Wes Geistes Kinder wollen wir sein?

„Wes Geistes Kinder wollen wir sein?“
Predigt über 2. Tim 1,7-10
11.9. 2016
16.S.n.Trin
Pattaya
Liebe Gemeinde,
was soll der Glaube, so fragen viele zu recht, wenn er keine
aktuelle Botschaft hat?
Was nützt eine Predigt, wenn sie nicht ganz konkret etwas zu
sagen hat zu dem, was uns hier und heute bewegt?
Selten war es so leicht, so naheliegend, den Predigttext mit der
Frage in Verbindung zu bringen, die an diesem Sonntag obenauf
liegt. Wir haben den 11.9. – seit vielen Jahren ist das ein
symbolisches Datum.
Es steht für eine Veränderung der Welt. Seit dem 11.9.2001 ist
die Welt für viele Menschen, jedenfalls im Westen, nicht mehr
das, was sie vorher war. Mit den Türmen des World Trade
Centers ist mehr eingestürzt, als nur zwei Hochhäuser.
Unser Lebensgefühl hat sich grundlegend verändert. Seit dem
11.9. ist Furcht in der Welt. Furcht und Schrecken, die sich am
deutlichsten mit dem Wort Terrorismus verbinden.
Und die Folge ist eine grundlegende Verunsicherung, wie es sie
jedenfalls seit dem Ende des 2. Weltkriegs nicht mehr gab.
Furcht, Schrecken, Verunsicherung – was hat der Glaube dazu zu
sagen? Wir hören im Predigttext Worte von Paulus an seinen
Mitarbeiter Timotheus.
Textlesung:
7 Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern
der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.
8 Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn
noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit mir
für das Evangelium in der Kraft Gottes.
9 Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf,
nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und
nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der
Zeit der Welt,
10 jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands
Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das
Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat
durch das Evangelium
Liebe Gemeinde,
selten passt ein vorgeschlagener Predigttext so treffend als
Zeitansage. Paulus redet über Furcht – das Lebensgefühl vieler
Menschen heute, wenn sie sich völlig zu Recht fragen:
Wo soll das alles hinführen?
Erst gestern ist wieder ein Anschlag in Paris vereitelt worden. Wie
lange bleibt der Euro stark – und damit unsere Alterversorgung?
Wie bedroht ist die Freiheit in Deutschland, wenn so viele
Menschen zuwandern, die Freiheit zwar für sich ersehnen, aber in
ihren Herkunftsländern nicht lernen konnten, mit ihr im alltäglichen
Zusammenleben umzugehen?
Gibt es also nicht reichlich Grund zum Fürchten für alle, die nicht
mit Scheuklappen durch die Gegend laufen?
Eindeutig: ja!
Nur – wenn schon keine Scheuklappen, dann bitte auch genau
hinschauen. Und gut hinhören. Das Ganze wahrzunehmen
versuchen, nicht nur die einzelnen herausragenden Ereignisse,
die das Gesamtbild der Wirklichkeit verzerren, wenn man nur sie
betrachtet und für das Ganze hält.
Ja, es gab die Silvesternacht in Köln. Ja, es gab und gibt
höchstwahrscheinlich immer noch unter den Flüchtlingen, die
nach Europa streben, Menschen, die zerstörerisches im Schilde
führen. Wer das leugnen wollte, wäre naiv oder verantwortungslos. Aber wer so redet, als sei das typisch für alle Flüchtlinge, all
die Männer, Frauen und Kinder, die gekommen sind, der spielt
den Angstmachern und politischen Rattenfängern in die Hände.
Christen dürfen, das will ich ganz deutlich sagen, dürfen so nicht
reden. Und sie brauchen auch keine Schwarzseher sein. Sie
sollen auch nicht das sein, was manche heute gerne etwas
abschätzig „Gutmenschen“ nennen und dabei unterstellen, diese
hätten den Enst der Lage nicht begriffen.
Christen sind vor allem zu einem gerufen: Weiter zu sehen und
tiefer zu blicken. Genau hinschauen – und sich gerade deshalb
nicht blenden zu lassen von der Botschaft, die schreckliche
Ereignisse immer haben, wenn man sie für sich allein betrachtet.
Und wenn sie dann auch noch mit den modernen Medien
sensationell aufbereitet und uns hundertmal wiederholt vor Augen
gestellt werden.
Das, was wir dann wahrnehmen, ist aber nicht alles, nicht die
ganze Wirklichkeit.
Da ist immer auch noch eine andere, überaus kräftige Wahrheit.
Die Wahrheit Gottes, das Evangelium, die gute Nachricht von
Gottes bedingungsloser Liebe udn Zuwendung.
Paulus sagt: Diese Wahrheit war schon immer da, vor aller Zeit.
Aber mit Jesus Christus ist sie jetzt unübersehbar deutlich ans
Licht gekommen. Diese Wahrheit lautet: Gott will Leben,
unvergängliches Leben für diese Welt und für uns alle. Ein Leben,
dass kein Tod zerstören kann – weder der Tod, der am Ende
unseres Lebens stehen wird. Noch irgendetwas, was sich schon
jetzt, mitten im Leben, wie das Ende, wie aussichtslose
Verzweiflung anfühlen mag.
Hier also die Wahrheit Gottes. Und da die Ereignisse udn ihre
Folgen, die uns zu recht beunruhigen.
Und nun?
Nüchtern bleiben ist das Gebot der Stunde. Eigentlich immer –
aber besonders jetzt.
Wie das geht?
Paulus sagt es so: es kommt drauf an, die Geister zu
unterscheiden, die nämlich unsere Wahrnehmung prägen.
Da ist der Geist der Furcht, der von uns Besitz ergreifen kann. Die
Botschaften, die dieser Geist uns einredet, klingen so: „Alles wird
immer schlimmer.“ „Die Ausländer bekommen alles geschenkt.“
„Isalm und Freiheit – das passt nicht zusammen und wird nie
zusammengehen.“
Merken Sie was? Alle Diese Sätze klingen erschreckend
pauschal. Sie verallgemeinern das Schlechte oder schlimmer: das
unterstellte Schlechte. Für jetzt – und gleich noch für alle Zukunft.
Sie kennen keine Grautöne, sie kennen nur schwarz und weiß.
Und schwarz – das sind immer nur die anderen. Bei genauerem
Hinsehen halten diese Sätze der Wirklichkeit nicht Stand. Aber
sie bestätigen uns in unserem Gefühl, in einer Welt, die uns
zutiefst verunsichert, wenigstens den Durchblick zu haben. Und
selbst auf der richtigten Seite zu stehen.
Wer sich vom Geist der Furcht bestimmen lässt, der wird von ihm
schnell beherrscht. Was dabei zu allererst verloren geht, ist die
Freiheit. Die eigene innere Freiheit. Die Freiheit, dem anderen,
vor allem dem Fremden, nicht nur Böses zu unterstellen.
Der Geist der Furcht hat nicht die Freiheit, dem jetzt noch
Fremden, dem was im Moment vielleicht wirklich noch nicht zu
uns und unseren Werten passt, was stört und ärgert, dennoch
zuzugestehen, dass es sich ändern kann. Dass der andere
lernfähig ist – wie ich selbst.
Dabei ist doch genau das zutiefst christlich: Dass wir – wie Gott
es tut – einander nicht festnageln auf dem, was wir sind oder
bisher gedacht und getan haben. Sondern uns gegenseitig die
Freiheit lassen und zutrauen, dass wir uns besinnen, dazulernen,
umkehren, neu anfangen können.
Das Traurigste am Geist der Furcht ist aber, dass er uns die
Handlungsfähigkeit nimmt. Weil es nicht mehr um eine bestimmte
konkrete Furcht geht.
Wer vom Geist der Furcht beseelt ist, der fürchtet sich ja nicht vor
einzelnen Ereignissen. Oder vor realen Bedrohungen, für die es
konkrete Anhaltspunkte gibt. Gegen die man sich und andere
dann natürlich mit sinnvollen Massnahmen zu schützen
versuchen muss.
Wer vom Geist der Furcht beseelt ist, der sieht keinen Sinn in
begrenzten Gegenmaßnahmen oder gezielter Kontrolle. Der
glaubt, sich erst sicher fühlen zu können, wenn das potentiell
Bedrohliche komplett ferngehalten wird. Auch um den Preis der
Freiheit, die man doch eigentlich bewahren wollte.
So führt der Geist der Furcht in einen Teufelskreis. Das was er
schützen will, zerrinnt ihm unter den Händen.
Dieser Geist, sagt Paulus, ist nicht von Gott.
Gott gibt uns einen anderen Geist – der der Kraft und der Liebe
und der Besonnenheit.
Kraft, Liebe, Besonnenheit. Kann es etwas Wirkungsvolleres
geben gegen die Einflüsterungen der Furcht?
Kraft, Liebe und Besonnenheit – ja, davon möchte ich beseelt
sein. Weil ich doch weiß, wie gut mir Menschen tun, von denen
das ausgeht:
Die Kraft, die sich nicht so schnell den Schneid abkaufen lässt,
auch wenns brenzlig wird. Heute würden wir diese Kraft vielleicht
Selbstvertrauen nennen. Oder Resilienz. Das ist die innere
Widerstandskraft, die mich standhalten lässt gegen all das, was
einen ja tatsächlich unsicher machen kann. Die mir hilft, denen
mit schlechten Absichten ruhig und klar entgegen zu treten. Mich
durch Verletzungen nicht provozieren zu lassen. Auch
Enttäuschungen zu verarbeiten, ohne zu verbittern.
Dass es nicht nur freundliche gesonnene Mitmenschen gibt, das
erleben viele von uns hier in Pattaya täglich. Die Unsicherheit
darüber zu leugnen hilft gar nicht. Aber die entscheidende Frage
ist:
Bin ich nicht offen für den Geist der Kraft, die mir Gott schenken
will, damit ich dem tapfer und aufrecht entgegentreten kann?
Bin ich offen für den Geist der Liebe, der mir helfen kann, dass
ich nicht nach dem Motto „wie Du mir so ich Dir“ Böses mit Bösem
vergelte?
Bin ich offen für den Geist der Besonnenheit?
Besonnenheit – manchmal denke ich ganz ehrlich: Das ist in
Pattaya ein ziemlich rares Gut. Es gibt hier eine seltsame Lust an
abenteuerlichen Unterstellungen und (vor allem negativen)
übersteigerten Phantasien. Als Pastorin genieße ich zwar sicher
einen gewissen Artenschutz, aber neulich fragte mich tatsächlich
jemand, ob es stimme, was man im BZ erzähle: Dass ich
neuerdings einen Guru hätte, bei dem ich jüngst erst vier Wochen
verbracht hätte...?!
Darüber konnte ich mich nur köstlich amüsieren. Aber das Fehlen
von Besonnenheit im Reden oder Handeln kann manchmal sehr
verletzend und bitter sein. Es kann Gemeinschaft zerstören und
Menschen ausgrenzen und sie so von den Quellen abschneiden,
aus denen sie leben. Nur wer Besonnen ist, hat die Chance,
seinen eigenen blinden Flecken zu entkommen, kann fair urteilen
und dem anderen gerecht werden. Ich bin dankbar, dass ich in
Pattaya – hier unter uns Menschen kenne, die mir darin ein
Vorbild sind. Natürlich gibt es die hier in Pattaya auch – entgegen
dem Bild der typischen Pattaya-Residenten, das anderswo
gepflegt wird. Und ich wünsche mir, dass das Zusammenleben
hier im BZ im Geist dieser Besonnenheit geschieht.
„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der
Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“
Merken Sie etwas? Paulus geht davon aus, dass dieser Geist
schon längst da ist, zugänglich für uns.
Wir docken an ihn an, wir öffen uns für uns und geben ihm die
Chance, uns zu beseelen, sozusagen auf uns abzufärben und in
uns wirksam zu werden, wenn wir uns an Jesus Christus halten.
Er hat ja aus diesem Geist gelebt und gehandelt.
Kräftig – auch gegen Widerstände und selbst gegen tödliche
Bedrohung.
Liebevoll – offen gerade für die, die sonst nur Abweisung
kannten.
Und besonnen – indem er bei allen, die ihm begegneten, bereit
war, in ihnen das alles zu sehen, was in jedem von uns ist: Das
Gute wie das Böse, das Starke wie das Schwache, das
Lernfähige wie das Begriffsstutzige oder sogar manchmal
Verbohrte... Vor allem aber die Sehnsucht nach diesem Geist der
Kraft und der Liebe und der Besonnenheit, aus dem wir wahrhaft
leben können.
Und der Friede...
Pastorin Annegret Helmer