Predigten von Pastorin Andrea Busse 16. Sonntag nach Trinitatis 20. September 2015 Predigt über 2. Tim 1,17 Gott gebe uns ein Herz für sein Wort und ein Wort für unser Herz, er segne unser Reden und Hören. Amen. Liebe Gemeinde, Als unser Sohn so 4,5 Jahre alt war, liebte er es, wenn ich ihm Piratengeschichten vorgelesen habe. Und ich erinnere mich, da war eine, die hat ihn ganz besonders gegruselt. Da geriet nämlich Captain Sharky – ich weiß nicht, ob sie den kennen, das ist ein süßer kleiner Comic-Pirat also Captain Sharky geriet in eine wirklich brenzlige Situation. Er war auf einer einsamen Insel in eine Grube gefallen. Da saß er in einem Loch, das so tief war, dass er unmöglich allein rausklettern konnte. Er hat natürlich um Hilfe geschrien, aber seine ganze Mannschaft war auf dem Schiff, keiner weit und breit, der ihn hören konnte. Captain Sharky ganz tief unten, alleine, gefangen in einer ausweglosen Situation. Selbst der heldenhafte Piratenkapitän kriegt da Angst. Und unser Sohn Ben auch. Die Geschichte wurde für ihn an dieser Stelle so gruselig, dass er seinen Kopf in meinem Schoß vergraben hat und panikartig wissen wollte: „Mama, das geht doch gut aus, oder?“ Klar, geht das gut aus. Eine Piratengeschichte für 4-jährige Jungs geht 100%-ig gut aus, das weiß ich, auch ohne die Geschichte zu kennen. Aber trotzdem konnte ich auch Bens Angst verstehen: Da sitzt einer verzweifelt und hilflos, er ist ganz unten und sieht nichts als steile Wände und ein winziges Stück Himmel, das für ihn unerreichbar ist. Hauptkirche St. Jacobi - Jakobikirchhof 22 - 20095 Hamburg Tel: 040 30 37 37 0 - Fax: 040 30 37 37 10 - Mail: [email protected] www.jacobus.de -2- Das ist schwer erträglich, besonders dann, wenn es eben keine Kindergeschichte ist, sondern ein echtes Gefühl: Ich allein im dunklen Loch und der Himmel unerreichbar weit entfernt. Mit der Hilfslosigkeit kommen die Fragen. Und das Grübeln. Ich denke, die meisten von uns haben das schon mal erlebt. Eine ähnlich niedergeschlagene Stimmung scheint damals geherrscht zu haben, als der Brief entstand, aus dem unser heutiger Predigttext stammt: der 2. Timotheusbrief. Ich lese den Predigtabschnitt: Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir für das Evangelium in der Kraft Gottes. Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium (2. Tim 1, 7-10) So schreibt Paulus an Timotheus. D.h. das stimmt gar nicht - obwohl der Brief das behauptet. In Wirklichkeit wurde dies alles lange nach dem Tod der beiden verfasst und verschickt. Es war damals nicht unüblich und auch nichts Verwerfliches, sich den Namen eines anderen, eines Berühmteren zu leihen, um dem eigenen Schreiben mehr Autorität zu verleihen. Aber dieser Brief hat schon fast etwas von einer Fälschung. Der Briefschreiber leiht sich nicht nur Paulus Namen, er tut auch so, als ob dies der letzte Brief sei, den Paulus vor seinem Tod aus dem Gefängnis geschrieben hat, er fügt sogar die Bitte ein, man solle ihm doch Bücher und Mantel in die Haft bringen, das ist schon ziemlich raffiniert. Und weil er als angeblichen Adressaten den engsten Freund und Mitstreiter von Paulus, nämlich Timotheus, wählt, kann er einen sehr vertraulichen Ton anschlagen. Wozu das alles? Welche Botschaft ist dem Briefeschreiber so wichtig, dass er sich für sie der Prominenz des Apostels Paulus, der Intimität eines Freundschaftsbriefes und der Dramatik des nahenden Todes bedient? Unser Text zeigt, worum es geht: Er will den Geist der Furcht vertreiben, denn der Geist ist der Furcht ist ein furchtbarer Geist. -3- Die Gemeinde, an die er schreibt, steckt in der Krise. Zwei, drei Generationen nach Ostern ist die Begeisterung der ersten Stunden verflogen. Nun muss sich der Glaube im Alltag bewähren. Paulus, Gründer und Autorität in der Gemeinde, ist nicht mehr. Überhaupt ist niemand mehr da, der noch Zeitzeugen Jesu kennen würde. Niemand weiß, wo es langgehen soll. Es ist die erste frühe Autoritäts- und Normenkrise. Im Laufe der Jahrhunderte folgten in der Kirche noch viele. Die Christen damals stehen unter einem doppelten Druck: Von außen werden sie argwöhnisch beobachtet und nicht nur als Spinner, sondern zunehmend auch als politisch Verdächtige behandelt: Der Kaiser ist der Herr. Ihm gebührt die Ehre im römischen Reich und sonst keinem. Wer etwas anderes behauptet, muss mit persönlichen Konsequenzen rechnen, das schafft ein Klima der Furcht unter den Gläubigen. Und auch innen gibt es Probleme: Warum ist Christus noch nicht wiedergekehrt, obwohl er es doch gesagt hat? Man beginnt sich einzurichten, schafft Strukturen in den Gemeinden, Ämter, Hauptverantwortliche. Aber die Verunsicherung wächst. Der eine sagt dies, der andere das, was ist nun richtig? Vielleicht ist es ja doch besser, sich aus allem rauszuhalten. Sich seine eigenen Gedanken zu machen, sich seinen eigenen Glauben zu basteln, aber sich nicht auch noch in der Gemeinde zu engagieren. Und genug zu kritisieren gibt es ja sowieso an der Kirche. Will man da wirklich dazu gehören? Solche Töne machen mürbe, nicht nur damals. Sie können verunsichern, sie können einen das Fürchten lehren. Sie stellen die Grundüberzeugungen in Frage, und plötzlich ist der Boden unter den Füßen weg, und wir sitzen – wie Captain Sharky - in der Grube. Ein dunkles Loch, da steckt man fest, weiß nicht weiter und der Himmel ist unerreichbar weit. Da ist es gut, wenn andere das wahrnehmen und ernst nehmen. Wer im Krater sitzt, allein mit den eigenen trostlosen Gedanken, braucht Hilfe von außen, z. B. ein Seil, mit dem er herausgezogen werden kann. Darum greift der Briefeschreiber zur Feder: „Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Unser unbekannter Briefeschreiber scheint schon damals das gewusst zu haben, was heute Rhetorikkurse lehren: für ein Nein, braucht man drei Jas, damit es gehört wird. Gegen die lähmende Furcht setzt er dreifach Positives: Kraft, Liebe, Besonnenheit. -4- Das ist kein markiger Durchhalteappell nach dem Motto: „Los Leute, beißt die Zähne zusammen und hört auf zu klagen“. Mit solchen Forderungen hilft man keinem, der im Loch sitzt und nicht weiß, wie es weitergehen soll. Helfen kann nur ein Rettungsseil das über den Rand geworfen wird. Dies Seil hier aus dem 2. Tim ist fest gedreht aus drei Strängen: Gott hat euch den Geist der Kraft gegeben, den Geist der Liebe und den Geist der Besonnenheit. Ich glaube, auch wir können ab und zu so ein Seil gebrauchen, um uns aus unseren Lebenslöchern ziehen zu lassen, dann wenn wir unsicher und verzagt sind. Und auch unsere Kirche hat das manchmal nötig oder unsere Gemeinde hier. Gerade jetzt, wenn wir – schon wieder – muss ich sagen eine Vakanzzeit überstehen müssen, weil unser Gemeindepastor eine neue Aufgabe übernommen hat und es naturgemäß ein bisschen dauert, bis die Stelle neu besetzt ist. Und so ist es eigentlich sehr passend, dass Pastor Klein, bei seinem Abschied dem Kirchengemeinderat und der Gemeinde diesen Vers mit auf den Weg gegeben hat: „Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Auf jeden Fall gut, das wiederzuentdecken, was Gott uns schon gegeben hat: seinen Geist! Zunächst einmal den Geist der Kraft. Er ist vielleicht in uns verschüttet, aber er ist da: lebendig, schöpferisch. Das heißt nicht, dass da gleich Berge versetzt werden. Aber es ist gut, wenn dieser Geist uns erstmal aufrichten kann. Oder wenn er den anderen Geist in uns zum Schweigen bringt: den Geist der Furcht, der Bitterkeit, der Lustlosigkeit oder Bequemlichkeit, diese Geister haben viel Macht. Die Furcht hält uns in unserem Loch gefangen, das Wort Angst kommt schließlich von Enge. Der Geist der Kraft kann die Enge aufsprengen: Entdecke die Möglichkeiten. Entdecke die Möglichkeiten, die Gott dir gibt. Entdecke seine Schöpfermacht. Alternative Wege können sich dann öffnen, Phantasie erwacht, Lebensmut kehrt zurück. Mit dem Blick nach oben in den Himmel, der nicht mehr so unerreichbar ist. Der zweite Strang des Rettungssseil ist der Geist der Liebe: Auch die Liebe brauchen wir nicht selber neu zu erfinden, Jesus hat sie uns vorgelebt: Liebe, die nicht nur an den eigenen Bedürfnissen orientiert ist, sondern am anderen. Liebe, die gibt und nicht rechnet, was es bringt. Liebe, die gerade die anschaut, die nicht liebenswert scheinen. Diesen Geist der Liebe hat Gott uns ins Herz gelegt. Aus diesem Geist heraus greift schließlich auch der Briefeschreiber zur Feder. Liebe heißt: es ist ihm nicht egal, wie es den anderen geht. Ich fühle mich verantwortlich, ge- -5- rade, wenn da ein anderer im Loch sitzt und der Himmel so weit weg ist. Der Geist der Liebe ist auf dieses Gegenüber ausgerichtet. Die Fähigkeit der Nächstenliebe weitet die Enge dadurch, dass man von sich selbst absehen und den Blick auf den anderen richten kann. Liebe macht das Herz weit. Die dritte Gottesgabe ist der Geist der Besonnenheit. Besonnenheit – das ist ein altmodischer Ausdruck, aber er ist ganz neu gefragt. Besonnen verhält sich, wer in schwierigen Situationen mit Umsicht handelt. Statt sich von Emotionen hinreißen zu lassen und übereilt zu handeln, heißt es eher Abstand gewinnen. Und gerade in angstbesetzten Situationen besteht ja die Gefahr, dass man panikartig dem ersten Handlungsimpuls folgt, statt erstmal die verschiedenen Optionen abzuwägen. Die Fähigkeit, auf Abstand zu den eigenen überbordenden Emotionen gehen zu können, ist besonders bei Konflikten hilfreich und heilsam. Besonnenheit muss manchmal sogar bei Hilfsbereitschaft angemahnt werden. Gerade letzte Woche war ich wieder bei einem Treffen von Menschen, die sich in der Flüchtlingsfrage engagieren wollen. Und da trafen da eine ungeheure Bereitschaft, etwas tun zu wollen, auf Behörde und Bezirk und Einrichtungsbetreiber wie fördern & wohnen, die oft überfordert damit sind, all die ehrenamtliche Hilfsbereitschaft, zu koordinieren und zu kanalisieren – und dann gibt es Frust auf beiden Seiten. Leute, die doch helfen wollen, und Leute, die Hilfe brauchen – und irgendwie kommt es nicht recht zueinander. Da will das Hotel 300 Matratzen spenden und das Deutsche Rote Kreuz lehnt ab, weil die Matratzen nicht in die Standardbetten der Einrichtungen passen. Das sorgt für Frust und dann auch für Vorwürfe. Dann können wir das alles scharfsinnig analysieren, uns darauf fixieren, was alles liegen bleibt oder schlecht gelöst wird. Und so klettern wir noch tiefer in den Krater, in die Krise hinein. Gottes Geist aber ermutigt zur Besonnenheit, zur Nüchternheit: „Macht euch nichts vor, redet euch auch nichts schön. Aber malt auch nicht alle schwarz. Nehmt wahr, was ist, Gutes und Schlechtes. Und dann besinnt euch auf das, was gegeben ist: Gottes Geist. Macht was daraus, mit euren Möglichkeiten und in fröhlicher Gelassenheit.“ Der Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit – das ist wie ein Rettungsseil, das in ein Loch geworfen wird. Dieses Zutrauen, dass wir uns den Herausforderungen der Zeit stellen können – genauso wie die Christen vor uns das zu ihrer Zeit getan haben. Wir können es mit Gottes Hilfe. Denn dieser dreifach positive Geist, den hat uns Gott schon gegeben. -6- Und Captain Sharky? Sie ahnen es, er ist natürlich auch aus seinem Loch herausgekommen. So ist das in den Piratengeschichten für kleine Jungs. Trotzdem gibt es einen Unterschied: Niemand hat ihm ein Seil zugeworfen. Er hat sich mühsam Treppenstufen in die steile Wand geritzt und sich aus eigener Kraft befreit. Ich bin froh, dass wir das nicht müssen. Ich glaube, das würde uns total überfordern, wir sind eben keine Comic-Helden. Und müssen es auch nicht sein. Aber müssen auch nicht in unseren Löchern sitzen bleiben. Glücklicherweise gibt es jemanden, der uns hört – und für ein Seil sorgt. Der ferne Mitchrist, der in Paulus' Namen schreibt, wirft uns heute eine dreifach gedrehte Rettungsleine hin – an der können wir uns festmachen und im Notfall aus dem Krater ziehen lassen. Dieses Seil reißt nicht, denn Gott selbst hat es für uns gebunden. Es hält auf jeden Fall. Amen.
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