MeinungFront und Debatte 11.06.12//Nr. Nr.193 133//Seite Seite12 1 / Teil 01 22.08.15 # ! NZZ AG Tessin wünscht Klausel BÖRSEN UND MÄRKTE Investoren wetten auf Lockerungen Investoren in den USA bringen sich zurzeit in Position, um von einer weiteren quantitativen geldpolitischen Gastkommentar Lockerung zu profitieren. von CHRISTIAN VITTA Seite 21 Die Schweiz, die Lombardei, das Tessin: Welcher dieser drei Wirtschaftsräume weist die tiefste Arbeitslosigkeit aus? Wären wir noch im Jahr 2007, würden wohl viele danebentippen: Nicht die Schweiz (3,7 Prozent), nicht das Tessin (5 Prozent), sondern die Lombardei war mit 3,4 Prozent Arbeitslosigkeit die Spitzenreiterin dieses Rankings. Dies ist kein Ausrutscher: Die Lombardei war über Jahrzehnte einer der wichtigsten Wirtschaftsmotoren Europas. Im Jahr 2007 trat jedoch nach einer Übergangsphase von fünf Jahren die Personenfreizügigkeit voll in Kraft. Kurz danach kam es zur folgenschweren Finanz- und Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosigkeit in der Lombardei schnellte nach oben und erholte sich – im Gegensatz zu den Nachbarregionen in Frankreich, Deutschland und Österreich – nie mehr, im Gegenteil: Sie ist heute fast doppelt so hoch wie jene der Schweiz und deutlich höher als jene des Kantons Tessin. Am stärksten betroffen sind die Jungen: Die Arbeitslosigkeit der besonders mobilen 15- bis 24-Jährigen liegt heute bei 31,2 Prozent, Tendenz steigend. Die Lombardei steht dabei vergleichsweise gut da. Im angrenzenden Piemont liegt sie bei 42,2 Prozent. Kein Wunder, ist die Anzahl der Grenzgänger im Kanton Tessin von rund 40 000 auf über 60 000 geklettert – über ein Viertel der Angestellten im Kanton sind Grenzgänger. Immer häufiger sind es Italiener, die Italiener anstellen: Auf der Flucht vor der Wirtschaftskrise im Heimatland und ungünstigen Rahmenbedingungen kommt es an der Grenze zur Suche nach Positionsrenditen ohne jeglichen Mehrwert, weder für Italien noch für die Schweiz. Die EU strebt durch die Errichtung eines Binnenmarktes «eine harmonische und ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens» wie auch «einen hohen Grad an Konvergenz der Wirtschaftsleistungen» an. Dies entpuppte sich jedoch als Wunschdenken. Das ist nicht nur die Erfahrung von Staaten wie Griechenland oder Portugal, sondern im Kleinen auch jene meines Kantons. Eine ungezügelte Personenfreizügigkeit hat nicht zu einer «Konvergenz» geführt, sondern im Gegenteil Unterschiede akzentuiert. Sie hat zudem einen pragmatischen Umgang mit solchen Entwicklungen erschwert, da nicht mehr regional gemeinsam nach Lösungen gesucht werden kann, sondern kontinentweit Regeln blind angewandt werden – ungeachtet der Folgen. Auf diesem Hintergrund ist zu verstehen, dass im Tessin rekordhohe 68,2 Prozent der Masseneinwanderungsinitiative zugestimmt haben – die Zuwanderung war dabei im Abstimmungskampf kaum ein Thema, im Tessin ging es um Auswüchse der Personenfreizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt. Der Kanton Tessin möchte, dass bei der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative seiner Sichtweise Rechnung getragen wird. Der Staatsrat hat darum dem Institut für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement der ETH Zürich von Professor Michael Ambühl das Mandat erteilt, das Konzept einer differenzierten ArbeitsmarktSchutzklausel zu entwickeln. Eine Schutzklausel erlaubt es, die Personenfreizügigkeit im Grundsatz zu erhalten, gleichzeitig jedoch gezielte und begrenzte Interventionen in Ausnahmesituationen zu ermöglichen. Angestrebt wird eine Schutzklausel, deren Auslösemechanismus nicht an die Zuwanderung gebunden ist, sondern an Arbeitsmarktindikatoren wie Medianlohn, Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit oder Lebenskosten. Unsere Arbeitshypothese lautet, dass an keiner anderen Grenze Europas das Gefälle bei diesen Indikatoren so steil ist wie an der Grenze zwischen der Schweiz und Italien – und dass an keiner anderen Grenze Europas diese Differenzen seit Ausbruch der Finanzkrise so stark zugenommen haben wie hier. In einer solchen, mit präzisen Daten zu umschreibenden Ausnahmesituation soll es möglich sein, zeitlich begrenzte Schutzmassnahmen zu ergreifen, und zwar regional differenziert und gezielt in besonders betroffenen Wirtschaftssektoren. Eine solche objektiv definierte Schutzklausel ist im Interesse der direkt betroffenen Grenzgebiete: Sie ist nachvollziehbar, schafft Vertrauen, amortisiert Wirtschaftsschocks und trägt zu einer gesunden Wirtschaftsentwicklung bei. Eine Arbeitsmarkt-Schutzklausel ist in diesem Sinne eine Übergangsbestimmung: Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass die vielen Wirtschaftsräume Europas – und mit ihnen die Schweiz – vielleicht auf dem Weg zu einem «harmonischen Wirtschaftsleben» sind, dort jedoch nicht so rasch ankommen werden. Dem gilt es Rechnung zu tragen. Das ist der Auftrag, den das Volk uns Politikern am 9. Februar 2014 auf den Weg gegeben hat. Christian Vitta (fdp.) ist Direktor des Volkswirtschaftsund Finanzdepartements des Kantons Tessin.
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