Fall: Reiten im Walde

Rechtsanwalt Norman Jäckel · Dr. Berend Koll
Annina Männig · Solveig Meinhardt · Dr. Anna Mrozek
Sommersemester 2016
Fall: Reiten im Walde
An einem sonnigen Frühjahrsmorgen reitet Hobbyreiter Rodriguez Rider (R) quer durch seinen Hauswald in der im Bundesland L gelegenen Gemeinde G. Dort wird er von der aufgebrachten Naturschützerin Nicole Naturalis angehalten und energisch darauf hingewiesen,
dass das Reiten im Walde nur auf den gekennzeichneten Reitwegen erlaubt sei. Diese Regelung sei zur Vermeidung fortschreitender Zerstörungen des Waldwegenetzes durch Hufeinwirkungen sowie zur Schonung des Wildes, aber auch zum Schutz der Waldbesucher, die
sich von Pferden bedroht fühlen, getroffen worden.
R stößt bei seinen Nachforschungen tatsächlich auf folgende Vorschriften:
§ 14 BWaldG: Betreten des Waldes
(1) Das Betreten des Waldes zum Zwecke der Erholung ist gestattet. [. . . ]
(2) Die Länder regeln die Einzelheiten. Sie können das Betreten des Waldes aus
wichtigem Grund, insbesondere des Forstschutzes, der Wald- und Wildbewirtschaftung, zum Schutz der Waldbesucher oder zur Vermeidung erheblicher Schäden oder
zur Wahrung anderer schutzwürdiger Interessen des Waldbesitzers, einschränken
[. . . ].
§ 12 WaldG des Landes L vom 1. Januar 2016: Reiten im Wald
(1) Das Reiten im Wald ist nur auf dafür ausgewiesenen und gekennzeichneten
Wegen gestattet. [. . . ]
R ist der Ansicht, dass § 12 WaldG nicht verfassungsgemäß, insbesondere mit dem Grundrecht auf ein freies, ungebundenes Reiten nicht vereinbar sei. Dass er wie jeder Andere im
Wald Erholung suche, sei doch legitim. Auch könne er sich zu Pferde nur noch eingeschränkt
im Bundesgebiet bewegen. Distanz- und Wanderritte seien praktisch ausgeschlossen, da die
Nutzung von Landes- oder Bundesstraßen aus Gründen der Verkehrssicherheit nicht zumutbar sei. Da R sich stark eingeschränkt und benachteiligt fühlt, fragt er sich, ob er durch § 12
WaldG tatsächlich in seinen Grundrechten verletzt ist.
Aufgabe: Beantworten Sie in einem Rechtsgutachten die Frage, ob eine Grundrechtsverletzung vorliegt. Bearbeitungszeitpunkt ist der 6. April 2016.
Für die Bearbeitung des Falles benötigen Sie einen Gesetzestext des Grundgesetzes. Lesen Sie die
Entscheidungen BVerfGE 6, 32–45 und BVerfGE 80, 137–170.
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Lösung
Eine Grundrechtsverletzung liegt vor, wenn ohne verfassungsrechtliche Rechtfertigung in
den Schutzbereich eines Grundrechts eingegriffen worden ist.
I. Verletzung in Art. 11 Abs. 1 GG
In Betracht kommt zunächst eine Verletzung dem Grundrecht auf Freizügigkeit aus Art. 11
Abs. 1 GG
1. Schutzbereich
Der Schutzbereich müsste eröffnet sein. In sachlicher Hinsicht meint Freizügigkeit im Sinne
von Art. 11 Abs. 1 GG nach einem weiten Verständnis das Recht, jeden Ort im Inland aufzusuchen. Der Schutzbereich umfasst aber auch dann nicht die Benutzung bestimmter Beförderungsmittel und die Bereitstellung geeigneter Wege. Der Schutzbereich ist daher nicht
eröffnet.
2. Ergebnis
R ist nicht in Art. 11 Abs. 1 GG verletzt.
II. Verletzung in Art. 2 Abs. 1 GG
In Betracht kommt eine Verletzung in der allgemeinen Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1
GG.
1. Schutzbereich
Der Schutzbereich müsste in persönlicher wie in sachlicher Hinsicht eröffnet sein.
a) Persönlicher Schutzbereich Nach dem Wortlaut gilt das Grundrecht für jeden, das
heißt jede natürliche Person, also auch für R.
Ein solches Grundrecht wird auch als Jedermannsgrundrecht oder Menschenrecht bezeichnet.
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b) Sachlicher Schutzbereich In sachlicher Hinsicht ist fraglich, was die Formulierung
„freie Entfaltung der Persönlichkeit“ bedeutet.
Nach der früher vertretenen Persönlichkeitskerntheorie ist nur die Entfaltung innerhalb eines Kernbereichs der Persönlichkeit geschützt, der das Wesen des Menschen als geistigsittliche Person ausmacht. Hier zählt das betroffene Verhalten, das Reiten, als „Luxusbetätigung“ nicht zu diesem Kernbereich. Der Schutzbereich wäre nach dieser Auslegungsvariante
nicht eröffnet.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist unter dem Grundrecht die allgemeine Handlungsfreiheit im weitesten Sinne zu verstehen, das heißt man kann
grundsätzlich tun und lassen, was man will (sehr weiter Schutzbereich, vgl. BVerfGE 6, 32
(36 ff.) – Elfes). Das Grundrecht dient insbesondere als Auffanggrundrecht zu den speziellen
Freiheitsgrundrechten. Hier fällt das Reiten zur Erholung (wie alles andere) auch darunter,
so dass der Schutzbereich nach dieser Auslegungsvariante eröffnet wäre.
Die Persönlichkeitskerntheorie lässt sich mit Schrankentrias in Art. 2 Abs. 1 GG (verfassungsmäßige Ordnung, Rechte anderer, Sittengesetz) nicht vereinbaren. Ein Verhalten in einem so engen Schutzbereich kann gegen diese Werte gar nicht verstoßen, hier wäre bereits
der absolut geschützter Bereich des Art. 1 Abs. 1 GG nahe liegend. Außerdem wurde der
Verfassungstext vom Parlamentarischen Rat nur aus stilistischen Gründen gewählt, um die
als zu volkstümlich empfundene Formulierung „Jeder kann tun und lassen, was er will.“ zu
vermeiden. Damit ist der Schutzbereich entsprechend weit zu verstehen, so dass er hier auch
eröffnet ist.
2. Eingriff
Eingriff ist jede staatliche Maßnahme, die ein in den Schutzbereich fallendes Verhalten erschwert oder unmöglich macht. Dazu gehört unter anderem jeder klassische (typische/formale)
Eingriff, das heißt jedes rechtsförmliche ge- oder verbietende (imperative) Handeln des Staates, das unmittelbar und ziel- und zweckgerichtet eine Beeinträchtigung des geschützten
Rechts bewirkt. Hier ist das Reitverbot durch das Gesetz ein solcher (klassischer) Eingriff.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der Eingriff könnte verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
Der Eingriff ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn § 12 WaldG ein Gesetz darstellt, das
der Schrankenregelung (dem Gesetzesvorbehalt) aus Art. 2 Abs. 1 GG entspricht und auch
im Übrigen verfassungsmäßig ist.
a) Schrankenregelung § 12 WaldG müsste der Schrankenregelung aus Art. 2 Abs. 1 GG
entsprechen. Art. 2 Abs. 1 GG erlaubt eine Einschränkung durch die verfassungsmäßige Ordnung, Rechte anderer und das Sittengesetz (die so genannte Schrankentrias). Die „verfassungsmäßige (Rechts-)Ordnung“ sind alle Gesetze im zumindest materiellen Sinne, die mit
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der Verfassung im Einklang stehen. Die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ ist
anders als in Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG nicht als Verfassungswert, sondern als jede Rechtsnorm, die formell und materiell verfassungsgemäß ist, zu verstehen (Relativität der Verfassungsbegriffe: je nach Kontext auszulegen). Die Weite der Einschränkungsmöglichkeiten des
weiten Schutzbereichs führt nicht zum Leerlaufen des Grundrechts, weil auch der Gesetzgeber (materiell) an Verfassungswerte als Schranken-Schranken gebunden bleibt, insbesondere
verhältnismäßig im weiteren Sinne (Art. 20 Abs. 3 GG) handeln muss (BVerfGE 6, 32 (38)).
Es handelt sich also um einen einfachen Gesetzesvorbehalt. Hier stellt § 12 WaldG ein entsprechendes (einfaches) Gesetz dar. Der Schrankenregelung ist damit entsprochen.
b) Verfassungsmäßigkeit des Schrankengesetzes
te (formell und materiell) verfassungsgemäß sein.
Die Schranke, also das Gesetz, müss-
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
(1) Gesetzgebungskompetenz des Landes L Der Bund hat vorliegend gemäß Art. 74
Abs. 1 Nr. 29 GG (§ 14 Abs. 1 S. 2 BWaldG) die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für
den Naturschutz und die Landschaftspflege, von der er auch in Form des BWaldG Gebrauch
gemacht hat. Die Länder könnten daher nach Art. 72 Abs. 1 GG von der Gesetzgebung ausgeschlossen sein. Ihnen steht jedoch nach Art. 72 Abs. 3 Nr. 2 GG eine Abweichungskompetenz
zu. Im Falle einer Abweichungskompetenz der Länder, wird der Vorrang des Bundesrechts
aufgehoben. Die materiellrechtliche Kollissionsnorm Art. 31 GG findet damit keine Anwendung. Es gilt im Verhältnis von Bundes- zu Landesrecht die lex-posterior-Regel. Das Land L
war damit für den Erlass des (abweichenden) § 12 WaldG auch gesetzgebungsbefugt.
(2) Sonstige formelle Anforderungen Ein Verstoß gegen sonstiges formelles Verfassungsrecht ist nicht ersichtlich. (Achtung: Das Bundesverfassungsgericht prüft Landesverfassungsrecht, insbesondere die dortigen Regelungen zum Gesetzgebungsverfahren nicht.)
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit Das Gesetz müsste weiterhin, gemessen an den
Schranken-Schranken, auch materiell verfassungsmäßig sein.
Hinweis: Es erfolgt keine erneute Grundrechtsprüfung (Schutzbereich, Eingriff, Rechtfertigung),
so käme es zu einem infiniten Regress.
(1) Bestimmtheitsgebot, Art. 20 Abs. 3 GG
hinreichend bestimmt ist.
Hier nicht ersichtlich, dass die Norm nicht
(2) Zitiergebot, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG, hier nicht erforderlich Das Zitiergebot gilt
nicht für das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.
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(3) Wesensgehalt, Art. 19 Abs. 2 GG
rantie ersichtlich.
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Hier ist kein Verstoß gegen die Wesensgehaltsga-
(4) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Das Gesetz müsste schließlich verhältnismäßig sein. Dies ist der Fall, wenn es einem legitimen Zweck dient und ein geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel darstellt.
(a) Legitimer öffentlicher Zweck Zweck des Gesetzes ist der Naturschutz (Erhaltung
des durch bodenauflockernde Hufbewegungen gefährdeten Waldbodens; Ermöglichung der
Einrichtung von Wildruhezonen) sowie der Personenschutz (Erhaltung der Waldwege in einem auch für andere Nutzer und die Waldeigentümer geeigneten Zustand; Bewahrung der
anderen Waldbenutzer, vor allem der Wanderer, Pilzesucher und Forstbediensteten, vor Gefahren durch Huftritte oder Ausschlagen der ihnen begegnenden Pferde) durch „Trennung
des Erholungsverkehrs“. Insoweit werden auch die „Rechte anderer“ aus Art 2 Abs. 1 GG zur
Geltung gebracht. Die Verfolgung dieser Zwecke ist für sich gesehen legitim.
(b) Geeignetheit Das Gesetz müsste geeignet sein, das heißt, das Gesetz muss den Zweck
zumindest fördern. Hier werden durch die Einrichtung gesonderter Reitwege Wildstörungen
minimiert, sowie Begegnungen zwischen Reitern und Wanderern etc. vermieden. Auch ist
eine dem Reitverkehr angepasste Untergrundausstattung dieser speziellen Wege möglich.
Das Gesetz fördert die oben genannten Zwecke und ist damit auch geeignet.
(c) Erforderlichkeit (Notwendigkeit) Das Gesetz müsste auch erforderlich sein, das
heißt, es dürfte kein milderes, gleich geeignetes Mittel ersichtlich sein. Denkbar wäre etwa
eine zeitliche Differenzierung der Waldbenutzung oder Einrichtung von speziellen Wanderwegen. Damit würden die oben genannten Zwecke jedoch auch mit Blick auf die Freiheit der
Wanderer nicht gleichermaßen gefördert. Unter Berücksichtigung des insoweit bestehenden
Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers ist das Gesetz damit auch erforderlich.
(d) Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) Schließlich müsste das
Gesetz auch angemessen sein. Dies setzt eine ausgewogene Zweck-Mittel-Relation voraus.
Dass heißt, die Erreichung des Ziels darf zu den Folgen des Eingriffs nicht außer Verhältnis
stehen. Dazu ist eine Abwägung der widerstreitenden Belange erforderlich. Hier stehen sich
die Interessen der Allgemeinheit (Natur-/Wildschutz) und die Interessen der (vielen) anderen Waldbenutzer an ungestörter Erholung (Art. 2 Abs. 1 GG) einerseits und das Interesse
der Reiter an freier Wahl ihrer Reitwege (Freizeitgenuss), Art. 2 Abs. 1 GG, andererseits gegenüber. Auf der einen Seite ist ein umfassender Schutz erreichbar, auf der anderen Seite
stehen nur geringe Einschränkungen. Die Einrichtung von speziellen Wanderwegen würde im Vergleich zu einer deutlich stärkeren Belastung der größeren Gruppe der Wanderer
führen. Es handelt sich um einen dem Gesetzgeber aufgetragenen Interessenausgleich. Hier
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sind die konkurrierende Nutzungsansprüche in einer den Interessen aller Beteiligten gerecht
werdenden Weise geordnet worden. Die Beschränkung ist damit angemessen.
(e) Ergebnis Die Regelung ist verhältnismäßig.
(5) Ergebnis Das Gesetz ist materiell verfassungsmäßig.
cc) Ergebnis Das Gesetz ist verfassungsmäßig.
c) Ergebnis Der Eingriff ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt.
4. Ergebnis
Eine Verletzung in dem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG liegt nicht vor.
III. Ergebnis
R wird durch § 12 WaldG nicht in seinen Grundrechten verletzt.
Erzeugt mit LATEX und KOMA - Script.
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Lösungsübersicht
I.
Verletzung in Art. 11 Abs. 1 GG
1. Schutzbereich
2. Ergebnis
II. Verletzung in Art. 2 Abs. 1 GG
1. Schutzbereich
a) Persönlicher Schutzbereich
b) Sachlicher Schutzbereich
2. Eingriff
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
a) Schrankenregelung
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b) Verfassungsmäßigkeit des Schrankengesetzes
aa) Formelle Verfassungsmäßigkeit
(1) Gesetzgebungskompetenz des
Landes L
(2) Sonstige formelle Anforderungen
bb) Materielle Verfassungsmäßigkeit
(1) Bestimmtheitsgebot, Art. 20 Abs. 3 GG
(2) Zitiergebot, Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG,
hier nicht erforderlich
(3) Wesensgehalt, Art. 19 Abs. 2 GG
(4) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
(a) Legitimer öffentlicher Zweck
(b) Geeignetheit
(c) Erforderlichkeit (Notwendigkeit)
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(d) Angemessenheit
(Verhältnismäßigkeit im
engeren Sinne)
(e) Ergebnis
(5) Ergebnis
cc) Ergebnis
c) Ergebnis
4. Ergebnis
III. Ergebnis
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