1 Sonntag Misericordias 2015 Jesus spricht: Ich bin der gute Hirte Predigt über Johannes 10, 1-18 Liebe Gemeinde, ich möchte Sie heute Morgen mitnehmen in den Mittleren Osten, in ein Dorf, irgendwo in Jordanien oder Israel, in eine Zeit und Kultur, wie sie bis Mitte des 20. Jahrhunderts bestand. Eine Familie braucht etwa 6 Schafe für Wolle im Winter, bei den Juden auch für das Passahlamm. Diese Schafe kommen zusammen mit den anderen Tieren, Kuh und Esel, im Haus unter. Wer mehr Schafe hat, richtet in der Nähe des Hauses eine Pferch ein. Da verbringen die Schafe die Nacht, umgeben von einer Mauer, auf der Dornen auslegt sind, damit die Diebe nicht so einfach einsteigen und Schafe stehlen können. Denn Diebe, die in Banden auftreten, bilden die größte Gefahr. Sie steigen in der Nacht über die Mauer und stehlen Schafe. Meist tun sich einige Familien zusammen und bestimmen einen Burschen oder zwei Mädchen als Hirten für ihre Schafe. Am Morgen kommt der Hirte zum Haus, klopft und ruft den Namen der Familie. Ihm wird die Tür geöffnet. Nun kann er die Schafe auf die Gasse vor das Haus rufen. Er tut das mit einem speziellen Ruf. Jeder Hirt hat seinen eigenen Ruf und die Schafe erkennen ihn an seiner Stimme. So geht er von Haus zu Haus, zu jeder Familie, deren Schafe er hüten soll. Er ist nicht der einzige Hirte im Dorf. Mehrere Hirten sind unterwegs im gleichen Auftrag. Aber die Schafe kennen die Stimme ihres jeweiligen Hirten und folgen ihm. Hat er alle ihm anvertrauten Schafe zusammen, geht er ihnen voran zum Dorf hinaus, an den anderen Herden und Hirten vorbei. Das ist kein Problem. Es gibt kein Durcheinander, denn die Schafe kennen seine Stimme und sie folgen ihm. Sie hören nicht auf die Stimmen eines anderen Hirten. Was aber ist mit einem neuen Schaf, das die Stimme seines Hirten noch nicht kennt? Das hat es zunächst schwer. Es muss die Stimme erst noch kennenlernen. Es springt irritiert umher und braucht Hilfe, besondere Zuwendung des Hirten. Aber nach einiger Zeit kennt es seine Stimme und wird ruhig. Übrigens: Die landläufige Meinung, laut der Schafe dumm und einfallslos seien, ist nichts als ein dürrer Mythos. Wer weiß, dass sich Schafe über 50 Gesichter von Artgenossen merken können, sogar über 2 Jahre lang? Oder dass bereits Lämmer unterscheiden lernen, welche pflanzlichen Futterbestandteile gut tun oder welche Heilkräuter sie als Medizin gegen die Auswirkungen ungenießbarer Pflanzen einnehmen müssen. Aber nun genug der Schafs-Kunde. Wie es so zu und hergeht an einem Morgen in einem Dorf, hat Jesus selbst erlebt seit Kindesbeinen. Nun erzählt er das alles als Gleichnis, als Bildrede. Was ist seine Botschaft? Zu dieser ersten Strophe (V. 1-6) (man kann diesen ganzen Abschnitt tatsächlich als Strophen ansehen!) drei Gedanken: 1. Der Hirte ruft seine Schafe mit Namen. Tatsächlich geben manche Hirten einigen wenigen Schafen Namen. Jesus dehnt die Namensgebung des Hirten auf alle Schafe aus. Der Hirte ruft alle beim Namen. Wir sollen hören: Auch die Schafe, die gering sind, nicht speziell, sollen wissen: Er kennt mich mit Namen. Keiner soll denken: ich bin ihm nicht wichtig genug. Er hat nicht einmal einen Namen für mich. Im Gegenteil: Er kennt mich. Er ruft mich beim Namen! Hier nimmt Jesus bereits etwas vorweg, Pfr. Jürg Buchegger, Frauenfeld. 052 720 62 73; [email protected] 2 das er in Vers 14 dann noch einmal deutlich hervor streicht: Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne. Er ruft sie beim Namen und sie folgen ihm. Beides gehört zusammen und muss zusammen kommen. Ja, Gott ruft uns beim Namen. Er ruft wirklich. Er spricht uns an. Sein Wort ergeht an uns. Aber sein Ruf bleibt vergeblich, wenn wir nicht hören und folgen. Selbstverständlich ist es entscheidend, was Gott tut. Das geht allem voraus. Er ruft uns. Nun kommt es auf unsere Antwort an, unsere freie Antwort auf seinen Ruf. 2. Die Stimme. Immer wieder spricht Jesus davon: sie hören auf seine Stimme – sie kennen seine Stimme. Sie hören nicht auf die Stimme der Fremden. Ulrich Zwingli definiert die Kirche anhand dieser Worte von Jesus: „Welch ist Christi Kilch?“ Antwort: „Die sin Wort hört.“ An anderer Stelle: „Das ist die christenliche Kilch, die Gottes Wort einigen loset, und sich das allein füren und wissen lasst, als Christus Joh. 10 eigentlich lehrt under dem Gleichnis des Hirten und der Schafe...“. Die Kirche, das sind alle Christen, hört nicht auf die Stimme eines Fremden. Sie hört auf Jesus. Damals zur Zeit, als Jesus dies sagte, meinte er wohl mit den „Fremden“ die religiösen Gruppierungen seiner Zeit: die Pharisäer, die Sadduzäer, die Zeloten, alle diejenigen, die von sich sagten, sie seien der erwartete Messias. Diese bezeichnet Jesus als „die Fremden“. Deren Worte kommen attraktiv daher. Ihre Ansichten sind logisch, sogar fromm. Was sie sagen, steht auf der Höhe der Zeit und dennoch, sagt Jesus: Seine Schafe hören auf seine Stimme und nicht auf die Stimme der Fremden. Die Kirche ist eine Hörgemeinschaft. Zusammen sollen wir auf das biblische Wort hören. Dann erfahren wir, dass Gott sich selbst in solchem Hören und durch solches Hören einmischt in unser Leben, in unsere Kirche: Sie aufbaut und führt und korrigiert. Lassen wir das zu? Suchen wir die Stimme des guten Hirten kennen zu lernen? „Christi Kilch“ – das sind alle, die zur Gemeinde gehören. Da darf es keine Vorherrschaft der Theologen geben über das „gemeine Volk“ geben. Vielmehr haben die Theologen zum Hören zu helfen, zum Hören anzuleiten. Das ist wichtig für die Kirche und es wichtig für uns, wenn wir Christen sein wollen: Tag für Tag bewusst auf seine Stimme hören und sie unterscheiden lernen von den vielen lauten Stimmen in und um uns, die unsere Aufmerksamkeit und unsere Loyalität wollen. Die Seminar-Reihe zur Bibel, die am nächsten Mittwoch beginnt, soll eben dazu Mut machen, auf Gottes Wort, auf seine Stimme zu hören. Wir sollen das jeden Tag tun, in dem wir in der Bibel lesen, beten, hören und um die Gabe beten, seine Stimme von den anderen Stimmen unterscheiden zu können. 3. Der Hirte führt sie hinaus. Er geht voran. Er treibt sie nicht vor sich her. Überhaupt: der Hirte braucht den Stecken nicht, um die Schafe zu schlagen, sondern um die wilden Tieren abzuwehren. Ich frage Sie: Was für eine Bild von Gott tragen Sie in sich? Ist es das Bild eines Treibers; glauben Sie, dass er Sie vor sich hertreibt: Hopp, hopp. Mach dies und mach jenes, dann bist du mir recht! Zinzendorf hat wohl dieses Wort vor Augen gehabt, als er dichtete: „Jesu, geh voran, auf der Lebensbahn.“ Ja, das darfst du wissen: Jesus geht voran! Er weiß den Weg. Er geht voran auf den schwierigen Wegstrecken (auch die werden im Lied 690 angesprochen), gerade auf den Wegstrecken, die jetzt vor dir liegen. Zur zweiten Strophe: V. 7-10. Nun ist der Hirte mit seiner Herde unterwegs auf dem Feld, in der Steppe, auf der Suche nach guten Weidegründen und nach frischem Wasser. Zu manchen Jahreszeiten ist er lange unterwegs, bis er für seine Herde Pfr. Jürg Buchegger, Frauenfeld. 052 720 62 73; [email protected] 3 noch einen Weideplatz findet. Hat er einen gefunden, lohnt es sich nicht, am gleichen Tag auch wieder ins Dort zurückzukehren. Die Schafe brauchen Sicherheit in der Nacht. Entweder hat er einen Hund, der wacht oder er treibt seine Schafe in eine der improvisierten Koppel, welche die Hirten draußen aufbauen. Heute benutzt der Hirt diese mobilen Zäune, die er von Ort zu Ort in Rollen mitnehmen kann. Damals haben Hirten Mauern errichtet und ihrer Schafe dahinter versammelt. Der Hirte bildet die Tür. Vor der Mauer brennt ein Feuer, um die wilden Tiere abzuhalten. Auch hier droht Gefahr von Dieben und Räubern, die Schafe stehlen, schlachten, vernichten oder von wilden Tieren. Man hat im Mittleren Osten noch im 19. Jahrhundert Wölfe, Bären, Leoparden, Panter, Löwen gekannt. Der Hirt muss aufmerksam sein. In der zweiten Strophe wechselt die Stimmung. Jetzt spricht Jesus von sich selbst: „Ich bin die Tür – wer durch mich hineingeht – ich bin gekommen, damit sie das Leben in Fülle haben.“ Tod und Leben stehen sich gegenüber. Die Diebe und Räuber bringen Tod. Jesus nimmt hier Bezug auf solche, die sich als Hirten ausgeben, aber die ihnen anvertrauten Menschen ausbeuten, in die Irre führen, sich von ihnen aushalten lassen und sie umbringen. (Ezechiel 34/ Jeremia 23) Es sind jene Polit-Führer und Sektenführer, denen nichts an den Menschen liegt, sondern nur an sich selbst – und die Zulauf haben. Das war immer so bis heute! Jesus verheißt Fülle und Freiheit: Wer durch mich eingeht, wird Weide finden. Er wird ein und ausgehen. Der gute Hirte sperrt uns nicht in einen Käfig ein, wo wir zwar sicher sind, aber dafür gefangen. Er gibt vielmehr eine große Freiheit, Eingang und Ausgang vor ihm – wobei gewiss zu erinnern ist, dass damit nicht jene modernistische Freiheit gemeint ist (in der man tut, was man will und wozu man Lust hat), sondern immer ein Leben mit Jesus, ein Hören auf ihn und das nicht aus einer Angst heraus, sondern weil wir zutiefst vertrauen: Jesus schenkt uns das Leben in Fülle. Wir finden die Fülle bei ihm. Wir wollen nicht mehr der Stimme der Schlange verfallen, die den ersten Menschen sagte: Ihr werdet nicht sterben. Wenn ihr von diesem Baum esst, dann werdet ihr sein wie Gott. Wir hören auf die Stimme von Jesus und vertrauen ihm. Nun kommen wir zum Höhepunkt der Rede. Jesus schließt an V. 10 an, wo er vom Leben in Fülle spricht, das er uns geben wird. Woher kommt dieses Leben? Wie kann er überhaupt Leben geben?, fragen sich die Zuhörer. Nur Gott allein kann Leben geben. „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe.“ Wir kennen dieses Wort so gut, dass wir die Brisanz dieses Wortes vermutlich kaum mehr wahrnehmen. Die ersten Zuhörer haben sofort erkannt, was Jesus da sagt: „Ich bin der gute Hirte.“ Wie lange wartete das Volk Israel schon auf den Messias. Die ganze Hoffnung angesichts der schlechten Hirten war auf den Tag gerichtet, an dem Gott selbst kommt: der gute Hirte, der sich seiner Herde, seinem Volk annimmt. Nun spricht Jesus genau das an und sagt: Ich bin der gute Hirte. Ich bin da! Hier kommt zusammen, was das Alte Testament über Gott, den Hirten (Psalm 23) sagt. Jetzt hat sich erfüllt, was Gott ankündigte: „Ich werde einen einzigen Hirten über sie auftreten lassen, und dieser wird sie weiden, mein Knecht David, er wird ihr Hirte sein.“ (Ez. 34, 23ff.). Jesus sagt damit: ‚Ich bin es, den ihr erwartet. Ich bin der gute Hirte. Doch nun bin ich nicht ein Messias, der mit Macht und politischer Herrschaft regiert: Der gute Hirte setzt sein Leben ein für seine Schafe. Das ist mein Auftrag. Mein Vater hat mir diesen Auftrag gegeben.’ Jesus verdeutlicht das am Ende dieser Rede in V. 1718. Niemand hat die Macht, ihm das Leben zu nehmen. Allein er hat die Vollmacht, Pfr. Jürg Buchegger, Frauenfeld. 052 720 62 73; [email protected] 4 es einzusetzen, hinzugeben und das wird er tun. So kündigt Jesus an, was am Kreuz geschehen wird. Dort wird er sein Leben einsetzen für sein Volk, der gute Hirte für seine Schafe, für sein Volk – und damit meint er zuerst diejenigen, die in Israel an ihn glauben und auf ihn hören, aber auch die „anderen Schafe, die nicht aus diesem Pferch sind; auch die muss ich leiten und sie werden auf meine Stimme hören und sie werden eine Herde werden mit einem Hirten.“ (V. 16). Jesus gibt sein Leben. So gibt er uns das Leben in Fülle, das ewige Leben. Manchmal höre ich Auslegungen zu „Leben in Fülle“, die fragwürdig sind. Leben in Fülle, damit sei ein Leben im Glück, in materieller Fülle, Gesundheit und Wohlergehen gemeint. Diese Auslegung ist trügerisch. Wäre sie wahr, so hätten alle Christen, die nicht in einer Wohlstandsgesellschaft leben können wie wir (und das ist die Mehrheit!), dieses Leben in Fülle nie erfahren. Lassen Sie es mich deutlich sagen: Wir können Jesus nicht wie ein Lifestyleprodukt einkaufen oder als persönlichen Trainer anstellen, der uns hilft ein erfolgreiches, schönes und gesichertes Leben hier und jetzt zu erfahren! Leben in Fülle, das ist etwas viel tieferes. Jesus sagt es so: „Ich bin der gute Hirte und ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich, wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne. Und ich setze mein Leben ein für die Schafe.“ (V. 15). Das ist die frohe Botschaft: Ich habe einen, der barmherzig auf mich achtet. Wenn wir hinhören, dann vernehmen wir: Es gibt eine tiefe Beziehung zwischen dem Hirten und den Schafen. Sie kennen einander. „Kennen“ hat in der biblischen Sprache eine Tiefendimension, die größer ist als in unserer Umgangssprache. Wir sagen manchmal: Kennst du diesen Mann oder diese Frau? Und wir meinen: Kannst du Namen und Gesicht zusammenbringen? Kennst du unsere Regierungsräte? Kannst du ihre Namen aufzählen? „Kennen“ in der Bibel, das meint eine tiefe Vertrautheit, ja eine Intimität zwischen zwei Personen. Jesus sagt: „Ich kenne die Meinen und die Meinen kennen mich.“ Weil er sein Leben für uns gibt, werden wir in sein Herz gezogen. Wenn jemand einen hohen Preis zahlt, um mich zu retten, schafft er damit eine tiefe Beziehung zu mir. Wenn diese Person der Sohn Gottes ist und er sein Leben für mich gibt, wie viel mehr! Jesus steigert die Aussage noch: „wie der Vater mich kennt und ich den Vater kenne.“ Eine tiefere Beziehung können wir uns nicht vorstellen als die Beziehung, die Jesus zu seinem Vater im Himmel hat und der Vater zu seinem Sohn. Ich sage das zum Schluss noch einmal: Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe hin und so werden wir als glaubende Gemeinde ins Herz des guten Hirten hineingezogen, der selbst im Herzen Gottes wohnt. Er gibt für uns sein Leben, um uns das Leben in Fülle zu geben. Erstaunlich. Unfassbar. Ich schließe mit einem Wort von Ibrahim Sa’id, einem evangelischen Theologen aus Ägypten, der an zu dieser Bibelstelle schreibt: „Wie wunderbar ist diese Liebe, durch welche Jesus uns zu sich emporzieht. Tatsächlich machte er sich selbst leer und hob uns zu sich empor, in dem er unser Fleisch und Blut annahm, damit er uns zu seinen Partnern am göttlichen Leben macht. An dieser Stelle muss der Ausleger sein Schreibzeug aus der Hand legen und einfach staunen angesichts des Übermaßes dieser Herrlichkeit, welche allein die Engel erfassen und durchdringen können.“ Ja, auch wir können nichts anderes tun als staunen und anbeten und danken. AMEN Pfr. Jürg Buchegger, Frauenfeld. 052 720 62 73; [email protected]
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