5. Besprechungsfall

Professor Dr. Christian Koenig, LL.M.
Zentrum für Europäische Integrationsforschung
Übungen im Öffentlichen Recht
Sommersemester 2015
5. Besprechungsfall, 09.07.2015
„
Die Kickers“
Im Jahr 2015 kommt es in mehreren deutschen Großstädten immer wieder zu schweren
Auseinandersetzungen in Fußballstadien. Dabei werden Zuschauer zum Teil schwer durch
Randalierer verletzt sowie einige Fußballspieler und Schiedsrichter angegriffen.
Um ähnliche Vorfälle im örtlichen Stadion zu verhindern, setzt der zuständige
Polizeipräsident im Fußballstadion der nordrhein-westfälischen Stadt A beim nächsten
Heimspiel des Fußballvereins „Kickers e.V.“ am 06.06.2015 eine Hundertschaft von
Polizisten ein. Die Polizisten durchsuchen an den Eingängen des Stadions Besucher, die
ihnen auffällig vorkommen, vor allem jüngere Fußballfans. Ziel der Durchsuchungen ist es,
Waffen und ähnlich gefährliche Gegenstände sicherzustellen. Bei den Kontrollen werden
tatsächlich derartige Gegenstände in größerer Zahl gefunden und sichergestellt.
Das Heimspiel seines Fußballvereins besuchte auch der X. Am Stadioneingang wurde er
von einem Polizisten durchsucht. Er erwägt eine Woche später die Erhebung einer
verwaltungsgerichtlichen Klage. Das gleiche gilt für Besucher Y. Dieser ist ebenfalls
durchsucht worden. Durchgeführt wurde die Durchsuchung jedoch nicht von einem
Polizisten, sondern von Ordnern des Fußballvereins.
Sowohl X als auch Y besuchen regelmäßig alle Heimspiele ihres Vereins und halten ihre
Durchsuchungen für rechtswidrig. Verdächtige Gegenstände wurden bei ihnen nicht
gefunden.
Bearbeitervermerk: Prüfen Sie umfassend die Erfolgsaussichten der Klagen.
Anmerkungen:
Lesenswert zum Fortsetzungsfeststellungsinteresse:
•
BVerwG, NVwZ 2013, 1481.
•
Lindner, Die Kompensationsfunktion der
Fortsetzungsfeststellungsklage nach § 113 I 4 VwGO, NVwZ
2014, 180 ff.
•
Pietzcker in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 43, Rn. 46 ff.
Problemschwerpunkte:
• Fortsetzungsetzungsfeststellungsklage / -interesse
• Durchsuchungen der Polizei
• Öffentlich-rechtliches Handeln durch Privatpersonen
Klage des X
Die Klage hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges
1. keine aufdrängende Sonderzuweisung
2. § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO:
a) Öffentlich-rechtliche Streitigkeit?
Streitgegenstand: § 39 I PolG NRW oder § 102 ff. StPO, die
Hoheitsträger befugen oder verpflichten (+)
b) Nicht verfassungsrechtlicher Art (+)
c) aufdrängende Sonderzuweisung § 23 EGGVG?
(P) präventive oder repressive Tätigkeit der Polizei ?
Hier: Schwerpunkt der Maßnahme Gefahrenabwehr, also präventiv, d. h.
§ 23 EGGVG (-)
Der Verwaltungsrechtsweg ist somit eröffnet.
II. Statthafte Klageart
1. Anfechtungsklage, § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO?
a) Verwaltungsakt i. S. d. § 35 I S. 1 VwVfG NRW
(+), da der Realakt der Durchsuchung eine konkludente Duldungsverfügung
enthält
b) Noch nicht erledigt?
Hier: Erledigung durch Zeitablauf
2. Fortsetzungsfeststellungsklage, § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO
Voraussetzungen
Klageerhebung.
für
direkte
Anwendung
Erledigung
nach
(P): Der VA hat sich hier bereits vor Klageerhebung erledigt.
§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog?
Da es regelmäßig vom Zufall abhängt, ob sich das Klägerbegehren vor
oder nach Klageerhebung erledigt, hiervon aber nicht die Statthaftigkeit des
Rechtsbehelfs abhängig gemacht werden soll, kommt in diesen Fällen
§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog in Betracht.
Eine Analogie ist aber nur zulässig, wenn tatsächlich eine planwidrige
Regelungslücke besteht. Ob in der vorliegenden Konstellation § 113
Abs. 1 S. 4 VwGO analog oder § 43 Abs. 1 VwGO heranzuziehen ist, ist
umstritten.
aA: Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO (+)
Rechtsschutzziel: Feststellung, dass eine Durchsuchung des X nicht
erfolgen durfte.
Argumente:
Die Berechtigung der Polizei, den X zu durchsuchen, stellt ein zwar
erledigtes, aber feststellungsfähiges Rechtsverhältnis dar.
Aus dem Wortlaut des § 43 Abs. 2 VwGO, „hätte verfolgen können“, folgt
lediglich, dass der Kläger vor Erledigung des VA fristgerecht Anfechtungsoder Verpflichtungsklage erheben muss. Sinn der Subsidiarität sei es, die
Umgehung der strengen Sachurteilsvoraussetzungen der anderen
Klagearten zu verhindern. Bei vorprozessualer Erledigung des VA innerhalb
der Frist, bestehe diese Umgehungsgefahr nicht mehr. Die
Feststellungsklage sei daher nicht subsidiär.
Zweite (und herrschende) Ansicht: Fortsetzungsfeststellungsklage nach
§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog
Argumente:
Die Durchsuchung beruht auf einer (im Realhandeln enthaltenen)
Duldungsverfügung und stellt kein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis dar.
Aus der Formulierung des § 43 Abs. 2 VwGO, „hätte verfolgen können“
ergebe
sich,
dass
die
Feststellungsklage
auch
subsidiär
bei
Erledigungssituationen sei, denn vor Erledigung des Verwaltungsakts hätte
der Kläger schließlich Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage erheben
müssen.
Streitentscheid: Es ist der zuletzt genannten Ansicht Vorzug zu geben. Gegen
die Anwendung von § 43 Abs. 1 VwGO spricht, dass es dann vom Zufall
(Erledigungszeitpunkt) abhängen würde, ob die Feststellungsklage oder die FFK
statthaft ist. Dies führt zu System- und Wertungswidersprüchen:
•
Feststellungsinteresse bei § 43 Abs. 1 VwGO ist wesentlich weiter, als das
Fortsetzungsfeststellungsinteresse bei § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO, wo nur
bestimmte Fallgruppen anerkannt sind.
•
Es bestehen Unterschiede hinsichtlich Tenor und Rechtskraft eines Urteils, da bei
der FFK sehr präzise die Feststellung getroffen wird, dass der konkrete VA, bzw.
das konkrete Unterlassen rechtswidrig war, was bei der allgemeinen
Feststellungsklage nicht zwingend erfolgen muss.
Daher ist die Fortsetzungsfeststellungsklage analog (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO
analog) die richtige Klageart.
III. Sachurteilsvoraussetzungen der hypothetischen Eingangsklage; AFK:
1. Klagebefugnis, § 42 Abs. 2 VwGO analog (+) (Adressatentheorie, Art. 2 I GG)
2. Vorverfahren, §§ 68 ff. VwGO analog?
Nach h. M. unstatthaft, wenn Erledigung innerhalb der Widerspruchsfrist; hier (+),
da Erledigung unmittelbar nach Durchsuchung eingetreten. Zudem nach § 110
Abs. 1 S. 1 JustG NRW bei Anfechtungsklage entbehrlich.
3. Klagefrist, § 74 Abs. 1 VwGO analog? Grds. Keine Anwendung der
Fristvorschriften der Anfechtungsklage bei der FFK. ABER: VA darf noch nicht
bestandskräftig geworden sein (-)
4. Richtiger Beklagter, gem. § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist der Rechtsträger, deren
Behörde den VA erlassen hat, hier das Land Nordrhein-Westfalen.
5. Beteiligten-/Prozessfähigkeit, §§ 61, 62 VwGO (+)
6. ordnungsgemäße Klageerhebung beim zuständigem Gericht, §§ 81, 82
VwGO (Form), §§ 45 ff. VwGO (sachliche Zuständigkeit), §§ 52 f. VwGO
IV. Fortsetzungsfeststellungsinteresse nach § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO?
Von Rspr. entwickelte Fallgruppen:
• Wiederholungsgefahr
• Rehabilitationsinteresse
• Präjudizität
(Vorbereitung eines Amtshaftungs- oder Schadensersatzprozesses; nicht bei
Erledigung vor Klageerhebung, dann unmittelbar vor Zivilgerichten)
• „Tiefgreifende Grundrechtsverletzung“
BVerwG: Nicht aus jedem tiefgreifenden Grundrechteingriff folgt FF-Interesse
Lit.: Kritik
Rspr. verkenne Kompensationsfunktion der FFK, Art 19 IV GG
Hier:
•
Präjudizinteresse / Amtshaftungsansprüche (-), nicht bei Erledigung
vor Klageerhebung (keine Verdopplung des Rechtswegs!).
•
Rehabilitationsinteresse (-), keine Anhaltspunkte für diskriminierende
Vorgehensweise.
•
Wiederholungsgefahr (+), da X regelmäßig Heimspiele besucht.
•
Grundrechtseingriff (+)/ (-), wenn mit Hinblick auf die typischerweise
kurzfristige Erledigung polizeirechtlicher Maßnahmen argumentiert wird.
V. Ergebnis: Die Klage des X ist zulässig.
B. Begründetheit
Die
Klage
ist
begründet,
soweit
die
an
X
gerichtete
Durchsuchungsduldungsverfügung rechtswidrig war und X dadurch in
seinen Rechten verletzt wurde.
I. Ermächtigungsgrundlage: § 39 I PolG NRW
II. Formelle Rechtmäßigkeit
1. Zuständigkeit
a) Sachliche Zuständigkeit der Polizei folgt aus § 1 Abs. 1 S. 3 PolG NRW i. V. m.
§ 10 POG NRW.
b) Örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 7 POG NRW.
2. Verfahren
Anhörung nach den Umständen nicht geboten, § 28 Abs. 2 VwVfG NRW.
3. Ergebnis → VA formell rechtmäßig.
III. Materielle Rechtmäßigkeit
1. Tatbestandsvoraussetzungen
Hier: § 39 Abs. 1 Nr. 5 i. V. m § 12 Abs.1 Nr. 3 PolG NRW
(+), da Stadion ein besonders gefährdetes Objekt darstellt.
2. Ordnungsgemäßer Adressat
Nach § 39 i. V. m §§ 4 Abs. 4, 5 Abs. 4, 6 Abs. 3 Störereigenschaft nicht
erforderlich.
3. Rechtsfolgen: Ermessen / Verhältnismäßigkeit
In Anbetracht des hohen Schutzgutes von Leib und Leben der nichtgewaltbereiten
Zuschauer kann sogar auch die Durchsuchung von potentiellen Transporteuren
gerechtfertigt werden. Selbst das Entkleiden der Fans sei prinzipiell zulässig,
jedoch muss die Polizei dabei genau auf die Einhaltung des Grundsatzes der
Verhältnismäßigkeit achten.
Hier: X wurde lediglich durchsucht, was vorliegend keinerlei schwerwiegende
Verletzung der Intimsphäre darstellt. In Anbetracht der Vorkommnisse und Funde
war dies somit keine unverhältnismäßige Maßnahme.
4. Ergebnis: Die Durchsuchung des X war materiell rechtmäßig.
C. Ergebnis: Die Klage des X ist zulässig, aber unbegründet.
Klage des Y
Die Klage hat Erfolg, wenn sie zulässig und begründet ist.
A. Zulässigkeit
I. Eröffnung des Verwaltungsrechtsweges
Keine aufdrängende Sonderzuweisung (-)
§ 40 Abs. 1 S. 1 VwGO:
1. Öffentlich-rechtliche Streitigkeit?
Streitgegenstand: Normen, die Hoheitsträger befugen oder verpflichten?
(P) Vereinsordner aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften hoheitlich tätig?
a) Beliehene?
= Natürliche oder juristische Personen des Privatrechts, die öffentliche Aufgaben
im Auftrag des Staates im eigenen Namen erfüllen und zu diesem Zweck durch
einen besonderen Akt mit hoheitlicher Gewalt ausgestattet werden.
Beleihung kann nur aufgrund einer ausdrücklichen gesetzlichen Ermächtigung
oder durch Gesetz erfolgen.
Hier: (-)
b) Verwaltungshelfer?
= Natürliche oder juristische Personen des Privatrechts, die im Einzelfall als Private
für die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben in Dienst genommen werden, ohne
dass sie dabei nach außen selbständig auftreten.
Hier: Einsatz der Ordner ausschließlich durch den Verein. (-)
. Ordner nicht aufgrund hoheitlicher Kompetenzen tätig.
2. Zwischenergebnis: öffentlich-rechtliche Streitigkeit (-)
II. Ergebnis: Die Klage des Y ist unzulässig
B. Ergebnis: Mangels Zulässigkeit der Klage, hat diese keinen Erfolg.
Professor Dr. Christian Koenig, LL.M.
Zentrum für Europäische Integrationsforschung
Professor Dr. iur. Christian Koenig, LL.M. (LSE)
Geschäftsführender Direktor
Zentrum für Europäische Integrationsforschung
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