. keine Differenzierung nach Berufswahl oder –ausübung) 2. Differenzierung der zulässigen Eingriffsintensität nach der Dreistufentheorie (=> spezifische Form der Verhältnismäßigkeitsprüfung) 1. Stufe: Regelung der Berufsausübung vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls Rechtfertigung 2. Stufe: Beschränkung der Berufswahl durch subjektive Zulassungsvorauss. 3. Stufe: Beschränkung der Berufswahl durch objektive Zulassungsvorauss. Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut 3 Rechtfertigung: Dreistufentheorie, Beispiele Eingriffsintensität 1. Stufe: Ladenschlussregelung, Rauchverbot in Gaststätten 2. Stufe: Befähigungs- und Sachkundenachweise 3. Stufe: Bedürfnisprüfungen, Höchstzahlregelungen, staatliche Monopole Zulässige Zwecksetzung 1. z.B. Arbeitnehmerschutz; Schutz der Sonntagsruhe 2. z.B. Gewährleistung des Rechtsfriedens, der Gesundheit 3. z.B. Funktionsfähigkeit des Gesundheitswesens „Schrankenschranke“: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 4 Lösung des Ausgangsfalls • Schutzbereich der Berufsfreiheit betroffen? (+) • Eingriff: Berufsregelnde Tendenz? (+) • Rechtfertigung nach Drei-Stufen-Theorie? VERHÄLTNISMÄßIGKEITSPRÜFUNG: -Legitimer Zweck: Schutz vor Gesundheitsgefahren -Geeignetheit: Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers -Erforderlichkeit: gibt es ein milder wirkendes Mittel zu Erreichung des Ziels? -Welche Stufe des Grundrechtseingriffs ist betroffen? 5 Programm Dritte Doppelstunde I. Wiederholung Grundrechtsprüfung II. Eigentumsgarantie III. Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit IV. Allgemeine Handlungsfreiheit 6 Wiederholung: Grundrechtsprüfung I. Schutzbereich II. Eingriff in den Schutzbereich III. Rechtfertigung: Gesetzesvorbehalt Verhältnismäßigkeitsprüfung (Legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit) 7 Eigentumsgarantie, Art. 14 GG: Sachlicher Schutzbereich Eigentum ist alles, was die Rechtsordnung als Eigentum definiert. – Sach- und Grundeigentum, § 903 BGB (leitbildgebend) – vermögenswerte private Rechte (Forderungen, Anwartschaften, Pfandrechte, Besitzrechte, Eigentumsrechte an Aktien usw.) – vermögenswerte öffentliche Rechte, sofern Äquivalente eigener Leistungen (insbes. sozialversicherungsrechtliche Anwartschaften) Schutz des Bestandes Schutz der Verwendungs- und Verfügungsbefugnis Aber: Kein Schutz bloßer Chancen, Hoffnungen und Erwartungen Kein Schutz des Vermögens als solches Kein Erwerbsschutz (=>Art. 12 I, 2 I GG) Schutz des eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetriebes 8 Eigentumsgarantie: Eingriffe und ihre Rechtfertigung Eingriffsarten: 1. Inhalts- und Schrankenbestimmung (Art. 14 I 2 GG): durch abstraktgenerelle Regelung und auf ihrer Grundlage ergehende Beschränkungen des Eigentums 2. Enteignung (Art. 14 III GG): konkret-individueller Entzug der Eigentumsposition, entweder unmittelbar durch Gesetz (Legalenteignung) oder auf seiner Grundlage (Administrativenteignung) Rechtfertigung von (Eingriffen aufgrund von) Inhalts- und Schrankenbestimmungen: 1. Liegt ein Gesetz vor, das selbst verfassungsmäßig ist? 2. Ist der konkrete Eingriff im Lichte des mit dem Eingriff verfolgten Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen (also verhältnismäßig)? 9 Inhalts- und Schrankenbestimmung, Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG • Abwägung zwischen Anerkennung des Privateigentums durch Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG und dem Sozialgebot des Art. 14 Abs. 2 GG (sog. Sozialmodell), gerechter Ausgleich • Grenzen der Eigentumsfreiheit: -Rechte Dritter (z.B. Nachbarn im Baurecht) -Sozialbindung (z.B. Denkmalschutz) -kollidierende Verfassungsgüter (z.B. Art. 20a GG, Umweltschutz) • Bei schweren Beeinträchtigungen: Entschädigung notwendig (sog. Ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmungen) 10 Enteignung, Art. 14 Abs. 3 GG -„Eine Enteignung ist nur zum Wohle der Allgemeinheit zulässig“ -Abgrenzung zur Sozialisierung nach Art. 15 GG: nicht nur einzelnes Unternehmen betroffen, sondern ganze Wirtschaftsbereiche werden in den Blick genommen. -Junktimklausel, Art. 14 Abs. 3 S. 2GG: Enteignung ohne Entschädigung ist verfassungswidrig 11 Beispiel Bundestag und Bundesrat haben im Zuge der Finanzkrise das Rettungsübernahmegesetz beschlossen, das die Option einer Administrativenteignung von Anteilen an Unternehmen des Finanzsektors gegen angemessene Entschädigung als „Ultima Ratio“ einräumt. Die Option ist nachrangig gegenüber milderen Mitteln. Eine Entschädigung ist vorgesehen. Ist diese Maßnahme verfassungsgemäß? 12 Lösung des Falles 1. 2. 3. 4. 5. 6. Schutzbereich: Aktienanteile von Eigentumsgarantie umfasst. Eingriff = Enteignung, da konkret-individuell auf Aktieninhaber zugeschnitten Rechtfertigung: (P) Gesetz ist ersichtlich in erster Linie auf die Hypo Real Estate zugeschnitten Handelt es sich daher um ein unzulässiges Einzelfallgesetz i.S.d. Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG? Verhältnismäßigkeit: Allgemeinwohl als einzig legitimer Enteignungszweck – Systemrelevanz Ultima-Ratio = Erforderlichkeit/Angemessenheit Junktimklausel, Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG 13 Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit: Anwendungsbereich Vereinigungen, Art. 9 Abs. 1: – Oberbegriff für „Vereine und Gesellschaften“ – Jeder freiwillige Zusammenschluss einer Mehrheit von natürlichen oder juristischen Personen oder Personenvereinigungen für längere Zeit zur Verfolgung eines gemeinsamen Zwecks – (P) Zwangsmitgliedschaft in Berufskammern Koalitionen, Art. 9 Abs. 3: Vereinigungen, deren Zweck in der Wahrung und Förderung der Arbeitsund Wirtschaftsbedingungen besteht. 14 Beispielsfall :Streikbegleitende Flashmob-Aktion Eine Gewerkschaft organisiert im Rahmen eines Arbeitskampfes eine einstündige Aktion, bei der ca. 40 Personen überraschend eine Einzelhandelsfiliale aufsuchen und dort mit Waren vollgepackte Einkaufswagen zurücklassen sowie durch den koordinierten Kauf von „Pfennig-Artikeln“ Warteschlangen an den Kassen verursachen. Der Arbeitgeberverband will den Aufruf zu FlashmobAktionen im Einzelhandel verbieten lassen. Ist die Maßnahme von Art. 9 GG gedeckt? 15 Lösung des Falles 1. Sonderfall: Grundrechte im Verhältnis von Privaten zueinander 2. Maßnahme zur Durchsetzung tariflicher Ziele, auf Störung betrieblicher Abläufe gerichtet: Schutz durch Art. 9 Abs. 3 GG (Betätigungsfreiheit der Gewerkschaften) 3. ABER: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit? Hier Abwägung mit Art. 14 GG (Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb) 4. BArbG: okay, da Arbeitgeber sich durch Ausübung des Hausrechts zur Wehr setzen kann 16 Allgemeine Handlungsfreiheit, Art. 2 Abs. 1 GG: Sachlicher Schutzbereich (= geschütztes Verhalten) Beachte: Art. 2 I GG kommt nur zur Anwendung, soweit andere Grundrechte (im Bereich des Wirtschaftsrechts insbes. Art. 12 I, 14 I GG) nicht einschlägig sind. Schutzbereich des Art. 2 I GG als Auffanggrundrecht: – Berufs-, Vereinigungsfreiheit für ausländische natürliche und juristische Personen – Vertragsfreiheit – „Wirtschaftliche Betätigung“ außerhalb der durch Art. 12 I GG geschützten Berufsausübung – Unternehmerische Handlungsfreiheit – Konsumfreiheit – Wettbewerbsfreiheit (streitig; nach a.A. Schutz durch Art. 12 I GG) – Schutz des Vermögens 17 Rechtfertigung von Eingriffen in die allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) Schranken des Grundrechts: – Rechte anderer – Verfassungsmäßige Ordnung (= verfassungsmäßige Rechtsordnung, also alle verfassungsmäßigen Rechtsnormen) – Sittengesetz „Schrankenschranke“: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit – Der staatliche Eingriff muss zur Erreichung eines erlaubten (legitimen) Zwecks geeignet und erforderlich sein. – Der staatliche Eingriff darf nicht außer Verhältnis zum geschützten Zweck stehen. 18 Gleichheitsgrundsatz, Art. 3 GG • Besondere Gleichheitssätze: -Gleichbehandlung von Mann und Frau (Art. 3 Abs. 2 GG) -Absolute Diskriminierungsverbote (Art. 3 Abs. 3 GG) • Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG): Gleichbehandlung von wesentlich Gleichem, Ungleichbehandlung von wesentlich Ungleichem 19
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