3 22. Januar 2016 Thema Immer mehr Basejumper im Wingsuit springen von Klippen im Verzascatal, der Riviera und dem Misox, um mit über 200 km/h ins Tal zu gleiten und erst wenige hundert Meter über dem Boden die Reissleine zu ziehen von Martina Kobiela DER TRAUM VOM FLIEGEN ERFÜLLT SICH AUCH IM TESSIN ZVG Fast vier Stunden lang sind Alexander Polli, Brandon Chance und Carlos Pedro Briceño bei sommerlichen Temperaturen von Brione im Verzascatal auf den Poncione d’Alnasca gestiegen. Beim Gipfelkreuz sind die drei Freunde in Ganzkörperanzüge geschlüpft. Die Hosenbeine sind mit mehreren Lagen Nylongewebe verbunden. Auch die Ärmel sind mit dem Oberkörper verbunden. Spreizen sie Arme und Beine, sehen sie aus wie Flughörnchen. Der erste von ihnen, Chance, tritt an den Abgrund. Hunderte Meter fällt die Felswand vor ihm in die Tiefe. Er zählt auf drei, geht in die Knie und springt mit ausgestreckten Gliedmassen in die Leere. Er fällt fast senkrecht nach unten. Dutzende Meter lang. Bis ihm seine mit Luftkammern bestückten Nylon-Flügel Auftrieb verleihen und er beginnt, die Felswand entlang ins Tal zu gleiten. Seine Freunde, zuerst Briceño und dann Polli, sind nur wenige Sekunden nach ihm gesprungen. Sie fliegen mit über 200 Kilometern pro Stunde über Lärchenwälder hinweg. Wenige hundert Meter über dem Talboden ziehen sie ihre Reissleinen, die Fallschirme öffnen sich und sie landen auf dem Fussballfeld von Brione. Sie lachen, jauchzen und jubeln. Fast 7’000 Mal wurde das Video aus dem Jahr 2015 auf Youtube schon angeklickt. Die Anzahl der Basejumps mit Flügelanzügen, den sogenannten Wingsuits, nimmt im Tessin seit Jahren zu, wie der TZ von verschiedenen Seiten bestätigt wurde. Besonders beliebt bei den Extremsportlern sind das Verzascatal, die Riviera und das Misox. Eine Erklärung für die zunehmende Zahl an Basejumpern mit Flügelanzug im Tessin hat Patrick Kerber, der selbst schon etwa 2’000 Base-Sprünge gemacht hat und als einer der erfahrensten Wingsuit-Basejumper in der Schweiz gilt: “Da das Wingsuitspringen immer populärer wird, pilgern viele Springer auch ins Tessin, um dort neue Sprünge zu machen.” Für viele sei auch das Wetter in der Sonnenstube verantwortlich, meint Oliver Furrer: “Wenn das Wetter in Lauterbrunnen zu schlecht ist, bietet sich ein Ausflug ins Tessin an.” Damit sich eine Felswand für einen Basejump mit Wingsuit eignet, muss sie mindestens 150 Meter lang senkrecht verlaufen oder sogar überhängen. Vor wenigen Jahren, als die Flügelanzü- Patrick Kerber (oben) hat diverse Absprungstellen entdeckt: Hier im Misox bei Lostallo (grosses Bild) und bei Osogna in der Riviera (r.) ge weniger weit entwickelt waren, mussten es 250 Meter Vertikale sein. Heute sind vollkommen neue Sprünge möglich. Das macht das Tessin mit seinen steilen Abhängen und engen Tälern für Basejumper, die nach neuen Herausforderungen und neuen Startorten suchen, interessant. Zu ihnen gehört auch der 34-jährige Kerber aus Uerzlikon im Kanton Zürich, der bei einem Sprung von der Jungfrau 3200 Meter tief bis nach Lauterbrunnen einen Weltrekord aufstellte. Die Riviera hat es dem Entdecker neuer Sprünge besonders angetan: “Ich liebe diese Gegend um Biasca.” Über Osogna hat er einen neuen Absprungsort an der Cima di Basso (siehe kleines Foto rechts) unterhalb der Cima di Biasca auf knapp 2’000 m ü. M. entdeckt. “Aber auch bei Biasca und Lostallo (siehe grosses Foto) habe ich selber mehrere Absprungstellen gefunden.” Einen für dieses Wochenende geplanten Sprung mit Flügelanzug von einem neuen Startpunkt musste er absagen: “Der Wind wird zu stark sein. Er tut mir leid, aber das Risiko ist zu hoch.” Patrick Kerber betont, dass die Sprünge mit Flügelanzug in den Abgrund eine lange und akribische Vorbereitung voraussetzen. Stundenlang studiert er Karten, berechnet Flugwinkel und Gelände. Trotzdem bleibe auch bei perfekten Konditionen ein gewisses Restrisiko bestehen. Idee: Luftraum reservieren Zum Beispiel die Gefahr mit einem anderen Nutzer des Luftraums, wie einem Hubschrauber, zu kollidieren. Davide Pedrioli, kantonaler Delegierter für die zivile Luftfahrt betont, dass Basejump mit und ohne Flügelanzug in der Schweiz legal ist, und meint zu den bisherigen Erfahrungen im Tessin: “Bisher stellen Basejumper kein Problem für uns dar. Wir wissen, dass es sie hier gibt, aber sie sind praktisch unsichtbar.” Genau das ist es, was jedoch Igor Canepa, Leiter der Helikopterbasis von Swiss Helicopter stört: “Eine transparente Kommunikation wäre begrüssenswert.” So könnten Kollisionen vermieden werden. Pedrioli hat eine andere Idee: “Mittelfristig wäre es vorstellbar, den Luftraum bei den drei oder vier beliebtesten Absprungsorten für Basejumper zu reservieren.” Denn gerade bei hohen Sprüngen, wie vom Poncione d’Alnasca (2’301 m ü. M.), wäre es durchaus möglich, dass sich Hubschrauber und Basejumper in die Quere kommen. Oliver Furrer, Sportfotograf, Fallschirmspringer und Wingsuitflieger – sowohl aus dem Flugzeug springend als auch in der Basejump-Variante von festen Objekten – hält den Gipfel im Verzascatal für einen der bekanntesten Absprungsorte im Tessin: “Es ist ein sehr schöner Sprung, der viele Möglichkeiten und eine einmalige Aussicht bietet.” (s. Titelblatt). Doch sei der Poncione d’Alnasca, genau wie die meisten anderen Sprünge im Tessin, nicht geeignet, für Basejumper, die den schnellen Adrenalinkick suchen, findet Furrer: “Bei einer vierstündigen Aufstiegszeit steht das Naturerlebnis im Vordergrund.” Furrer versucht die Faszination des Basejumping mit Wingsuit in Worte zu fassen: “Nichts kann die Erfahrung, frei wie ein Vogel durch die Luft zu segeln, in den Schatten stellen.” Patrick Kerber erklärt es so: “Es geht nicht um Kick, vielmehr geht es um Freiheit. Und Freiheit ist für mich ein Moment voller Perfektion. Dafür nehme ich das Restrisiko in Kauf.” Besonders gefährlich im Tessin sind starke Winde und kleine Landeflächen mit Telefon- und Stromleitungen Basejumper: “Ich bin nicht lebensmüde!” Der Dorfkern von Brione (Verzasca) Basjumping gehört zu den gefährlichsten Sportarten weltweit, zwischen 1981 und 2012 sind laut www.wingsuitfly.com 200 Basejumper ums Leben gekommen, 50 von ihnen sprangen mit einem Flügelanzug, dem sogenannten Wingsuit. 71.5 Prozent der Todesfälle ereigneten sich beim Absprung von einer Klippe. Zu den Haupttodesursachen gehört die Kollision mit dem Boden, mit einer Felswand oder Bäumen. Doch Fallschirmspringer, Basejumper und Wingsuit-Flieger Olivier Furrer betont: “Ich bin nicht lebensmüde!” Der erfahrene Wingsuit-Basejumper Patrick Kerber hält fest, wie wichtig eine gute Vorbereitung für einen Sprung sei (siehe oben). Neben den üblichen Gefahren seien die Sprungregionen im Tessin starken Winden ausgesetzt. Gerade der Föhn werde manchmal unterschätzt. Ausserdem seien die Landeflächen in der italienischen Schweiz zum Teil eher kleiner und oftmals mit vielen Strom- und Telefonleitungen versehen. Bei fünf Prozent der tödlich endenden Basejumping-Unfälle ist die Todesursache ein Stromschlag. In Brione (Verzasca) ist es vor einigen Jahren gerade noch glimpflich ausgegangen. Wie die TZ weiss, hat dort ein Basejumper bei der Landung nach einem Sprung vom Poncione d’Alnasca (2’301 m ü. M.) vor mehreren Jahren einen Strom- mast umgerissen. Er überlebte den Unfall leicht verletzt und flüchtete mit einem Freund im Auto. Gemeindeschreiber Angelo Scalmazzi bestätigt den Vorfall: “Aus dem Dorfladen heraus haben Zeugen seinen Unfall beobachtet. Das Dorfzentrum hatte einige Stunden keinen Strom mehr.” Doch sei man davon ausgegangen, dass es sich um einen “normalen” Fallschirmspringer gehandelt habe. Tatsächlich ist man sich in Brione gar nicht darüber bewusst, dass die Fallschirmspringer, die auf dem Fussballplatz landen, eigentlich Wingsuit Basejumper sind, sagt Scalmazzi: “Im Dorf ist es bisher noch niemandem aufgefallen.” mk
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