Protokoll - Literaturwissenschaft Online

Einführung in die Literaturwissenschaft
V.
Poetiken des 20. Jahrhunderts
1. Das neue Bewusstsein von Literatur im 20. Jahrhundert
Im 20. Jahrhundert werden viele literaturtheoretische Positionen entweder neu entwickelt oder
radikalisiert. Als besonders bemerkenswert können die der deutschsprachigen Autoren Hugo
von Hofmannsthal und Gottfried Benn sowie der Franzosen Jean-Paul Sartre und Roland
Barthes gelten.
Zentralproblem ihrer Überlegungen ist die Frage, in welchem Verhältnis Wörter und
Dinge zueinander stehen (bzw. welches Verhältnis zwischen der Gebrauchssprache des
Alltags und der poetischen Sprache besteht). Gemeinsam ist ihnen die Problematisierung des
aristotelischen Mimesis-Konzepts, demzufolge Kunst und Literatur die Lebenswelt
nachahmen. Demgegenüber hebt die Literaturtheorie der Moderne des 20. Jahrhunderts die
Eigenständigkeit von Literatur hervor und sieht in der Nachahmung allenfalls einen
Spezialfall; Mimesis ist jedenfalls nicht mehr der entscheidende Begriff. Ähnlich wie es in der
Bildenden Kunst nach 1900 zur Entwicklung einer abstrakten = gegenstandslosen Malerei
kommt, lässt sich auch in der Literatur eine Tendenz zur Abstraktion beobachten. Es wird
zwar – zwangsläufig – semantisiertes Material verwendet; trotzdem gilt es zu beachten, dass
man es in der Dichtung − trotz desselben Wort- und Syntax-Materials − mit einer
eigenständigen Art von Sprache zu tun hat.
2. 1 Hugo von Hofmannsthal
Das Bewusstsein der eigenständigen Sprache in der Poesie taucht im deutschsprachigen Raum
zuerst bei von Hofmannsthal auf:
Es führt von der Poesie kein direkter Weg ins Leben, aus dem Leben keiner in die Poesie. Das Wort als
Träger eines Lebensinhaltes und das traumhafte Bruderwort, welches in einem Gedicht stehen kann,
streben auseinander und schweben fremd aneinander vorüber, wie die beiden Eimer eines Brunnens.1
Ein besonders wichtiges Dokument zur Sprachauffassung des von der französischen Moderne
(Baudelaire, Mallarmé, Rimbaud) beeinflussten Hofmannsthal ist Ein Brief (1902; zumeist als
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Hofmannsthal, Hugo von: Poesie und Leben. In: Ders.: Reden und Aufsätze I. 1891–1913. Herausgegeben
von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt am Main 1979(=Gesammelte Werke in zehn
Einzelbänden 8), S. 13–19, hier S. 16.
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›Chandos-Brief‹ zitiert). Darin schreibt der angebliche Verfasser, der fiktive Dichter Philipp
Chandos, an den Philosophen Francis Bacon über sein dichterisches Verstummen:
Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken
oder zu sprechen.
Zuerst wurde es mir allmählich unmöglich, ein höheres oder allgemeineres Thema zu besprechen,
und dabei jene Worte in den Mund zu nehmen, deren sich doch alle Menschen ohne Bedenken geläufig
zu bedienen pflegen. Ich empfand ein unerklärliches Unbehagen, die Worte »Geist«, »Seele« oder
»Körper« nur auszusprechen. [...] die abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen
muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.2
Der Chandos-Brief ist jedoch bei weitem mehr als nur ein Ausdruck von Sprachskepsis. Er ist
Entwurf einer Poetik der Sprach-Mystik, wonach es in der Dichtung auf Erlebnisse jenseits
der Alltagswelt bzw. der Alltagssprache ankommt:
In diesen Augenblicken wird eine nichtige Kreatur, ein Hund, eine Ratte, ein Käfer, ein verkrümmter
Apfelbaum, ein sich über den Hügel schlängelnder Karrenweg, ein moosbewachsener Stein mir mehr, als
die schönste, hingebendste Geliebte der glücklichsten Nacht mir je gewesen ist. Diese stummen und
manchmal unbelebten Kreaturen heben sich mir mit einer solchen Fülle, einer solchen Gegenwart der
Liebe entgegen, daß mein beglücktes Auge auch ringsum auf keinen toten Fleck zu fallen vermag.3
Poesie wird zum Medium der Erfahrung mystischer Gegenwart und unmittelbarer
sprachlicher Sinnlichkeit, die als autonome Realität jegliche Zeichenhaftigkeit hinter sich
lässt. In diesem Verständnis ermöglicht sie Hofmannsthal – im Gegensatz zu seinem Lord
Chandos – ein Weiterschreiben.
2. 2 Jean-Paul Sartre
Der französische Philosoph Sartre vertritt Anfang der Fünfziger Jahre mit der Forderung einer
politisierten Literatur (›littérature engagée‹) eine Position, die nur auf den ersten Blick als
Gegensatz zur Konzeption Hugo von Hofmannthals erscheint. Entscheidender Ausgangspunkt
für Sartre ist die Gegenüberstellung von Poesie und Prosa. Während Prosa sich der
Alltagssprache bedient und wegen ihrer Zeichenhaftigkeit für politisches Engagement
einsetzbar ist, entzieht sich die Sprache der Poesie jeglicher Funktionalisierung und kann
nicht engagiert sein: »Les poètes sont des hommes qui refusent d’utiliser le langage.«4 Für
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Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien
Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Röllecke. Band.
XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991, S. 45–
55, hier S. 49 f.
Hofmannsthal: Ein Brief, S. 52.
Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? In: Ders: Situations, II. [Paris] 1964, S. 55–330, hier S. 63
(›Die Dichter sind Menschen, die sich weigern, die Sprache zu benutzen‹).
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den Dichter sind also die Worte selbst Gegenstände (»objets«), während sie sie für den ProsaSchriftsteller Bezeichnungen für Gegenstände bleiben (»désignations d’objets«5).
2. 3 Gottfried Benn: Probleme der Lyrik
In einem einflussreichen Vortrag an der Universität Marburg (21. 8 1951) hat sich Benn
gegen gängige Vorstellungen von Lyrik gewandt und demgegenüber ihren artifiziellen
Charakter betont:
[...] die Öffentlichkeit lebt nämlich vielfach der Meinung: da ist eine Heidelandschaft oder ein
Sonnenuntergang, und da steht ein junger Mann oder ein Fräulein, hat eine melancholische
Stimmung, und nun entsteht ein Gedicht. Nein, so entsteht kein Gedicht. Ein Gedicht entsteht
überhaupt sehr selten − ein Gedicht wird gemacht. Wenn Sie vom Gereimten das Stimmungsmäßige
abziehen, was dann übrigbleibt, wenn dann noch etwas übrigbleibt, das ist dann vielleicht ein
Gedicht.6
Beeinflusst von Edgar Allan Poe (The Philosophy of Composition, 1846; The Poetic
Principle,1850) steht für Benn fest: »Das neue Gedicht, die Lyrik, ist ein Kunstprodukt.«7 Er
nennt vier »diagnostische Symptome«8, anhand deren sich die Modernität eines Gedichts
bestimmen lässt (Andichten / ›Wie‹ (=Vergleiche) / Farben / seraphischer Ton). Entscheidend
sind für ihn bei einem Gedicht nicht Semantik bzw. Inhalte, sondern die Form, weil davon die
sinnliche Überzeugungskraft abhängt.
2. 4 Roland Barthes’ These vom ›Tod des Autors‹ (1968)
Der poststrukturalistische Philosoph wendet sich in seinem viel beachteten Aufsatz gegen die
traditionelle Idee ›Autor‹. Im Unterschied zur üblichen Auffassung, die den ›Autor‹ als eine
Art ›Vater‹ seines Textes (also als ›Autorität‹ über sein Kind) versteht, betont Barthes das
unkontrollierbare Eigenleben des Textes (das lateinische Wort für ›Gewebe‹), dessen
Bedeutung nicht vom Autor als gottähnlichem Schöpfer, sondern von den Lesern bestimmt
werde; der Verfasser eines Textes gilt Barthes lediglich als ›Schreiber‹, der bereits
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Sartre: Qu’est-ce que la littérature?, S. 70.
Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. in Verbindung mit
Ilse Benn † herausgegeben von Gerhard Schuster (Bde. I-V) und Holger Hof (Bd. VI). Bd. VI: Prosa 4.
Stuttgart 2001, S. 9–44, hier S. 9 f.
Benn: Probleme der Lyrik, S. 10.
»Ich nenne Ihnen vier diagnostische Symptome, mit deren Hilfe Sie selber in Zukunft unterscheiden können,
ob ein Gedicht von 1950 identisch mit der Zeit ist oder nicht« (Benn: Probleme der Lyrik, S. 17;
Hervorhebung A.M.).
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vorhandenes Textmaterial kopierend mischt und neu verbindet: »Der Text ist ein Gewebe aus
Zitaten, die aus tausend Brennpunkten der Kultur hervorgegangen sind.«9
Als terminologische Alternative zu ›Autor‹: bietet Barthes SCRIPTEUR (nicht ›écrivain‹)
an und verknüpft den Tod des Autors mit der Geburt des Lesers: Jeder Leser hat seine eigene
Art der Lektüre, ohne dabei durch die eventuelle Autor-Intention eingeschränkt zu sein.
Für die literaturwissenschaftliche Arbeit folgt aus dieser Sichtweise der Verzicht auf
Interpretationen mit Absolutheitsanspruch, die einen Text ›dechiffrieren‹ wollen. Vielmehr
kommt es darauf an, das jeweilige ›Gewebe‹ zu analysieren und zu ermitteln, aus welchen
Text-Materialien es besteht und wie dieses zusammengesetzt ist.
2. 5 Weitere Zitatnachweise
Hugo von Hofmannsthal Ein Brief (1902)
»Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine
große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Gegensatz zu bilden,
ebensowenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Einsamkeit und
Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur [...].«10
»Seither führe ich ein Dasein, das Sie, fürchte ich, kaum begreifen können, so geistlos, so
gedankenlos fließt es dahin; ein Dasein, das sich freilich von dem meiner Nachbarn [...] kaum
unterscheidet und das nicht ganz ohne freudige und belebende Augenblicke ist.«11
»Eine Gießkanne, eine auf dem Felde verlassene Egge, ein Hund in der Sonne, ein ärmlicher
Kirchhof, ein Krüppel, ein kleines Bauernhaus, alles dies kann das Gefäß meiner Offenbarung
werden. Jeder dieser Gegenstände und die tausend anderen ähnlichen, über die sonst ein Auge
mit selbstverständlicher Gleichgültigkeit hinweggleitet, kann für mich plötzlich in irgend
einem Moment, den herbeizuführen auf keine Weise in meiner Gewalt steht, ein erhabenes
und rührendes Gepräge annehmen, das auszudrücken mir alle Worte zu arm scheinen.«12
»[...] nämlich weil die Sprache, in welcher nicht nur zu schreiben, sondern auch zu denken
mir vielleicht gegeben wäre, weder die lateinische noch die englische noch die italienische
oder spanische ist, sondern eine Sprache, von deren Worten mir auch nicht eines bekannt ist,
eine Sprache, in welcher die stummen Dinge zu mir sprechen, und in welcher ich vielleicht
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Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Herausgegeben und
kommentiert von Fotis Jannidis u.a. Stuttgart 2000 (rub)18058, S. 190.
Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien
Deutschen Hochstift. Herausgegeben von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Röllecke. Band.
XXXI: Erfundene Gespräche und Briefe. Herausgegeben von Ellen Ritter. Frankfurt am Main 1991,
S. 45–55, hier S. 47.
Hofmannsthal: Ein Brief, S. 50.
Hofmannsthal: Ein Brief, S. 50.
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einst im Grabe vor einem unbekannten Richter mich verantworten werde.«13
Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? / Was ist Literatur? (1947)
»L’écrivain [...] c’est aux significations qu’il a affaire. Encore faut-il distinguer: l’empire des
signes, c’est la prose; la poésie est du côté de la peinture, de la sculpture, de la musique.«14
»La prose est utilitaire par essence; je définirais volontiers le prosateur comme un homme qui
se sert des mots.«15
»Mais personne ne saurait supposer un instant qu’on puisse écrire un bon roman à la louange
de l’antisémitisme.«16
Gottfried Benns Probleme der Lyrik (1951)
»Aber die Form ist ja das Gedicht. Die Inhalte eines Gedichtes, sagen wir Trauer, panisches
Gefühl, finale Strömungen, die hat ja jeder, das ist der menschliche Bestand, sein Besitz in
mehr oder weniger vielfältigem und sublimem Ausmaß, aber Lyrik wird daraus nur wenn es
in eine Form gerät, die diesen Inhalt [...] trägt, aus ihm mit Worten Faszination macht. Eine
isolierte Form, eine Form an sich, gibt es ja gar nicht. Sie ist das Sein, der existentielle
Auftrag des Künstlers, sein Ziel.«17
Roland Barthes: La mort de l'Auteur (1968)
Wir wissen jetzt, dass ein Text keine Aneinanderreihung von Wörtern ist, die eine einzige,
gewissermaßen ›theologische‹ Bedeutung freisetzen (was die ›Botschaft‹ des Autor-Gottes
wäre); ein Text ist vielmehr ein vieldimensionaler Raum, in dem sich unterschiedliche
Schreibweisen, keine davon original, vermählen und bekämpfen: Der Text ist ein Gewebe aus
Zitaten, die aus tausend Brennpunkten der Kultur hervorgegangen sind.18
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Hofmannsthal: Ein Brief, S. 54.
Jean-Paul Sartre: Qu’est-ce que la littérature? In: Ders: Situations, II. [Paris] 1964, S. 55–330, hier S. 63 (›Es
sind die Bedeutungen, womit es der Schriftsteller zu tun hat. Noch einmal gilt es zu unterscheiden: Das
Reich der Zeichen, das ist die Prosa; die Poesie steht auf der Seite der Malerei, der Bildhauerei, der Musik‹).
Sartre: Qu’est-ce que la littérature?, S. 70 (›Prosa ist ihrem Wesen nach benutzbar; ich möchte den
Prosaschreiber geradezu als einen Menschen definieren, der sich der Wörter bedient‹).
Sartre: Qu’est-ce que la littérature?, S. 112 (›Niemand könnte auch nur für einen Augenblick unterstellen,
dass sich ein guter Roman zum Lobpreis des Antisemitismus schreiben ließe‹).
Gottfried Benn: Probleme der Lyrik. In: Ders.: Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe. in Verbindung mit
Ilse Benn † herausgegeben von Gerhard Schuster (Bde. I-V) und Holger Hof (Bd. VI). Bd. VI: Prosa 4.
Stuttgart 2001, S. 9–44, hier S.21.
Roland Barthes: Der Tod des Autors. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Herausgegeben von Fotis
Jannidis u.a. Stuttgart 2000, S. 190.
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Wenn wir dem Schreiben seine Zukunft verschaffen wollen, dann wissen wir, dass die
Erzählung davon umgedreht werden muss: die Geburt des Lesers ist mit dem Tod des Autors
zu bezahlen.19
In der vielfältigen Schrift gilt es, in der Tat, alles zu entwirren, aber nichts zu entziffern.20
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Barthes: Der Tod des Autors, S. 193.
Barthes: Der Tod des Autors, S. 191.
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