Gottfried Benn j Phase II „Das ganze Weltwesen liegt vor

Vorschau - Klett-Cotta Verlag, J. G. Cotta'sche Buchhandlung
Gottfried Benn j Phase II
23
„Das ganze Weltwesen liegt vor uns wie ein großer Steinbruch, sagt
Goethe bei dieser Gelegenheit noch, sofern ich mich richtig erinnere",
bemerkte Wann. „Allein ich mqchte meine pedantische Stubenordnung
nicht in mir haben. Das Ordnungsprinzip im Innern muß immer ein tätiges sein und darf niemals zu einem fertigen Zustand erstarren."
„ I n diesem Falle", sagte Donatus, „befinden sich wohl die vielen
hunderttausende von Automaten, die unsere heutige Kultur so notwendig
braucht." „Und die so kostspielig ist", sagte Wann. „Ach, sie ist überaus
kostspielig, und wir haben unsere wahrhafte Existenz und all unsern
Reichtum dafür hingeben müssen, wie gefangene Fürsten etwa in einem
römischen Triumphzug. Das ist nicht zuviel gesagt.
Jawohl, sie ist kostspielig, unsre berühmte Kultur. Aber die meisten
hören nicht das Geklapper des heimlichen Totentanzes vor dem Geschmetter der Eisenbahnen, dem Geschrei der Zeitungsausrufer und dem
Donnern der Schiffskanonen."
GOTTFRIED
BENN
P H A S E II
A n t w o r t e n auf ein I n t e r v i e w über meine neuen
Bücher
1. Die Grundlagenkrise.
E
in Gedanke begegnet dem anderen, der marxistische dem westeuropäischen, der faustische dem mittelmeerischen, der kollektive dem
isolationistischen, der biologische dem geisteswissenschaftlichen, der
kritische dem empirischen, der soziale dem aristokratischen — alle diese
Begegnungen können aufs äußerste erregend sein, spannend, erschütternd, aber es bleibt das gleiche Milieu, ein Milieu aus Dialektik, Ratio
und Ideologie. Der heute angreifende Gedanke ist morgen der geschlagene, die heute mit der Zeit identische Idee ist bei der nächsten Gegenbewegung die abgelebte und entleerte, einige Motive halten sich Jahrhunderte, ja Jahrtausende, wie das nazarenische oder das antike, aber
sie bleiben das dialektische defensiv-offensive Milieu. Das Gefühl für
diese Relativierung, Relativierbarkeit der europäischen Gedankenwelt,
der Verlust des Bestimmten und Absoluten ist das augenblickliche Stigma
des Kulturkreises. Dieses Gefühl ist ungemein verbreitet und allgemein,
es ist schon populär. Überall sehen Sie Gesellschaften, die darüber diskutieren; Kreise, die eine Stadt finanziert, um die Erörterungen darüber
zu betreiben; Akademien schießen wie Pilze aus der Erde; Clubs debattieren über die verzweifelte Lage — überall ein Kaninchengedränge von