Anregung zum kritischen Denken Literatur als Brückenschlag zu

Anregung zum kritischen Denken
Literatur als Brückenschlag zu wissenschaftlicher und
gesellschaftlicher Veränderung
Rede von Karl-Ludwig Kley
Vorsitzender der Geschäftsleitung von Merck
anlässlich der Verleihung des Premio Letterario Merck
Rom, 14. Juli 2015
– gekürzte Fassung –
Meine sehr geehrten Damen und Herren,
Ich komme jedes Jahr mit großer Freude hierher. Wegen Rom, wegen Ihnen und weil
ich hier mal über Literatur reden darf.
Heute ist auch ein besonderer Tag für alle Bücherfreunde. Es ist der Vorabend eines
Jubiläums, das viele mit gemischten Gefühlen sehen werden. Morgen vor 20 Jahren,
am 15. Juli 1995, hat Amazon.com sein allererstes Buch verkauft. Es war von
Douglas Hofstadter und hieß „Fluid Concepts and Creative Analogies: Computer
Models of the Fundamental Mechanism of Thought“. Das klingt äußerst trocken – ist
es wahrscheinlich auch.
Doch von diesem Tag an hat sich unser Umgang mit Büchern, und dem gedruckten
Wort überhaupt, grundlegend verändert.
Auch Forschung, Wissenschaft oder Technik haben seitdem enorme Veränderungen
erlebt:

1995, als Amazon startete, kam auch Windows95 auf den Markt. Damit
konnten zum ersten Mal mehrere Programme gleichzeitig betrieben werden.

1996 wurde Dolly geboren, das erste geklonte Schaf.

Im gleichen Jahr bezwang der Computer „Deep Blue“ den Schachweltmeister
Kasparow.
All diese Ereignisse sind noch nicht besonders lange her. Und doch sind diese
wissenschaftlichen Durchbrüche für uns heute Selbstverständlichkeiten geworden.
Sie sind zwar die Basis für viele weitere Entwicklungen. Den Glanz des
Bahnbrechenden haben sie aber schon verloren. Denn es geht immer weiter. In
atemberaubenden Tempo.
Diese Geschwindigkeit macht vielen Menschen Angst. Wer sich an Zeiten erinnern
kann, als noch nicht jeder Haushalt ein Telefon hatte, für den ist Google Glas wie
etwas aus einem Science Fiction-Roman. Das kann ich verstehen. Aber ich halte
auch fest: Im Kern ist technischer Fortschritt zuallererst eine Manifestation unseres
menschlichen Wissensdurstes. Wir wollen immer mehr wissen und verstehen. So
sind wir Menschen.
Der deutsche Aphoristiker Hans Kudszus hat gesagt: „Das Fragezeichen ist der
Ausweis der Gebildeten.“ Das stimmt. Denn für neue Ideen muss man weiterdenken,
mehr wissen wollen, Fragen stellen, sich nicht zufrieden geben. Jede Antwort
eröffnet neue Wissensfelder und bringt neue Fragezeichen mit sich. Einstein
konstatierte: „Je mehr ich weiß, desto mehr erkenne ich, dass ich nichts weiß“.
Deshalb fragt der Mensch weiter.
Ohne den Drang, Fragen zu stellen und Antworten zu suchen, würden wir noch in
Höhlen sitzen, die Keule stets griffbereit. Also: Fragen sind wichtig. Und kaum etwas
ist besser geeignet, um uns zum Fragen anzuregen, als die Literatur.
Die Literatur malt Welten in unserem Kopf, die anders sind als unsere. Und leiten uns
zu dem Gedanken: Wäre das möglich? Literatur zeigt unbekannte Situationen,
andere Realitäten, neue Perspektiven. Und konfrontiert uns mit der Frage: Was wäre
wenn?
Besonders deutlich wird dies in der Literatur, die die Zukunft beschreibt – technische
Neuerungen inklusive. Zum Beispiel:

Schon 1888 hat Edward Bellamy in seinem Buch „Ein Rückblick aus dem Jahr
2000“ die Kreditkarte gezeigt. Er stellte sich eine Gesellschaft vor, in der beim
Einkaufen einfach Geld von einer Karte abgebucht werden konnte. Eine gute
Idee! Zeitgenossen fanden es allerdings viel verstörender, dass in dieser
Gesellschaft im Jahr 2000 Männer und Frauen gleichgestellt waren.

E.M. Forster beschrieb in seiner Kurzgeschichte „Die Maschine versagt“ eine
Art Skype-Unterhaltung. Eine Mutter schaut auf einen Bildschirm, der erst blau
leuchtet, dann lila wird – und dann kann sie ihren Sohn am anderen Ende der
Welt sehen.

In Arthur Clarkes „2001 – A Space Odyssey” von 1968 sind aktuelle
Nachrichten jederzeit in elektronischen Zeitungen verfügbar. Der Name des
Geräts? Newspad.

Dass man mit neuen technischen Möglichkeiten auch Schindluder treiben
kann, hat William Gibson 1984 in „Neuromancer“ deutlich gemacht. Obwohl
das Internet noch nicht erfunden war, beschreibt er einen jungen Hacker, der
für Geld weltweit elektronische Daten klaut.
Haben all diese Autoren einen Weg gefunden, ein Fenster in die Zukunft zu öffnen
und einen Blick zu erhaschen? Eher nicht. Aber sie haben die Fähigkeit der Literatur
genutzt, um neue Welten entstehen zu lassen. Sie haben gezeigt, was eines Tages
möglich sein könnte und damit junge Generationen ermuntert, Fragen zu stellen und
sich nicht mit dem Status quo zufrieden zu geben.
Die Fähigkeit von Literatur, uns zu kritischem Nachdenken zu animieren, ist also für
wissenschaftlichen Fortschritt äußerst wichtig. Ich behaupte aber, dass Literatur eine
noch wichtigere gesellschaftliche Rolle hat.
Literatur hat die Fähigkeit, Tendenzen aufzuzeigen, die in unserer Gesellschaft
angelegt sind, die wir aber nicht wahrnehmen. Sie regt uns damit zum Nachdenken
und Nachfragen über unser eigenes Leben und Umfeld an.
Einige Beispiele hierzu:

George Orwells „1984“ ist keine hundertprozentige Vision der Zukunft. Aber
die staatliche Überwachung, die Macht von Propaganda und die Denkkontrolle
von Bürgern, die Orwell beschreibt, sind so beklemmend eben weil wir die
Anlagen für die von Orwell beschriebenen Gefahren auch in unserer heutigen
Gesellschaft erkennen können.
Da drängen sich Fragen auf: Wie gehen wir mit einem Staat um, der nach
dem 11. September die Überwachung seiner Bürger immer weiter ausdehnt?
Im Namen der Sicherheit, versteht sich. Was macht es mit einer Gesellschaft,
wenn die Bürger bei dieser Überwachung bereitwillig mithelfen und mehr
Privates von sich preisgeben als je zuvor?

Ein weiteres Beispiel: In „Fahrenheit 451“ aus dem Jahr 1953 nimmt Ray
Bradbury Kopfhörer, riesige Flachbildschirme und Surround-Sound-Systeme
vorweg. Er entwirft allerdings auch eine Gesellschaft, die durch triviales
Unterhaltungsfernsehen ruhig gestellt wird und keinen kritischen Gedanken
mehr fassen kann.

In der „Schönen Neuen Welt“ von Aldous Huxley ist die Menschheit dagegen
zu einer dauernarkotisierten Konsumgesellschaft geworden. Für Luxus und
Drogen werden Freiheit, Menschlichkeit, Religion und Kunst geopfert. Die
Gesellschaft ist angepasst und unmündig.
Wie weit sind wir von diesen Zuständen entfernt? Zwischen 1988 und 2008 ist
die Zahl der Amerikaner, die Antidepressiva nehmen, um fast 400%
gestiegen. 11% der Bevölkerung nehmen diese Medikamente. Und das
schließt Kinder über 12 Jahren ein. Da kann man schon ins Grübeln kommen.
All dies bedeutet keinesfalls, dass ein Literat immer Recht hat. Günther Grass zum
Beispiel hat, jedenfalls zu Beginn seiner Laufbahn, großartige Werke geschrieben.
Politisch aber lag er eigentlich immer daneben.
Wann sollte man also zuhören? Welcher Autor hat reale Tendenzen erkannt – und
welcher spinnt? Die Einschätzung kann uns keiner abnehmen. Die müssen wir als
Leser und Bürger selber vornehmen. Literatur hilft uns lediglich dabei, Fragen zu
stellen. Die Antworten müssen wir selber finden.
Darum liegt mir der Premio Letterario Merck so am Herzen. Wir ermutigen damit
Menschen, zu schreiben, Fragen an uns alle und an die Gesellschaft zu stellen. Wir
zeichnen Autoren aus, die Literatur und Wissenschaft, Wissenschaft und Literatur
verbinden und damit den Weg nach vorne, in die Zukunft zeigen.
Damit wir als Leser uns dann fragen können: In welcher Welt wollen wir leben?
Welche Entwicklungen sind wünschenswert, für welche lohnt es sich zu kämpfen und
welche gehen in die falsche Richtung?
Der deutsche Mathematiker und Physiker Georg Christoph Lichtenberg hat gesagt:
„Mehr als das Gold hat das Blei in der Welt verändert. Und mehr als das Blei in der
Flinte das im Setzkasten.“
Bücher können in der Tat die Welt verändern. In diesem Sinne gratuliere ich allen
unseren heutigen Preisträgern von ganzem Herzen. Und wünsche Ihnen, dass sie
einen Beitrag leisten können, die Welt zu verändern. Zum Guten.