Joh 20,19-31 oder Der gute Hirte

Predigt: Johannes 20,19-31
In Johannes 10 sagt Jesus:
„Meine Schafe hören auf meine Stimme. Ich kenne sie und sie folgen mir. Ich gebe
ihnen das ewige Leben.
Sie werden in Ewigkeit nicht verloren gehen
Und niemand kann sie mir aus den Händen reißen.
Mein Vater, der sie mir anvertraut hat, ist mächtiger als alle.
Niemand kann etwas aus seinen Händen reißen.
Ich und der Vater sind untrennbar eins.“
Es kann verhängnisvoll sein, auf die falsche Stimme zu hören. Auf die Stimme eines
Menschen, dem du eigentlich ganz egal bist, der dich verachtet, auch wenn er
vorgibt, dass du ihm wichtig bist.
Es gibt sehr ungute Beziehungen.
Der eine übt über den anderen Macht und Kontrolle aus. Und der andere macht sich
ganz unmerklich immer mehr von den Worten des anderen abhängig.
Gewalt und Misshandlungen verlaufen typischerweise nach einem Muster:
Auftretende Spannungen werden dadurch gelöst, dass sich der eine dem anderen
unterordnet, klein beigibt.
An die Stelle von Beleidigungen tritt die Androhung oder tatsächliche Ausübung von
körperlicher Gewalt.
Danach entschuldigt sich der Misshandelnde, verspricht, dass so etwas nie wieder
vorkommt, beteuert, dass es ihm leid tut.
Dann kommt die nächste Spannung, die nächste Eskalation und so weiter.
Durch ständige Kritik rutscht das Selbstwertgefühl des Opfers in den Keller.
Es glaubt den Worten des Peinigers und wird so von ihm kontrolliert.
Wenn einer immer wieder zu dir sagt: „Du bist dumm“, und du glaubst es
irgendwann, oder „Du bist hässlich“, „Du hast einen schlechten Charakter“ und so
weiter.
Wenn du etwas, was er will, nicht willst, gibt er dir das Gefühl, etwas falsch zu
machen und du fühlst dich schuldig.
Bei einer Meinungsverschiedenheit gelingt es ihm, dir das Gefühl zu vermitteln, dass
du die falsche Meinung hast. Schuldgefühle sind das wirksamste Werkzeug, um sich
die Kontrolle über jemanden zu sichern.
Für den Täter ist das Opfer schuld.
So manche Beziehung zwischen Herrschenden und dem Volk weist ähnliche
Strukturen auf:
Das Volk macht sich abhängig, erwartetet Fürsorge und Leitung.
Ein funktionierendes Gesundheitssystem,
Unterstützung für Kranke und Alte.
Aber dem Herrschenden geht es gar nicht um die Menschen.
Er fühlt sich nicht verantwortlich.
Er sorgt dafür, dass er und seine Familie viel Geld zur Seite schaffen, seine
Verwandten die besten Posten erhalten und bevor man ihn zur Rechenschaft ziehen
kann, macht er sich aus dem Staub. So nicht unlängst beispielsweise in der Ukraine
passiert.
Der Prophet Hesekiel wirft den Herrschenden seines Landes Versagen vor.
Die Elite hat es versäumt, Verantwortung für das Wohlergehen der anderen aus sich
zu nehmen, sondern sich stattdessen selbst die Taschen gefüllt. Hesekiel ist wie
viele andere überzeugt, dass Israel nur deshalb erobert werden konnte, weil die
Herrschenden es versäumt hatten, sich ernsthaft um das Volk zu kümmern, das
ihnen anvertraut war. „da ist niemand, der nach ihnen fragt, und niemand, der sie
sucht.“ Niemand fühlt sich mehr für das zerstreute Volk zuständig, dass im Exil
hausen muss, nachdem das eigene Land von den Babyloniern erobert wurde. Kaum
war kein Profit mehr zu machen, kein besonderer Posten mehr in Sicht – waren auch
die Leute egal.
Vor einer solchen Beziehung warnt uns dieser Text. Hört nicht auf die Stimme von
Menschen, denen ihr eigentlich ganz egal seid!
Hört stattdessen auf die Stimme dessen, der euch wirklich liebt und der es wirklich
gut mit euch meint, auf die Stimme Gottes, der euch geschaffen hat.
Der Vergleich mit einem Schaf schmeichelt uns nicht sonderlich. Und doch steckt in
ihm einiges drin.
Wir Menschen verhalten uns auch ganz gerne wie Herdentiere. Suchen eine nette,
symphatische Herde, in der wir uns wohl fühlen.
Diese Herde ist uns so viel wert, dass wir dafür auch gerne einem Anführer folgen,
der sagt, wo es lang gehen soll.
Manchmal gehen wir eine Missbrauchbeziehung nur ein, um nicht allein zu sein.
Zuneigung und Gesellschaft ist uns so wichtig, dass wir falsche Zuneigung, die uns
gefährlich wird, der Leere vorziehen, in der wir meinen, gar nicht geliebt zu werden.
Die Illusion geliebt zu werden ist uns immer noch lieber als gar keine Liebe zu
spüren.
Es kann verhängnisvoll sein, auf die falsche Stimme zu hören.
Irgendwann müssen wir uns von dieser falschen Stimme trennen. Dann erkennen
wir, dass es dem Hirten nicht um uns ging, sondern darum, über uns zu herrschen
und uns zu manipulieren, uns zu benutzen und auszubeuten.
Und wir fühlen uns ausgelaugt und viel, viel leerer als wir uns vor dieser Beziehung
leer gefühlt haben.
Jesus weist auf den Unterschied hin: Es gibt Hirten, die sich gut kümmern um ihre
Schafe. Sie kennen ihre Schafe beim Namen, jedes Einzelne ist von Bedeutung.
Und es gibt Hirten, denen ihre Schafe ganz unwichtig sind, denen es nur um ihren
eigenen Vorteil geht.
Er nennt sie „Diebe und Räuber“, denen es nur um den Lohn geht, die Schafe aber
sind ihnen gleichgültig.
Sie genießen die Milch, mit der Wolle kleiden sie sich, die Schafe schlachten sie.
Sie herrschen mit „Härte und Gewalt“.
Es ist verhängnisvoll, einem solchen Hirten zu folgen.
Es ist verhängnisvoll jemandem dein Leben anzuvertrauen, dem dein Leben egal ist,
der nur Kontrolle über dich will, der herrschen will über dich.
Dem Hirten, von dem Jesus spricht, ist ein einziges Schaf so wichtig, dass er, um
dieses Schaf zu verteidigen, um das Leben dieses Schafes zu retten, das Risiko
eingeht, selbst vom Wolf getötet zu werden.
Daran wird deutlich, dass es sich hier um einen besonderen Hirten handelt.
Dieser Hirte will, dass jedes Schaf ein „Leben in ganzer Fülle“ genießen kann.
Es geht ihm nicht um die Wolle, das Fleisch, die Milch.
Es geht ihm darum, dass das Schaf sich an seinem Dasein freuen kann.
Es geht ihm darum, dass das Schaf sich seiner Würde bewusst ist, dass es begreift,
dass es wertvoll ist, ganz unabhängig von seiner Milch und Wolle.
Über den Menschen, der das begriffen hat, kann kein anderer mehr echte Macht
ausüben.
Der Täter raubt dem Opfer das Gefühl für die eigene Würde. Wer kein Gefühl für die
eigene Würde hat, wird immer wieder Opfer.
Jesus macht uns keine Schuldgefühle, damit er Kontrolle über uns hätte.
Religion wurde leider oft gerade dazu missbraucht, Menschen zu manipulieren, zu
kontrollieren und sie klein zu halten, indem man ihnen Schuldgefühle einredete.
Das ist nicht christlich.
Jesus nimmt uns unsere Schuld, damit wir frei sind.
Er will gerade nicht, dass wir uns beständig schuldig fühlen und deshalb tun, was er
uns sagt.
Sondern er verspricht in Johannes, dass er gekommen ist, um ein Leben „in ganzer
Fülle.“ zu bringen.
Die Schafe sollen „gute Weide finden“, deshalb folgen sie ihm aus freien Stücken.
Er will nicht über sie herrschen – er will, dass sie seiner Stimme freiwillig gehorchen,
weil sie wissen, dass das gut für sie ist.
Er stärkt die Schwachen mit ihrem niedrigen Selbstwertgefühl, er heilt die
Verletzungen, die Narben vergangener Beziehungen, er sucht uns auf, wenn wir die
falschen Beziehungen eingehen, die uns kaputt machen, wenn in der Gefahr stehen,
uns selbst zu verlieren und er rettet uns daraus.
Der Gott Moses ist und bleibt ein Gott der Befreiung,
der uns hinausführt und befreit von allem, was uns unfrei macht. Amen.